Regierungskrise in Österreich: Österreichischer Scherbenhaufen
Konservative und Sozialdemokraten können sich nicht auf eine Koalition einigen. ÖVP-Chef Nehammer tritt daraufhin zurück. FPÖ vor Regierungsbildung.
Turbulente Tage in Wien: Als am Freitag bekannt wurde, dass die liberalen Neos die Koalitionsgespräche verlassen, wollten ÖVP und SPÖ zunächst weiterverhandeln. Immerhin hätten Konservative und Sozialdemokraten auch ohne Neos eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit. Samstagabend platzte dann aber die Bombe: Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer kündigte seinen Rücktritt aus beiden Funktionen an. „In wesentlichen Punkten ist mit der SPÖ keine Einigung möglich“, erklärte Nehammer in einem Video. „Ich werde mich als Bundeskanzler und auch als Parteiobmann der Volkspartei zurückziehen und einen geordneten Übergang ermöglichen.“
Seitdem schieben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld zu. Die jeweils andere Partei habe sich zu wenig kompromissbereit gezeigt. Nehammer selbst ließ die Hintergründe unausgesprochen und stellte sich keinen Fragen. Spekuliert wurde, dass er von der eigenen Partei abgesägt wurde. So oder so: Mit seinem Rücktritt hinterlässt Nehammer einen Scherbenhaufen, nicht nur in seiner Partei. Denn seitdem versinkt Österreich im politischen Chaos. Ein neuer Übergangskanzler steht noch nicht fest.
Noch am Wochenende sah sich die ÖVP eilig nach einem neuen Parteichef um. Dieser wird nun als Interimslösung der eher farblose Christian Stocker, Generalsekretär der Partei. Bisher hatte er sich gegen eine Regierung mit der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei (FPÖ) ausgesprochen. Er wolle nun „eine Einladung der FPÖ annehmen“, sagte Stocker am Sonntag. Das wahrscheinlichste Szenario ist jetzt tatsächlich eine Regierung unter FPÖ-Führung. Nach den gescheiterten Verhandlungen ist schon rechnerisch keine Variante ohne die Freiheitlichen möglich, die bei den Parlamentswahlen im September mit rund 29 Prozent stärkste Kraft wurden.
Wie es nun weitergeht, liegt auch an Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Für Montagvormittag lud er FPÖ-Chef Herbert Kickl in die Wiener Hofburg ein. Wahrscheinlich ist, dass Kickl einen Auftrag zur Regierungsbildung erhalten wird. Der Bundespräsident betonte vorab sicherheitshalber, dass die neue Regierung demokratische Grundpfeiler wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte, freie und unabhängige Medien sowie die EU-Mitgliedschaft respektieren müsse.
Noch im Herbst hatte Van der Bellen Kickl übergangen und keinen Regierungsauftrag an die bei der Wahl erstplatzierte Partei vergeben – mit der Begründung, er sei in intensiven Gesprächen mit SPÖ und ÖVP zum Schluss gekommen sei, dass beide Parteien auch nach der geschlagenen Wahl eine Zusammenarbeit mit Kickl ablehnen. Dabei blieb es, durchaus zur Überraschung mancher Beobachter, auch bei der ÖVP unter Karl Nehammer.
Expertenregierung brächte keine Lösung
Nehammer ist nun weg, seine Verhandlungen sind gescheitert. Mangels Alternativen hat Van der Bellen also kaum eine andere Wahl, als einen Regierungsbildungsauftrag an Kickl zu vergeben. Eine Expertenregierung brächte keine Lösung des politischen Patts, ebenso wenig wie eine Neuwahl im Lauf des Frühlings. Angesichts drängender Probleme wie der Rekordverschuldung, derentwegen Österreich auch ein EU-Defizitverfahren droht, wäre dies auch kaum vermittelbar.
Inhaltlich trennt ÖVP und FPÖ in vielen Bereichen ohnehin nicht viel – und in Zukunft wohl noch weniger, da Nehammer weg ist, der eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Herbert Kickl ausgeschlossen hatte. Hinter den Kulissen machen einige Schwergewichte der ÖVP schon lange Druck. Noch am Sonntag forderte der Tiroler Landeshauptmann, Anton Mattle von der ÖVP, eine „rasche Handlungsfähigkeit der Bundespolitik“. Das lässt sich kaum anders denn als Aufforderung zu einer FPÖ-Koalition lesen.
Dass mit der FPÖ eine dezidiert antieuropäische und russlandfreundliche Partei an die Macht käme, ist bisher noch nicht so richtig durchgedrungen. Mehrmals hatte Kickl angekündigt, die Politik des illiberalen ungarischen Premiers Viktor Orbán kopieren zu wollen. Als Damoklesschwert über den Dreiergesprächen hing daher von Anfang an eine Regierung mit der FPÖ. Klar ist mittlerweile: Wenn nicht einmal ÖVP und SPÖ zusammenfinden, hätte eine Dreierkoalition zusammen mit den liberalen Neos schon gar nicht funktioniert.
Rasch hatten sich am Samstag auch Gerüchte einer neuerlichen Übernahme der ÖVP durch deren einstige Lichtgestalt, Ex-Kanzler Sebastian Kurz, verbreitet. In einem solchen Szenario hätte Kurz wohl auf Neuwahlen gedrängt. Die Gerüchte waren aber so schnell wieder vom Tisch, wie sie aufgekommen waren. Dass ausgerechnet er manchen als Wunsch-Nachfolger Nehammers galt, sagt einiges über die Verfasstheit der ÖVP. Kurz war es, der mit zahlreichen Skandalen, autoritären Anwandlungen und wenig Achtung vor demokratischen Institutionen Partei und Republik beschädigt hat.
Jetzt könnte Österreich blau-schwarz werden. Vor einem Kanzler Kickl stehen nur mehr eine Einigung mit der ÖVP und die Zustimmung des Bundespräsidenten. Doch auch die FPÖ muss mitgehen. Sie dürfte überlegt haben, es auf Neuwahlen ankommen zu lassen: In Umfragen stehen die Freiheitlichen derzeit bei 35 Prozent und mehr. Ein solches Ergebnis brächte ihnen noch mehr Verhandlungsmacht. Angesichts der Ungeduld in der Bevölkerung und mit dem Kanzleramt vor Augen braucht Kickl das eigentlich nicht mehr.
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