Rückkehr eines „Nordafrikaners“: Du fremdes Deutschland
Unser Autor war zwei Jahre lang nicht in Deutschland. Bei seiner Rückkehr findet er ein anderes Land vor – und Heimat fühlt sich plötzlich fremd an.
Die letzten zwei Jahre habe ich überwiegend im Ausland verbracht. In Ägypten. Dort sind die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße gegangen, wollten Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie in ihrem Land. Es ging um einen menschlichen Traum. Darum, in Würde zu leben – im eigenen Land. Fünf Jahre später ist es nun ganz anders gekommen. Diese Menschen, die für ihren Traum große Risiken eingegangen waren, haben nun keine Perspektiven mehr. Einige sitzen im Gefängnis. Andere betrachten einzig Auswanderung oder Selbstmord als realistische Alternative. Und das ist kein Witz.
Ich bin erst seit Weihnachten wieder zu Hause. In Deutschland. Meine Heimat erkenne ich aber nicht wieder. Heimat, das ist für mich der Ort, den ich in keinem Moment gezwungen bin zu verlassen. Das ist mir während meines Aufenthalts in Kairo immer klarer geworden. In meiner Heimat Deutschland herrscht der Frieden. Und der gesellschaftliche Konsens, der jedermanns Rechte und Pflichten regelt. Hier in meiner Heimat bin ich einer von vielen und gleichzeitig niemand. Ich mische mich nur bei politischen Fragen ein, die mich wirklich interessieren. Alles andere ignoriere ich einfach. Ganz pragmatisch.
Deshalb habe ich mich lange zurückgehalten. Wollte mich in die Köln-Debatte gar nicht einmischen. Ich mag es nicht, wenn Diskussionen zu emotional geführt werden und dann auch noch stereotyp. Was soll ich dazu sagen? Die Integrationsdebatte erinnert mich an ein französisches Ehepaar, das sich jeden Morgen streitet, weil der eine dem anderen vorwirft, er hätte das Baguette nicht geholt. Dabei wäre die Lösung, zumindest theoretisch, sehr einfach: Das Paar soll zuerst das Problem genau definieren (nicht vorhandenes Baguette am Frühstückstisch) und versuchen, Lösungen zu finden (an einem Tag geht der eine, am nächsten Tag der andere zum Bäcker. Beispielsweise.)
Aber nicht einmischen geht nun nicht mehr. Zu tief greift die Debatte in meinen Alltag ein.
„Hey, du. Wo willst du hin?“
So zum Beispiel, als ich Anfang Januar für meine Freundin ein Rezept bei ihrem Hausarzt holen wollte. Ich war zum ersten Mal in dieser Praxis am Potsdamer Platz in Berlin. Ich hatte es sehr eilig und marschierte schnurstracks in das Gebäude, das mir meine Freundin beschrieben hatte, als ich eine Männerstimme rufen hörte: „Hey, du. Wo willst du hin?“ Ich konnte für einen Moment nicht glauben, dass ich gemeint war. Aber ich war gemeint. Schließlich stand ich allein im Flur. Ich drehte mich um und sah einen uniformierten Sicherheitstypen auf mich zukommen. „Ich heiße nicht du“, sagte ich ihm. „Und wenn überhaupt, dann Sie. Und ich suche hier meinen Arzt.“
Khalid El Kaoutit wurde 1975 in Tétouan, Marokko, geboren. Im Jahr 2001 kam er nach Deutschland. Als „Neudeutscher“ schreibt er regelmäßig für die taz.
Ich merkte, wie sich seine Gesichtszüge langsam entspannten. „Das ist im Nebenhaus“, sagte er mir mit einer etwas sanfteren Stimme, jedoch ohne sich zu entschuldigen. Ich eilte aus dem Haus. Wütend über die Art, wie der Mann mich angesprochen hat, ohne mir in dem Moment große Gedanken zu machen.
Dieses Ereignis ließ mich aber nicht los. Seit meiner Schulzeit hat kein Mensch so mit mir gesprochen. Bis zu diesem Zeitpunkt. Aber das war ja auch nur ein Vorfall unter vielen ähnlichen in den knapp drei Wochen seit meiner Rückkehr.
Nur ein Zufall? Oder könnte das damit zu tun haben, dass ich südländisch, ja: nordafrikanisch aussehe, was der Wachmann eventuell erkannt hatte? Möglich wäre es, wenn auch nicht zwingend. Und dennoch: Allein meine Interpretation zeigt, wie mich die aktuelle Debatte über „Ausländer“ infiziert hat.
Lediglich ein „Passdeutscher“
So hat erst vor Kurzem ein eingeborener deutscher Beamter meine eingeborene deutsche Freundin darüber belehren wollen, dass ich lediglich ein „Passdeutscher“ sei. Ein verfassungswidriger Begriff zwar, aber ob ich es will oder nicht, ich werde gerade rücknordafrikanisiert.
Es ist sehr viel passiert in Deutschland in den letzten zwei Jahren. Pegida ist Anfang 2015 entstanden und ist immer noch da. Viele Bildungsbürger und Intellektuelle waren von diesem Phänomen überrascht, haben aber versucht, es kleinzureden. Es sei nur eine Phase, hieß es. Letztes Jahr bin ich an einem Montagabend nach Dresden gefahren. Ich wollte wissen, was diese Bürger bewegt, was ihre Sorgen sind. Aber da war nur ein Flaggenmeer. Und Ablehnung aufgrund meines südländischen Aussehens.
Da war plötzlich ein Gefühl der Bedrohung. Denn vielen dieser Menschen war es keineswegs egal, dass es Menschen wie mich in Deutschland gibt. Sie denken, dass sie das Volk sind. Und dass ich nicht dazugehöre. Es war mir jedoch klar, dass sie nicht Deutschland vertreten. Dass sie keine Mehrheit sind. Schlimm genug, dass diese Leute scheinbar in Dresden den Ton angeben, dieser schönen, geschichtsträchtigen Stadt. Ich kann gut verstehen, dass die kanadischen Behörden eine Reisewarnung für manche Gebiete in Ostdeutschland herausgegeben haben. Auch wenn ich es schade finde.
Köln ist bis heute ein Social-Media-Phänomen. Wie selten beeinflusst es auch die Berichterstattung. Was aus den Medien wird, wenn Emotion Erkenntnis schlägt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23.1. Außerdem: Eine syrische Familie ist vor Lesbos ertrunken. Damit ihre Seelen Ruhe finden können, riskiert der Vizebürgermeister seinen Job. Und: Helfen Joghurts gegen Darmbeschwerden? Eine Sachkunde über das autonom arbeitende Bauchhirn. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Nun, ein Jahr später, klebt uns Pegida immer noch an der Backe. Und plötzlich sind Stereotype nicht nur auf Montagsdemos zu hören. Sie sind voll im Trend, und sie nehmen öfters rassistische Züge an. Der Geist von Pegida scheint angekommen in der Mitte Deutschlands.
Welches Niveau hat diese Debatte angenommen?
Ein paar Kriminelle greifen an Silvester Frauen in Köln an, und siehe da: Schon wird das als Zusammenhang zwischen Islam und sexueller Belästigung gedeutet. Einige sind sich sogar sicher, dass es einen gibt. Andere wollen Nordafrika so gut verstehen, dass sie uns weismachen wollen, sexuelle Belästigung sei dort so tief verwurzelt, dass die Einheimischen sie auch dann nicht überwinden könnten, wenn sie es wollten. Als würde ein Cocktail aus Notgeilheit, Menschenverachtung und kriminelle Energie an eine Religion glauben oder einen Pass besitzen. Auf welches Niveau haben wir uns in dieser Debatte begeben?
Dass es in Nordafrika, und wenn wir schon bei lapidaren Bezeichnungen sind, in ganz Arabien sexuelle Belästigung gibt, ist längst bekannt. Aber muss man deshalb rassistisch argumentieren? Peinlich.
Und manche Lösungen, die zurzeit in Deutschland vorgeschlagen werden, sind einfach nur einfallslos – um es diplomatisch auszudrücken. So will eine Gemeinde im Rheinland den Rosenmontagszug aus Angst vor grabschenden Nordafrikanern absagen. Andere verweigern den Flüchtlingen generell den Zutritt – etwa ins Schwimmbad. Das ist, als würde man Asche in das Auge eines Blinden werfen, damit dieser nichts sehen kann. Das ist ein marokkanisches Sprichwort und bedeutet übersetzt schlicht: eine sinnlose Maßnahme.
Ich habe in Köln studiert, als ich aus Marokko hier in Deutschland ankam. Der Karneval, die Kirmes, Volksfeste – das waren für mich die besten Gelegenheiten, die neue Gesellschaft zu beobachten. Kontakte zu knüpfen. Was werden die Jungs machen, wenn sie nur in ihren Heimen hocken? Sie werden sich womöglich gegenseitig die Schwänze zeigen, um festzustellen, wer den größeren hat. Aus lauter Langeweile. Und wenn sie alle ihre Schwänze gegenseitig kennen, werden sie sie vielleicht anderen zeigen wollen. Etwa den blonden Jungs, die nun auch ihre Schwänze zeigen wollen, indem sie zur Bürgerwehr gehen. Wenn es so weit kommt, dann sind wir am Ende des Gesprächs unter Erwachsenen.
Lasst uns Karneval feiern
So weit sollte es nicht kommen. Ich wünsche mir so sehr, dass die Offenheit in diesem Land nicht verloren geht. Lasst uns alle zusammen Karneval feiern. Und wer grabscht, der soll seine gerechte Strafe bekommen. Wir leben ja zum Glück in einem Rechtsstaat. Die Frauen in unserem Land sind stark und selbstbewusst genug, um sich selbst zu wehren gegen einzelne Idioten. Und wenn sie von mehreren bedroht werden, dann ist es die Aufgabe des Staats, sie und jeden anderen zu schützen. Dafür haben wir unseren Staat mit der Macht ausgestattet, in unserem Namen Gewalt auszuüben. So steht es im Grundgesetz – unserem Gesellschaftsvertrag, der uns Frieden und Wohlstand garantiert. Der Staat soll die Gewalt ausüben und nicht irgendwelche Jungs, die ihren Schwanz herzeigen wollen.
Einen Teil dieses Textes habe ich übrigens im Istanbuler Flughafen geschrieben, auf dem Weg von Berlin nach Beirut. Und da ist mir etwas eingefallen: Zumindest um die Türken ist es in der deutschen Heimat ruhiger geworden. Auf die „ostanatolischen“, „integrationsunwilligen Sozialschmarotzer“ zeigt keiner mehr mit dem Finger. Eine gute Leistung, liebes Deutschland, könnte man sagen. Auch wenn man nicht genau weiß, wer dafür verantwortlich ist.
Nun sind eben die Nordafrikaner dran. Aber Hauptsache, wir kommen ein Stück weiter.
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