Reflexion über den Ukrainekrieg: Raus aus der Einbahnstraße
Kriege fordern schnelles Handeln und lassen wenig Raum zum Nachdenken. Dennoch braucht es ein Reflektieren, wie es zum Ukrainekrieg kommen konnte.
D as historische Denken ist fast unweigerlich von Zweifel geprägt, weil im Rückblick klar wird, wo Geschichte anders hätte verlaufen können. Historiker*innen sind dabei keine besseren Menschen, sie sind genauso anfällig für Heuchelei, Opportunismus, Ideologie wie andere Menschen auch. Aber ich glaube, es hilft schon, wenn man die Gegenwart quasi von der Unterseite betrachten lernt, vom Boden aus, und sieht, wie sich die Dinge entwickelt haben; und wo sie sich anders hätten entwickeln können.
Man kann das Ambiguitäts-Toleranz nennen oder einfach die Fähigkeit, verschiedene Standpunkte gleichzeitig zu sehen – idealerweise wäre etwa ein medialer Diskurs so geprägt, von Widersprüchen, denn die Wirklichkeit ist meistens dialektisch und selten eine Einbahnstraße. Die Demokratie lebt von dieser Pluralität der Perspektiven, und es ist eine Ironie der vergangenen Jahre, dass die Diskurspanik, also die Dauerrede von der Gefahr von „Cancel Culture“ und „Wokeness“, eher dazu beigetragen hat, dass sich Menschen an ihre Standpunkte klammern wie an einen Rettungsring.
Es heißt dann immer, die Zeiten seien so unübersichtlich geworden und so komplex. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es ist nicht falsch. Aber das heißt ja noch nicht, dass es richtig ist. Das zum Beispiel wäre so eine dialektische Bewegung, wie sie Denken voranbringen könnte, das an etwas Neuem interessiert ist, an einer Verbindung von Wahrheiten oder Wahrnehmungen, die bislang lose im Raum drifteten.
Ein Krieg ist keine besonders gute Zeit für Ambiguität, und das hat auch gute Gründe. Im Krieg wollen die Menschen Antworten, sie wollen Klarheit – und in diesem Krieg ist einiges sehr klar: Wer der Aggressor ist etwa, wer Städte bombardiert, wer Zivilisten tötet, wer Zerstörung walten lässt und wer sich über das Völkerrecht erhebt.
Die Fragen, in diesem Moment, sind erst einmal sehr viel dringendere, von Humanität und Not, von Hilfe und Protest, von Widerstand und Mut, von Verzicht und Hoffnung, von Mitleid, Tod und Trauer, von Schuld und Opfern. Das heißt aber nicht, dass andere Fragen nicht gleichzeitig präsent sind, gleichzeitig gedacht werden können.
Die Gleichzeitigkeit zuzulassen oder zu ermöglichen, das ist, glaube ich, historisches Denken in der politischen Praxis. Man sollte das mit Demut tun und mit Vorsicht, mit Bedacht und nicht mit einer Geste des intellektuellen Triumphs.
ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.
Man sollte aber auch offen sein für die Widersprüche von Entwicklungen, und nicht alle Widersprüche müssen kausal zu der gegenwärtigen Situation hinführen – manchmal reichen Widersprüche schon aus, um alternative Wege erkennen zu lassen, um aus der Vergangenheit wenigstens für den Zeitpunkt zu lernen, der jenseits des Schreckens liegt, denn hier, in diesem Moment, ist Handeln oft erst einmal wichtiger als Denken.
Es ist aber doch hilfreich, um diesen Krieg zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges noch einmal anschaut: wenn man versucht zu verstehen, wie extrem wirkmächtig tatsächlich die Formel vom „Ende der Geschichte“ war, wie sie Francis Fukuyama für eine ganze Generation formulierte, was eher zu einem Ende des Nachdenkens führte und eben zu engen Gleisen, auf denen sich das Politische fortbewegte. Ein gewisser Automatismus schien die Gegenwart erfasst zu haben, wie trügerisch er war, zeigt sich nicht erst jetzt.
Denn die Fehler, deren Folgen wir heute auch sehen, begannen damals, und es nimmt nichts von der Schuld Wladimir Putins, sich noch mal zum Nato-Gipfel von Bukarest im Jahr 2008 zurückzuversetzen, als der Ukraine und Georgien eine Mitgliedschaft in diesem Verteidigungsbündnis in Aussicht gestellt wurde, das eigentlich seinen Daseinszweck überlebt hatte, jedenfalls dann, wenn das Ende der Geschichte real gewesen wäre.
Man kann auch das Ambiguitäts-Toleranz nennen, ein Militärbündnis zur Sicherung des eigenen Sieges zu schmieden – so oder so hilft es, sich in diesen historischen Moment zu versetzen, um die möglichen Alternativen zu sehen.
Und hier, in diesem Wort, glaube ich, konzentriert sich der Zeitgeist von damals – denn es war ja gerade die Alternativlosigkeit, die in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs so oft beschworen wurde, ein Denken also geprägt von Scheuklappen, eine Einübung in intellektueller Unmündigkeit.
Es war etwas antiaufklärerisches in dieser Geste, die oft verbunden war mit der vermeintlichen Notwendigkeit oder Naturgesetzlichkeit von wirtschaftlichen Gegebenheiten, etwa in der Wirtschafts- und Finanzkrise, die in ebenjenem Jahr 2008 ihre volle Wirkung zu entfalten begann.
Dieses Denken in Alternativlosigkeiten hatte dann auch politische Folgen, für das Handeln der politischen Akteure genauso wie für die Wahrnehmung durch die Bürger*innen, weil es intellektuell deprimierend und seltsam bevormundend wirken musste.
Manches davon findet sich auch in den Krisenmomenten der Ukraine schon 2013 und 2014, als aus diesem Denken quasi Policy-Vorgaben geworden waren, also Handreichungen für konkretes Handeln. Damals wurde von einigen Medien herausgearbeitet, welche Fehler gemacht wurden, zwischen der EU, Russland und der Ukraine – aber im Westen jedenfalls hat man, auf verschiedenste Art und Weise, aus diesen Fehlern kaum gelernt.
Und so sehen wir nun das Schauspiel all derer, die, wohl vollkommen ehrlich, zugeben, dass sie vollkommen überrascht waren von dem, was sich gerade ereignet. Dass sie nie damit gerechnet hätten. Es ist auch eine erschreckende Art von Eliteversagen, das wir gerade beobachten. Viele Leute haben ihren Job nicht gemacht. Manchmal wird das nun als „Naivität“ bezeichnet, als Schutzbehauptung. Ich glaube, es ist eher so, dass viele nicht hinsehen wollten und lernen, aus den Fehlern der Vergangenheit.
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