Russische Luftangriffe auf die Ukraine: Charkiw unter Beschuss
Die ostukrainische Großstadt steht unter Dauerbeschuss. Die Menschen beginnen, Charkiw zu verlassen.
Die Angriffswelle hatte am 27. Dezember begonnen. An dem Tag feuerte Russland mehr als 100 Raketen aus Bombern ab, viele davon auf Charkiw. Moskau bezeichnete den Beschuss als „Vergeltungsmaßnahme“ für die Versenkung des russischen Kriegsschiffs „Nowotscherkassk“ am 26. Dezember in der besetzten Krim-Stadt Feodosija.
Die Schläge Russlands richten sich gegen zivile Objekte in der Ukraine. Allein am 29. Dezember feuerte das russische Militär innerhalb von nur drei Stunden 22 Raketen auf Charkiw ab, so der Leiter der Charkiwer Gebietsverwaltung. Dabei wurden 3 Menschen getötet und 13 verletzt. Bei dem Angriff handelte es sich um den größten Luftangriff seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022. Nie zuvor wurden an einem einzigen Tag so viele Raketen auf die Stadt geschossen.
Eine Rakete des Typs Ch-22, die als eine der stärksten nichtnuklearen Raketen gelten, schlug in einem Waldstück ein. Durch den so entstandenen Krater stürzten Bäume im Umkreis von 50 Metern um und beschädigten zwei Krankenhäuser – das regionale Onkologiezentrum und das Charkiwer Stadtkrankenhaus Nummer 28. In der gesamten Gegend gibt es keine einzige militärische Einrichtung. Andere Raketen schlugen in Charkiwer Unternehmen, Lagerhäuser und Stromnetze ein.
Drohnen im Stadtzentrum
„Die Angriffe auf die Stadt waren chaotisch und ziellos. Dabei sollten vor allem Zivilisten geschädigt werden“, erklärte der Polizeichef des Gebietes Charkiw, Wolodymyr Timoschko, gegenüber Reportern. Während der Angriffsserie waren am 30. Dezember auch zwei Iskander-Raketen in das einzige Fünf-Sterne-Hotel der Stadt, das Kharkiv Palace, eingeschlagen. Dort waren vor allem ausländische Journalisten und Vertreter internationaler Organisationen untergebracht. Bei dem Angriff auf das Hotel wurde ein Mitarbeiter eines Kamerateams des ZDF verletzt.
Russland dagegen sprach davon, dass im Kharkiv Palace bis zu 200 ausländische Söldner untergebracht gewesen seien. Moskau erklärte, zum Zeitpunkt des Angriffs habe dort auch ein Treffen ukrainischer Generäle stattgefunden, die den Beschuss der russischen Stadt Belgorod geplant hätten. Russland erklärte nicht, warum die Generäle im teuersten Hotel Charkiws und nicht etwa in ihrem Hauptquartier oder in einem Bunker tagten, obwohl sie sich in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze befanden.
Weitere Raketen vom Typ S-300 schlugen in einem Fabrikgebäude in einem Charkiwer Industriegebiet ein. Bei allen beschossenen Objekten handelte es sich um zivile Ziele.
Kurz darauf feuerte Russland 11 Kamikaze-Drohnen vom Typ Shahed auf Charkiw. Die ukrainische Flugabwehr konnte einige abfangen. Die anderen schlugen im historischen Stadtzentrum ein. Sie trafen ein altes Gebäude in der Sumska-Straße 43, wo sich das erste deutsche Konsulat in Charkiw befunden hatte, eine wissenschaftliche Einrichtung, wo die genaueste Uhr der Ukraine aufbewahrt wurde, sowie ein Café auf dem Freiheitsplatz.
Das russische Verteidigungsministerium erklärte dagegen: Es habe ein Lager mit Flugzeugraketen zerstört.
Durch die beiden Angriffe am Abend und in der Nacht wurden insgesamt 28 Menschen verletzt, darunter zwei Kinder. Nach abschließenden Erhebungen wurden bei den russischen Angriffen auf Charkiw zwischen dem 29. und 31. Dezember 88 Gebäude beschädigt, davon 74 Wohnhäuser.
Immer mehr Druck auf die Stadtbevölkerung
Der nächste starke russische Raketenangriff traf Charkiw am 2. Januar, morgens um halb acht. Drei ballistische Iskander-M-Raketen schlugen im Stadtzentrum in Wohnhäusern ein. Dabei gab es 62 Verletzte, eine Frau wurde getötet. In 33 Wohnhäusern einer Universität gingen Fensterscheiben zu Bruch und Feuer brachen aus. An der Unabhängigkeitsstraße kam es zu einer Gasexplosion, die so stark war, dass ein Stahlbetongebäude eines konstruktivistischen Architekturdenkmals in der Unabhängigkeitsallee 1 einstürzte.
Weitere S-300-Raketen auf Charkiw schlugen 2. Januar in einer Schule im Stadtteil Osnowa ein. Menschen kamen nicht ums Leben. Russland sprach wieder davon, Munitionsdepots und Stützpunkte ukrainischer Nationalisten getroffen zu haben. Doch Journalisten, die bereits wenige Minuten nach den Einschlägen vor Ort waren, widerlegten die russischen Angaben.
Insgesamt wurden in den vergangenen sechs Tagen in Charkiw bei den russischen Raketenangriffen vier Menschen getötet. Es gab 103 Verletzte, 121 Wohn- und Verwaltungsgebäude wurden beschädigt. Die russische Armee hat in diesen Tagen 34 Raketen und 11 Shahed-Drohnen auf die Stadt abgefeuert.
Darüber hinaus aber haben die russischen Angreifer vielleicht ihr wichtigstes Ziel erreicht: noch stärkeren psychologischen Druck auf die Zivilbevölkerung der Stadt auszuüben. Wegen des chaotischen Beschusses fühlt sich in Charkiw jetzt niemand mehr sicher. Schon jetzt ist zu beobachten, dass wieder mehr Menschen die Stadt verlassen.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin