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Rechtsextremismus und HufeisenGegen den rechten Konsens

Bald jährt sich der rechtsextreme Anschlag von Hanau. In Berlin wird eine 17-Jährige rassistisch angegriffen. Doch kollektiv wird weiter weggeschaut.

Plakate zeigen die beim rassistischen Anschlag in Hanau 2020 getöteten Menschen Foto: rheinmainfoto/imago-images

D er rechtsextreme Anschlag in Hanau jährt sich bald zum zweiten Mal. Und noch immer sind viele Fragen offen, was etwa die Rolle der Sicherheitsbehörden betrifft. „Hätten die Morde verhindert werden können?“, eröffnete Serpil Unvar, Mutter des in Hanau ermordeten Ferhat Unvar, kürzlich vor dem Untersuchungsausschuss ihre Reihe von Fragen. „Wird wirklich etwas getan werden, um solche Angriffe in der Zukunft zu verhindern? Wird es eine vollständige Aufklärung geben?“, hakte sie weiter nach.

Es war Unvars 23-jähriger Sohn, über dessen möglicherweise zu jenem Zeitpunkt noch lebendigen Körper ein Polizeibeamter hinwegstieg, wie Kameraaufzeichnungen belegen, anstatt bei Ankunft am Tatort den Zustand des Schwerverletzten und seine Vitalfunktionen zu prüfen. Wer das Video einmal gesehen hat, kann es nur schwer wieder vergessen. Wie gleichgültig und stumpf der Beamte dem Niedergeschossenen begegnet, hinüberstampft wie über einen gefällten Baumstamm.

Ein anderes Bild der Teilnahmslosigkeit wurde diese Woche beschrieben von Dilan Sözeri. Die 17-Jährige wurde an einem Berliner Bahnhof von mehreren Rechtsextremen zusammengeschlagen. Sie entkam ihnen mit diversen Verletzungen. Medien berichteten, die Schülerin sei angegriffen worden, weil sie keine Maske getragen habe. Noch aus dem Krankenhausbett nahm Sözeri ein Video auf, um richtigzustellen, dass sie sehr wohl eine Maske trug und dass sie rassistisch beschimpft wurde von den Tätern. Außerdem erzählte sie: „Der Bahnhof war voll. Ich habe um Hilfe gebettelt. Niemand hat mir geholfen.“

Diese beiden Bilder sind nicht willkürlich aneinandergereiht. Sie gehören zusammen, und sie erzählen von einer Gesellschaft, in der rassistische und rechtsextreme Angriffe stillschweigend beobachtet und hingenommen werden. „Für die angegriffene Person“, schreibt Auto­r_in Sasha Salzmann in dem Essay „Sichtbar“, „kommt das unmittelbare Übel von den Angreifern, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut.“ Zu dieser wegsehenden Gruppe aber gehören nicht nur die Pas­san­t_in­nen von jenem Bahnhof in Prenzlauer Berg und dieser eine gewissenlose Polizist in Hanau.

Antifaschismus als Gefahr?

Dazu gehören auch all jene scheinbar Unbeteiligte, die das Märchen der sogenannten Hufeisentheorie vertreten, welches lediglich dazu dient, rechte Gewalt zu relativieren, indem mühsam eine Gefahr von links inszeniert wird. Es wird kollektiv weggeschaut, jedes Mal, wenn mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung gedeutet wird, auf eine Leerstelle, während sich hintenrum ganze Netzwerke innerhalb von Polizei und Bundeswehr organisieren, während Menschen auf offener Straße, am Bahnsteig, in Shishabars, in Synagogen angegriffen werden. Während Teile der Presse auf aggressivste Weise gegen eine Bundesinnenministerin mobilisieren, wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zu Antifaschist_innen.

Antifaschismus sollte 77 Jahre nach der Befreiung vom politischen System des Faschismus Grundkonsens sein hier. Stattdessen aber wird er zur Gefahr erklärt? Die ideologische Befreiung ist demnach immer noch nicht vollzogen, und solange Taten wie die in Hanau möglich sind und nicht aufgeklärt werden, solange sie zu Einzelfällen reduziert werden, solange kein Mensch am Bahnhof sich nach einer 17-Jährigen umdreht, die von mehreren Erwachsenen brutal zusammengeprügelt und rassistisch beschimpft wird, kann davon auch nicht die Rede sein.

Es wird Zeit, dem rechten Konsens etwas entgegenzusetzen. Denn er steht da, unerschütterlich in der sogenannten Mitte, und er bröckelt nicht einmal. Vielleicht wagt es ja die Bundesinnenministerin, sich ohne wegzuducken offen zum Antifaschismus zu bekennen. Es könnte ein Anfang sein.

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Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
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10 Kommentare

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  • Wenn die Väter der demokratischen Republik getstern noch dem Faschismus fröhnten und dann als erstes Angst und Schrecken vor dem Komunismus in Form von Plakaten, a la "die rote Flut abwenden! Bürger wählt CDU", verbreiten...

    Dieses Land hat sich die letzten 70 Jahre auf dem rechten Auge blind erzogen. Generation für Generation.



    Faschismus und Kapitalismus passt ja auch prima zusammen. und letzteres ist das System der Wahl, nicht wahr.

  • Wenn es eine Lektion der Geschichte des letzten Jahrhunderts gibt, dann ist es die, daß zu den 'Feinden der offenen Gesellschaft' (d.h. insbesondere Pluralismus, Toleranz von Andersdenkenden, Meinungsfreiheit) nicht nur Rechtsextreme (Bewegungen und totalitäre Systeme) zu zählen sind, sondern auch Linksextreme (Bewegungen und totalitäre Systeme. Es gab nicht nur Mussolini, Hitler und Franco, sondern auch Stalin, Mao Tse Tung und Pol Pot, um nur einige der Menschenschinder und Massenmörder beider Extremismen zu nennen.

    Es sollte nach den blutigen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts Konsens unter Demokraten sein, daß beide Extremismen zu bekämpfen sind, und die demokratische konservative Rechte sollte sich ebenso vom Rechtsextremismus klar abgrenzen, wie die demokratische progressive Linke sich vom Linksextremismus klar abgrenzen abgrenzen sollte.

    Historische Lektionen, die nicht gelernt werden, drohen sich zu wiederholen. Wir sind es den Erniedrigten und Gequälten, den Gefolterten und Ermordeten beider Extremismen schuldig, aus dieser blutigen Geschichte zu lernen.

    • @Roger M.:

      Und der lachende Dritte hier ist die Mitte. Die sowohl links als auch rechts als böse ansieht. Nebenher aber mit Neoliberalismus den Menschen ihre Würde wegnimmt, um Reiche und Großkonzerne reicher zu machen.

      Ansonsten:



      www.belltower.news...s-und-links-94759/

  • 7G
    75787 (Profil gelöscht)

    Wo aber liegen die Ursachen für "rechten Konsens" und fortschr. Menschenverachtung?

    "Diese Taten, inklusive des Wahns, der hinter ihnen steht, sind systemimmanent, aus der kapitalistischen Logik der Ungleichwertigkeit des Menschen geboren. Und sie sind nur gemeinsam mit der Gesellschaftsordnung, die dies hervorbringt, zu überwinden."



    Amadeu-Antonio-Stiftung

    "Wer die Ungleichbehandlung von Schwarzen Menschen, People of Color und Menschen aus Einwandererfamilien bekämpfen will, muss einen radikalen Paradigmenwechsel in der politischen Rhetorik und der Migrations- und Teilhabepolitik vornehmen. Erforderlich sind Maßnahmen im Rahmen aller drei Gewalten, also in Legislative, Exekutive und Judikative.

    So gilt es, bundesweit in Richtung rassismussensibler Fortbildung von Richter:innen und der rassismussensiblen Strafverfolgung voranzukommen. Um gebündelte Maßnahmen auf den Weg zu bringen, braucht es die Schaffung eines separaten Ministeriums, das sich mit dem Thema Einwanderungsgesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung befasst.

    Anders als der nach Hanau ins Leben gerufene Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, der nur Empfehlungen abgeben kann, könnte ein solches Ministerium Gesetzesvorhaben entwickeln und einbringen.

    Diese Maßnahmen müssen auf einem soliden Grund stehen: einem Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft und Antirassismus als Staatsziel im Grundgesetz.

    Im Rahmen dessen bedarf es auch einer angemessenen, gesetzlichen Würdigung zivilgesellschaftlicher Initiativen und der Wirkung ihrer politischen Bildungs-und Erinnerungsarbeit. Hierfür bedarf es einer gesetzlichen Grundlage der Demokratiearbeit und Förderung, wie in der im August 2020 vorgelegten Antirassismus-Agenda 2025 gefordert wird.

    Der Kampf um Teilhabe und gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt ist auch ein Kampf um das Einschreiben in das kollektive deutsche Gedächtnis. Medien haben in diesem Prozess eine zentrale Verantwortung."

    neuedeutsche.org/

  • "Es wird Zeit, dem rechten Konsens etwas entgegenzusetzen. Denn er steht da, unerschütterlich in der sogenannten Mitte" - Wie bitte? Die politische Mitte ist keineswegs im Konsens mit dem Rechtsextremismus. Das ist doch abwegig.

    "Antifaschismus sollte 77 Jahre nach der Befreiung vom politischen System des Faschismus Grundkonsens sein hier." Das ist er auch. Aber nicht überall, wo Antifa draufsteht, ist auch gewaltfreier Antifaschismus drin.

    Die Hufeisentheorie ist völlig richtig. Die taz-Autorin hat die Geschichte des linken Terrors in der Bundesrepublik (RAF) selbst wohl nicht miterlebt und kennt auch den linken Staatsterrorismus in Deutschland (DDR) vielleicht nur aus Geschichtsbüchern. Oder sie sollte diese mal lesen. Linksextremismus hat dasselbe menschenverachtende Potential wie andere Arten von Extremismus, sei es von Rechts oder aus der Ecke des Islamismus.

  • Hier wird ja alles mögliche zusammengeworfen bis hin zu den beliebten Versatzstücken von rechten Netzwerken bei Polizei und Bundeswehr, Hanau und der bösen Hufeisentheorie.

    Das niemand bei Übergriffen/Streitigkeiten hilft und einschreitet ist enttäuschend, aber erklärbar. Das muss nicht sofort mit einem "rechten Konsens in der Gesellschaft" erklärt werden. Menschen haben einfach keine Lust, sich bei sowas einzumischen und selbst auf die Nase zu kriegen. Passiert täglich vielfach - mehrheitlich nicht bei rassistischen motivierten Vorfällen - und ist sonst keinen Kommentar in Zeitungen wert.

    • @gyakusou:

      Dass sich Menschen bei Übergriffen nicht einmischen wollen, wurde schon lange in der Psychologie erforscht. Und: Je mehr Menschen anwesend, desto weniger wahrscheinlich ein Eingreifen, da man erwartet, dass das doch die anderen tun sollen. Ist man alleine, übernimmt man eher Verantwortung. Und hat, wie Sie schreiben, nichts mit Rechts oder Links zu tun.

  • Ich lese immer Ihre Artikel, aber irgendwie beginnen diese mich mehr und mehr anzustrengen. Und immer verwechseln Sie etwas: Rassismus ist Rassismus und Anti-Faschismus ist etwas anderes. Und Rassismus entsteht nicht zwangsweise aus Faschismus. Die faschistischen Diktaturen Spaniens, Portugals und Lateinamerikas waren nicht rassistisch. Leider muss ich Ihnen zu dem Thema mit dem 17 jährigen Mädchen sagen, dass ich mich auch nicht mehr einmischen, nachdem ich nach Einmischung von Seiten von ein paar jungen Männern (genau die) in Moabit mit gebrochenem Arm davonkam. Seit dieser Zeit hält sich meine Zivilcourage sehr in Grenzen. Leider.

  • Ich frage mich, ob heutzutage überhaupt noch eingegriffen würde, wenn ein Mensch bedrängt, drangsaliert, beleidigt und geschlagen wird. Oder ist sich, egal in welcher Situation, jede*r selbst der/die nächste?



    Im Netz gerieren wir uns als groß und stark und voller Prinzipien, getragen von hoher Moral- doch wie viel davon tragen wir wirklich in den Alltag und auf die Straße?

  • Mich einzumischen, wenn Menschen in der Öffentlichkeit eine Frau "ungebührlich bedrängen", habe ich mir abgewöhnt, als danach eine ganze Familie gegen mich stand.