Rechtsextremismus und Hufeisen: Gegen den rechten Konsens
Bald jährt sich der rechtsextreme Anschlag von Hanau. In Berlin wird eine 17-Jährige rassistisch angegriffen. Doch kollektiv wird weiter weggeschaut.
D er rechtsextreme Anschlag in Hanau jährt sich bald zum zweiten Mal. Und noch immer sind viele Fragen offen, was etwa die Rolle der Sicherheitsbehörden betrifft. „Hätten die Morde verhindert werden können?“, eröffnete Serpil Unvar, Mutter des in Hanau ermordeten Ferhat Unvar, kürzlich vor dem Untersuchungsausschuss ihre Reihe von Fragen. „Wird wirklich etwas getan werden, um solche Angriffe in der Zukunft zu verhindern? Wird es eine vollständige Aufklärung geben?“, hakte sie weiter nach.
Es war Unvars 23-jähriger Sohn, über dessen möglicherweise zu jenem Zeitpunkt noch lebendigen Körper ein Polizeibeamter hinwegstieg, wie Kameraaufzeichnungen belegen, anstatt bei Ankunft am Tatort den Zustand des Schwerverletzten und seine Vitalfunktionen zu prüfen. Wer das Video einmal gesehen hat, kann es nur schwer wieder vergessen. Wie gleichgültig und stumpf der Beamte dem Niedergeschossenen begegnet, hinüberstampft wie über einen gefällten Baumstamm.
Ein anderes Bild der Teilnahmslosigkeit wurde diese Woche beschrieben von Dilan Sözeri. Die 17-Jährige wurde an einem Berliner Bahnhof von mehreren Rechtsextremen zusammengeschlagen. Sie entkam ihnen mit diversen Verletzungen. Medien berichteten, die Schülerin sei angegriffen worden, weil sie keine Maske getragen habe. Noch aus dem Krankenhausbett nahm Sözeri ein Video auf, um richtigzustellen, dass sie sehr wohl eine Maske trug und dass sie rassistisch beschimpft wurde von den Tätern. Außerdem erzählte sie: „Der Bahnhof war voll. Ich habe um Hilfe gebettelt. Niemand hat mir geholfen.“
Diese beiden Bilder sind nicht willkürlich aneinandergereiht. Sie gehören zusammen, und sie erzählen von einer Gesellschaft, in der rassistische und rechtsextreme Angriffe stillschweigend beobachtet und hingenommen werden. „Für die angegriffene Person“, schreibt Autor_in Sasha Salzmann in dem Essay „Sichtbar“, „kommt das unmittelbare Übel von den Angreifern, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut.“ Zu dieser wegsehenden Gruppe aber gehören nicht nur die Passant_innen von jenem Bahnhof in Prenzlauer Berg und dieser eine gewissenlose Polizist in Hanau.
Antifaschismus als Gefahr?
Dazu gehören auch all jene scheinbar Unbeteiligte, die das Märchen der sogenannten Hufeisentheorie vertreten, welches lediglich dazu dient, rechte Gewalt zu relativieren, indem mühsam eine Gefahr von links inszeniert wird. Es wird kollektiv weggeschaut, jedes Mal, wenn mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung gedeutet wird, auf eine Leerstelle, während sich hintenrum ganze Netzwerke innerhalb von Polizei und Bundeswehr organisieren, während Menschen auf offener Straße, am Bahnsteig, in Shishabars, in Synagogen angegriffen werden. Während Teile der Presse auf aggressivste Weise gegen eine Bundesinnenministerin mobilisieren, wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zu Antifaschist_innen.
Antifaschismus sollte 77 Jahre nach der Befreiung vom politischen System des Faschismus Grundkonsens sein hier. Stattdessen aber wird er zur Gefahr erklärt? Die ideologische Befreiung ist demnach immer noch nicht vollzogen, und solange Taten wie die in Hanau möglich sind und nicht aufgeklärt werden, solange sie zu Einzelfällen reduziert werden, solange kein Mensch am Bahnhof sich nach einer 17-Jährigen umdreht, die von mehreren Erwachsenen brutal zusammengeprügelt und rassistisch beschimpft wird, kann davon auch nicht die Rede sein.
Es wird Zeit, dem rechten Konsens etwas entgegenzusetzen. Denn er steht da, unerschütterlich in der sogenannten Mitte, und er bröckelt nicht einmal. Vielleicht wagt es ja die Bundesinnenministerin, sich ohne wegzuducken offen zum Antifaschismus zu bekennen. Es könnte ein Anfang sein.
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