piwik no script img

Regisseurin über Kleinbauern in Spanien„Es ist ein kollektiver Moment“

Die Regisseurin Carla Simón gewann mit „Alcarràs“ den Goldenen Bären. Ein Gespräch über Obstanbau und junge spanische Filmemacherinnen.

Der Solarpark kommt, dafür muss in „Alcarràs“ das Autowrack weichen, in dem früher Kinder spielten Foto: Piffl Medien
Thomas Abeltshauser
Interview von Thomas Abeltshauser

Alcarràs ist ein Städtchen in einer von Obstanbau geprägten Region Kataloniens, deren Kleinbauern von ihrer harten Arbeit immer schlechter leben können. Wie die Familie Solé, die im Mittelpunkt des nach dem Ort benannten Spielfilms von Carla Simón steht. Seit Jahrzehnten bauen die Solés dort Pfirsiche an, die gepachtete Plantage ist Existenzgrundlage dreier Generationen und soll nun einem Solarpark weichen.

Simóns autobiografisch inspiriertes Drama ist das genau beobachtete Porträt einer Großfamilie und ihres landwirtschaftlichen Lebens, dessen Existenz bedroht ist. Auf der 72. Berlinale wurde die 35-jährige Spanierin im Februar für „Alcarràs“ mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet. Am kommenden Donnerstag startet er im Kino.

taz am wochenende: Frau Simón, Ihr Film erzählt eine Familiengeschichte und zugleich vom Strukturwandel auf dem Land. Wo liegt der Ursprung von „Alcarràs“?

Carla Simón: Zunächst war es der Wunsch, diese Menschen und die Region zu porträtieren. Meine Verwandten sind selbst Pfirsichbauern in Alcarràs und auch wenn ich dort nicht aufgewachsen bin, habe ich über all die Jahre jede Ferien dort verbracht. Ich selbst stamme aus einem Bergdorf, die Gegend um Alcarràs ist dagegen sehr flach, der Himmel ist unendlich weit und die Natur von Menschen kultiviert. Diese Landschaft faszinierte mich, aber ebenso wichtig war mir, den Arbeitsalltag auf der Obstplantage einzufangen und diesen besonderen Schlag von Menschen, die dort Pfirsiche anbauen. Der Pfirsich ist eine Frucht, die schnell am Baum verfault, wenn man sie nicht im richtigen Moment erntet. Pfirsichbauern sind bodenständig, kräftig und stur und zugleich sehr nervös, das hat mich schon als Kind beeindruckt.

Im Interview: Carla Simón

ist Drehbuchautorin und Regisseurin. Sie wurde 1986 in Barcelona geboren, wuchs in einem katalanischen Dorf auf. Ihr Film „Fridas Sommer“ erhielt 2017 bei der Berlinale den Preis als bestes Erstlingswerk

Damals war die Plantage noch in der Hand Ihres Großvaters …

Und als er vor einigen Jahren starb, fragte ich mich zum ersten Mal, was passiert, wenn die Bäume, die er vor Jahrzehnten gepflanzt hatte, eines Tages verschwinden würden. Bei uns haben zum Glück mein Onkel und meine Tante den Betrieb übernommen, aber es ist oft sehr schwierig, eine Nachfolge zu finden, weil der Obstanbau immer weniger lukrativ ist und oft kaum zum Überleben reicht. Dabei ist Landwirtschaft im Familienbetrieb eine Arbeit, die viele Generationen lang funktioniert hat. Ich wollte auch zeigen, dass hier Menschen harter und nachhaltiger Arbeit nachgehen und dafür weder wertgeschätzt noch adäquat bezahlt werden.

Wie haben Sie dann die Geschichte entwickelt, ist sie nah an Ihrer eigenen Familie?

Zunächst wollte ich sie durch die Figur des Vaters erzählen, Quimet, aber ich bin kein 45 Jahre alter Bauer und konnte mich beim Schreiben nur schwer in ihn hineinversetzen. Also entschied ich, einen Ensemblefilm über eine große Familie und die Beziehungen untereinander zu machen. Tatsächlich fiel es mir leichter, diese drei Generationen als emotionales Ganzes zu verstehen, als nur das Innenleben des Vaters zu betrachten. Ich sehe mich selbst vor allem in der Figur von Mariona, der 12-jährigen Tochter, die ihre Familie ganz genau beobachtet und ihre eigenen Schlüsse daraus zieht, weil ich das in dem Alter genauso getan habe.

Wie bereits bei Ihrem Debüt arbeiten Sie mit Laiendarsteller*innen. Wie funktioniert das konkret?

Das Drehbuch war fertig, bevor ich mich auf die Suche nach Personen machte, die diesen Figuren entsprechen. Nicht physisch, sondern in ihrer Persönlichkeit. Ich wollte Menschen finden, die möglichst nah an den jeweiligen Figuren sind, damit sie aus sich und ihren Erfahrungen schöpfen können. Wir sind auf unzählige Dorffeste, haben Leute beobachtet und befragt. Nach etwa 9.000 Gesprächen hatten wir unsere Besetzung, aber alle stammten aus unterschiedlichen Familien, oft sogar aus verschiedenen Dörfern, und kannten sich zuvor nicht. Also mietete ich ein Haus in der Gegend, und dort trafen wir uns drei Monate lang jeden Nachmittag. Durch kleine Improvisationen bauten wir nach und nach die Beziehungen der Figuren untereinander auf und entwickelten die gemeinsame Vergangenheit. So wuchsen sie Schritt für Schritt tatsächlich zu einer Art Familie zusammen.

Besonders bemerkenswert sind die Szenen mit Kindern, weil sie so ungestellt und natürlich wirken. Wie erreichen Sie diese Intimität?

Mit Kindern ist es sogar einfacher, weil sie die Kamera schnell vergessen und ihnen auch gar nicht bewusst ist, wie wichtig die Arbeit ist. Für sie ist es ein Spiel. Und mein Job ist es, darauf zu achten, dass es in einem gewissen Rahmen abläuft, den Widerspruch zwischen Kontrolle und Chaos auszuhalten. Wir folgen dem Drehbuch, aber ich lasse ihnen auch Raum, damit spontan Dinge entstehen oder Zufälle passieren können. Kinder haben ihre eigenen Worte und Gesten, nur wenn ich die Balance finde zwischen Anweisungen und Laufenlassen, kann eine Szene lebendig werden.

Zugleich halten Sie fast dokumentarisch die Erntezeit fest.

Wir haben acht Wochen im Sommer gedreht. Anfangs wollte ich den Wechsel der vier Jahreszeiten, aber zusammen mit dem Porträt der Großfamilie wäre daraus leicht ein Fünfstundenfilm oder eine Serie geworden. Beides wollte ich nicht. Also konzentrierte ich mich auf die Erntezeit, weil es der stressigste Teil des Jahres im Leben der Bauern ist. Erst muss die Ernte eingebracht werden, alles andere ordnet sich dem unter, selbst der drohende Existenzverlust.

Der Film

„Alcarràs – Die letzte Ernte“. Regie: Carla Simón. Mit Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin u. a. Spanien/Italien 2022, 120 Min. Ab 11. August im Kino

Wie „Fridas Sommer“ wurzelt der Film in persönlichen Erfahrungen, ohne im engeren Sinn autobiografisch zu sein. Was interessiert Sie an diesem Ansatz?

Man verbringt so viel Lebenszeit mit einem Film, dass ich sie nutzen will, um auch als Mensch zu wachsen und mich weiterzuentwickeln. Und grundsätzlich fühle ich mich wohler, wenn ich von Dingen erzähle, die ich kenne oder die ich aus nächster Nähe kennenlernen kann. Das heißt nicht, dass ich nie einen Film über etwas völlig anderes machen werde, aber es muss etwas sein, dass mir auch ganz persönlich etwas bedeutet.

Damit haben Sie im Februar den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Wie haben Sie diesen Moment wahrgenommen?

Es war sehr besonders, weil ich an dem Abend genau an der Stelle saß wie fünf Jahre zuvor, als mein erster Film, „Fridas Sommer“, als bester Debütfilm gewann. Bei der Verleihung damals war es gleich der erste Preis, der vergeben wurde, nun waren wir erst ganz am Schluss dran. Als ein Bär nach dem anderen verliehen wurde, wurde ich immer nervöser und war gar nicht mehr sicher, ob wir überhaupt etwas bekommen. Und dann der Goldene Bär!

Wie waren die Reaktionen in Ihrer Heimat?

In Alcarràs hatten die Bewohner eine große Leinwand aufgebaut, um die Preisverleihung zu sehen, und feierten, als ob wir die Fußballmeister geworden wären. Und ein bisschen war es auch so, es war ein sehr glücklicher Moment nicht nur für uns, sondern für eine neue Generation im spanischen Kino allgemein. Viele junge Fil­me­ma­che­r*in­nen entwickeln gerade spannende neue Ansätze und werden dafür auf Filmfestivals weltweit gefeiert, und ich bin sehr stolz, Teil davon zu sein.

Vor allem junge Regisseurinnen sorgen gerade mit sehr persönlichen und regional verorteten Filmen für Aufmerksamkeit. Ist das Zufall oder verändert sich etwas in der spanischen Filmbranche?

Wer anfängt Spielfilme zu drehen, erzählt oft über die eigene Herkunft, das trifft auf viele Filmemacher zu, egal welchen Geschlechts. Es redet sich leichter über etwas, das einem nahesteht. Aber wir werden wachsen und uns weiterentwickeln, unsere Stimmen und Themen finden. Wir sind eine neue Generation von Leuten, die im Ausland studiert und Stipendien bekommen haben, international gut vernetzt sind und so von Festivals auch eher wahrgenommen werden. Das traf früher nur auf Almodóvar und eine Handvoll andere Männer zu. Wenn jetzt eine von uns erfolgreich ist, hilft es auch den anderen, wahrgenommen zu werden. Es ist ein kollektiver Moment.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!