Reformkosmetik in Iran: Sittenpolizei weg, „Sitten“ bleiben
Irans Justiz erklärt, die islamische „Sittenpolizei“ sei nicht mehr für Sittenverstöße zuständig. Ihre Brutalität hatte die Massenproteste ausgelöst.
„Die Sittenpolizei hat mit der Justiz nichts zu tun“, wurde Montazeri von der staatlichen Nachrichtenagentur ISNA zitiert. Die Justiz würde Verstöße gegen die Sittengesetze weiterhin verfolgen und bestrafen.
Wie das im Detail geschehen soll, bleibt vorerst offen. Das iranische Parlament und die Justiz der Islamischen Republik sollen nach Angaben des Generalstaatsanwalts den gesetzlichen Kopftuchzwang demnächst überprüfen.
Die Nachricht schlägt Wellen, denn die iranische Sittenpolizei (Gascht-e Erschad) war bisher das in der Bevölkerung am meisten gefürchtete Instrument der Regierung, um die strengen islamischen Sittengesetze durchzusetzen.
In grünen Vans patrouillierten ihre Einheiten belebte Straßen und Orte und nahmen Menschen fest, deren Kleidung, Aussehen oder Verhalten angeblich gegen die islamischen Vorschriften verstießen – vor allem Frauen. Es drohten Geld- und Haftstrafen, aber auch Misshandlungen.
Zwei Monate Aufstand, über 400 Tote
So geschah es im Fall der iranischen Kurdin Dschina Mahsa Amini, die Anfang September auf Besuch in Teheran war und die nach Ansicht der Sittenpolizeibeamten zu viele Haarsträhnen unter dem Kopftuch hervorschauen ließ. Dschina Mahsa Amini wurde in Gewahrsam der Sittenpolizei mutmaßlich getötet, was landesweite Proteste und Streiks auslöste.
Die Aufstände, die mittlerweile einen demokratischen säkularen Systemwechsel für das Land fordern, gehen auch nach zwei Monaten ungebrochen weiter – trotz eines brutalen Durchgreifens des iranischen Sicherheitsapparats. Bislang sollen nach Schätzung von Menschenrechtsorganisationen rund 470 Demonstrierende getötet worden sein.
Für Montag, Dienstag und Mittwoch sind wieder landesweite Kundgebungen und Streiks angekündigt, was mit ein Grund dafür sein dürfte, weshalb die Ankündigung zur Abschaffung der Sittenpolizei ausgerechnet jetzt kommt.
De facto ist die Sittenpolizei schon seit Beginn der Proteste vom Straßenbild verschwunden. Stattdessen sieht man im Iran immer mehr Frauen, die als Zeichen des Protests ohne Kopftuch auf die Straße gehen, vor allem in den Städten.
Kommen stattdessen die Revolutionsgarden?
Viele Iranerinnen und Iraner sehen die Abschaffung der Sittenpolizei als wichtigen Etappensieg ihrer Protestbewegung. Doch die Freude bleibt verhalten. Denn ob die Maßnahme eine konkrete Besserung bedeutet oder nur als Ablenkungsmanöver dienen soll, bleibt vorerst unklar.
Noch Ende Oktober verkündete Ali Khan-Mohammadi, der Sprecher des staatlichen „Amtes für das Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen“, dass die Durchsetzung der Sittengesetze noch weiter verschärft werden solle. Künftig sollten dafür auch die Basidschi, die Freiwilligen-Miliz der Revolutionsgarden, eingesetzt werden.
Berüchtigt sind die Basidschi vor allem dafür, dem Regime mit äußerster Gewalt bei der Unterdrückung der Proteste zur Seite zu stehen.
Die Abschaffung der Sittenpolizei könnte also beides sein: eine konkrete Lockerung oder ein Schritt hin zu einer anderen, möglicherweise noch repressiveren Form der Durchsetzung der islamischen Vorschriften.
Stimmen aus der Protestbewegung scheinen sich bei einem Punkt jedenfalls einig zu sein: Die Auflösung der Sittenpolizei ist ein deutliches Zeichen der zunehmenden Schwäche des Regimes.
Erst letzte Woche zeigten geleakte interne Dokumente, dass das Regime immer größere Schwierigkeiten hat, Basidschi und Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden zu mobilisieren. Die Motivation sei oft schwach, und die Angst, im Einsatz verletzt oder gar getötet zu werden, groß. Dutzende sollen durch die massive Gegenwehr der Demonstrierenden bereits ums Leben gekommen sein.
Selbst wenn die islamischen Sittengesetze und ihre Durchsetzung dauerhaft gelockert werden sollte, dürfte das die Protestierenden kaum befriedigen. Denn von ihren eigentlichen Forderungen – einem säkularen und demokratischen Systemwandel – ist Iran noch weit entfernt.
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