Razzia auf Sinti-Wagenplatz: Alle für einen
Bei einem Polizeieinsatz auf einem Osnabrücker Sinti-Kulturplatz wurden alle Anwesenden durchsucht, obwohl ein Haftbefehl nur für einen vorlag.
Ralf Florian ist vieles: Gitarrist, Naturführer, Geigenrestaurator. Seit 27 Jahren wohnt er hier, betreut im Auftrag der Stadt den Kultur- und Reiseplatz, an dessen Zufahrt sein Häuschen liegt, malerisch umgrünt. Es ist idyllisch hier. Die Industrie- und Speditionsgelände, die den Platz umgeben, sind vom Laub der Bäume verdeckt, auch das Recyclingcenter. Ein Natur-Kleinod mitten in der Stadt. Sinti kommen hierher, mit ihren Wohnwagen. Plätze wie diesen gibt es nicht mehr viele in Deutschland.
Kurz vor 17 Uhr ist die Idylle vorbei. Florian hört ein Geräusch, geht ans Fenster. Er sieht einen Mannschaftswagen der Polizei. Zwei Dutzend Bereitschaftspolizisten fluten das Gelände, sie tragen Helme, Schlagstöcke, Schusswaffen. Alle Wohnwagen werden durchsucht, der Sanitärcontainer, Autos, Gebüsche. Auch Florians Haus, Schuppen und Garten. Warum, sagt man ihm nicht. Dabei sein darf er nicht. Erst danach wird er gefragt, ob er zustimmt. Er stimmt zu.
„Ich war geschockt“, sagt er. „Jahrzehnte habe ich vertrauensvoll mit der Polizei zusammengearbeitet, auch mit dem Ordnungsamt. Bevor ich hierher kam, war der Platz ein Brennpunkt der Kriminalität. Ich habe einen Ort der Ruhe und des Friedens daraus gemacht, mit viel Offenheit, oft als Vermittler. Und dann das!“
Zwei Frauen sind auf dem Platz, als die Polizei eintrifft, dazu zwei minderjährige Mädchen, ein Besucher. Und Florian. Weil die Polizei irrtümlich annimmt, dass auch er ein Sinto ist, wird er mit ihnen im Freien eingekesselt, während die Razzia läuft. Anderthalb Stunden müssen sie in Kälte und Regen ausharren. In der „Niederschrift über Durchsuchung, Sicherstellung, Beschlagnahme“, die Florian am Ende bekommt, ist „Gefahr im Verzuge“ angekreuzt. Worin diese Gefahr bestand, versteht Florian nicht. „Wir waren alle völlig friedlich.“
Es ist dort auch von einem „Verfahren“ gegen Florian die Rede – obwohl die Durchsuchung nur einem Gast des Platzes gilt, der kurz zuvor an einer Tankstelle verhaftet worden ist. Florian weiß nichts über ihn.
„Klar, auch unter den Sinti gibt es Kriminelle“, sagt Florian. „Wie in jeder Bevölkerungsgruppe. Und wenn sich hier ein Straftäter aufhält, ist das schlecht. Was mich allerdings empört, ist der Generalverdacht. Warum wurden auch meine Räume durchsucht, warum Wohnwagen, deren Bewohner gar nichts mit der Sache zu tun hatten?“ Florians Vermutung: Klischeedenken, Antiziganismus, Racial Profiling. „Die Einsatzkräfte haben sich verhalten, als seien alle Sinti Verbrecher.“
Für den Platz kann das fatale Folgen haben. „Das spricht sich ja schnell herum“, sagt Florian. „Dann fährt hier womöglich niemand mehr hin. Wer will schon grundlos durchsucht und schikaniert werden?“
Florian bezeichnet den Platz, auf dem auch Konzerte stattfinden, auf einer selbstgebauten Bühne, als „zarte Pflanze“. Dass ein solch massiver Polizeieinsatz unter den Sinti zu Skepsis führt, kann er verstehen. Obwohl seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum beheimatet, sehen sie sich oft ausgegrenzt. Eine Diskriminierung, die jüngst auch Thema der Theatercollage „Hafensicht“ war, zu deren Schauplätzen der Kulturplatz gehörte und bei der Florian als Darsteller auftrat.
Kräfte der Bereitschaftspolizei Osnabrück waren am 5. Juli vor Ort, bestätigt Matthias Bekermann, Sprecher der Polizeiinspektion Osnabrück, der taz. „Zuständig und verantwortlich“ sei die Staatsanwaltschaft Hildesheim gewesen. Alle Fragen bitte dorthin.
Staatsanwaltschaft hält sich bedeckt
Staatsanwalt Stefan Rusch, Staatsanwaltschaft Hildesheim, hält sich bedeckt. Grund der Maßnahme sei „die Umsetzung eines hiesigen Vollstreckungshaftbefehls gegen eine auf dem Platz befindliche Person“ gewesen. Dort wurde die Frau des zuvor Verhafteten angetroffen – und ihrerseits verhaftet.
Ein schriftlicher Durchsuchungsbefehl, räumt Rusch ein, habe „aufgrund der Eilbedürftigkeit“ nicht vorgelegen. Mündliche Durchsuchungsanordnungen habe es „für die dort befindlichen Wohnobjekte“ gegeben, also auch für Florians Haus. Hatte der Einsatz etwas mit dem Kampf der niedersächsischen Polizei gegen „Clankriminalität“ zu tun? Rusch bescheidet knapp: „Nein.“
Ralf Florian, Platzwart
Seit Herbst 2020 gibt es in Niedersachsen vier „Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften Clankriminalität“, die gegen „kriminelle Familienclans“ vorgehen sollen, so die damalige CDU-Justizministerin. Sie sitzen in Hildesheim, Braunschweig, Osnabrück und Stade. 18 zusätzliche Stellen wurden dafür geschaffen.
Auch nach Ausscheiden der CDU aus der Landesregierung ermitteln die Staatsanwaltschaften weiter: „Kriminelle Clanstrukturen sind gekennzeichnet durch die Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten jeglicher Deliktsart und -schwere aus diesem Umfeld, das sich durch ein hohes kriminelles Potenzial und eine allgemein rechtsfeindliche Gesinnung auszeichnet“, so heißt es im „dritten gemeinsamen Lagebild von Polizei und Justiz zur Clankriminalität in Niedersachsen“, das Ende Juni vom Innenministerium herausgegeben wurde.
Nach eigener Darstellungen sind die Ermittlungen durchaus erfolgreich. Habe man Im Jahr 2021 noch 2.841 Delikte der „Clankriminalität“ zuordnen können, seien es im Jahr 2022 bereits 3.986 Straftaten gewesen. „Dieser deutliche Anstieg der Fallzahlen um etwa 40 Prozent ist sowohl auf einige Umfangsverfahren als auch auf eine durch intensive Befassung mit den Strukturen verbesserte phänomenbezogene Zuordnung zurückzuführen“, heißt es dazu im Lagebild.
Laut Mario Franz, Sprecher des Niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti, bekommen sein Verband und die betreffenden Beratungsstellen den verstärkten Einsatz der Strafverfolgungsbehörden zu spüren. Ihnen würden zunehmend „Beschwerden, Ängste und besorgniserregende Berichte“ in Verbindung mit der „Aktion Bekämpfung der Clankriminalität“ zugetragen.
„Die Polizei und andere Vertreter:innen der Strafverfolgungsbehörden legen ein Verhalten zutage, das unseren teils durch transgenerativ vererbte Traumata verunsicherten Menschen nicht gerade dabei hilft, Vertrauen in die Polizeiarbeit zu entwickeln.“ Die Kommunikation lasse „eindeutig werden, dass kleinste Konflikte bis hin zu ernst zu nehmenden Verbrechen ethnisiert und absichtlich Zusammenhänge mit unserer Minderheit durch zigane Projektionen konstruiert werden“.
Schon allein das Wort „Clankriminalität“ impliziere Rassismus, sagt Mario Franz. Unter diesem Deckmantel werde „eine Sippenhaftung gegenüber bestimmten Gruppen praktiziert“.
Wie es jetzt weitergeht mit dem Sinti-Reiseplatz? Ralf Florian hofft auf Deeskalation. „Aus Ängsten entsteht Unzufriedenheit, Widerstand“, sagt er. „Das kann doch niemand wollen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid