Rassistischer Anschlag in München 2016: Kassel, Hanau, Halle – und München
Am 22. Juli 2016 ermordete ein Jugendlicher neun Menschen in München. Die Hinterbliebenen fürchten das Vergessen des rassistischen Anschlags.
A ls der erste Schuss fällt, denkt sich Lumnije Azemi noch nicht wirklich etwas dabei. Hast du das gehört?, fragt sie ihren Mann. Sie weiß, wie Schüsse klingen, sie hat während des Krieges im Kosovo gelebt. Aber vielleicht war es ja doch nur ein geplatzter Luftballon. Sonst würden die Leute hier im McDonald’s wohl kaum so ruhig bleiben. Die Azemis sitzen mit ihren drei Kindern beim Essen. Draußen auf der Terrasse, gerade haben sie sich noch ein Eis geholt.
Es ist wenige Tage vor Ferienbeginn, sie freuen sich auf den Urlaub, wollen in das Kosovo fahren, Familie besuchen. Gegenüber im Olympia-Einkaufszentrum, dem OEZ, haben sie vorher noch ein paar Sachen dafür eingekauft. Sie wohnen in der Gegend und kommen gern hierher. Im McDonald’s können die Kinder zwischen Burger, Pommes und der Rutsche hin- und herspringen.
Es sind die Bilder dessen, was dann passierte, die Lumnije Azemi nicht mehr loswird. „Es ist für mich wie ein Film. Während ich jetzt darüber spreche, ist das, als hätte ich einen Fernsehbildschirm vor mir, und es laufen die ganzen Bilder von diesem Abend ab.“ Bilder wie ein Albtraum. Nur dass Azemi sie den ganzen Tag über sieht.
Azemi ist zum Gespräch in die Münchner Innenstadt gekommen. Zwischen Hamam und Trattoria hat sich hier in der Nähe des Sendlinger Tors in einem Rückgebäude die Opferberatungsstelle Before einquartiert. Before unterstützt Menschen, die in München von Diskriminierung, Rassismus und rechter Gewalt betroffen sind.
Warum bliebt es nach dem ersten Schuss so ruhig?
Jetzt sitzt die 49-Jährige im Besprechungsraum und schildert den Inhalt dieses Filmes, der keiner ist. Lumnije Azemi ist eine Überlebende des Attentats am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, das sich am Donnerstag zum fünften Mal jährt.
Inzwischen weiß Azemi, warum es nach dem ersten Schuss so ruhig blieb. Ein Angestellter des McDonald’s hat ihr später erzählt, dass der Attentäter zunächst auf der Toilette die Waffe getestet habe. Es ist der Knall, den die Gäste in dem Moment noch nicht zuordnen konnten. Erst zehn Minuten später, vielleicht auch 15, das Eis ist noch nicht aufgegessen, fällt der zweite Schuss.
Und der dritte und der vierte … Es hört nicht mehr auf. Allein in dem Schnellrestaurant soll der Attentäter 18 Schuss aus einer Glock 17, einer Selbstladepistole, abgefeuert haben. Ein Mitarbeiter kommt auf die Terrasse gerannt und schreit: Alle raus!
In Panik laufen alle, die eben noch auf der Terrasse saßen, los, versuchen sich in den benachbarten Saturn-Markt zu retten, etwa 50 Meter sind es bis dort. Auf dem Weg suchen die Azemis zunächst Deckung hinter einer Hecke. Der Vater wirft sich schützend über die Kinder, die Mutter kauert neben ihm. Hinter sich hören sie noch immer die Schüsse. Ein Jugendlicher fasst sich an den Hals, schreit „Hilfe“, dann fällt er zu Boden, ist tot. „Er lag genau neben mir“, erzählt Azemi.
Zu dieser Zeit hatte noch niemand auch nur eine Ahnung, was hier vor sich ging.
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Inzwischen haben die Ermittler recht genau rekonstruiert, wie das Attentat am 22. Juli 2016 ablief: Gegen 17 Uhr kam der 18-jährige Täter David S. zum McDonald’s am OEZ. Zuvor hatte er noch via Facebook unter falschem Namen Jugendliche aufgefordert, ebenfalls dorthin zu kommen. Um 17.51 Uhr fielen dann die ersten Schüsse im Schnellrestaurant. Fünf Jugendliche starben.
Anschließend ging S. nach draußen, schoss weiter um sich, tötete weitere Personen, überquerte die Straße und betrat schließlich das Einkaufszentrum. Dort traf er auf sein letztes Opfer. Insgesamt waren es nur acht Minuten, in denen er neun Menschen erschoss und fünf weitere schwer verletzte. Danach versteckte er sich über zwei Stunden in einem Fahrradkeller. Als er ihn verließ und von Polizisten gestellt wurde, erschoss er sich.
Juli 2021, ein heißer Sommervormittag. Auf der Hanauer Straße, die den McDonald’s vom Olympia-Einkaufszentrum trennt, herrscht reger Verkehr. Es riecht nach Döner, die Imbissbude steht gleich neben dem McDonald’s. Dort, wo jetzt das Denkmal für die Opfer des Attentats ist, muss damals der Obststand gestanden haben. Mitten im Schussfeld. Fünf Kugeln bekam der Stand ab, der Händler überlebte unverletzt. Um das Denkmal befindet sich ein Bauzaun. Es soll vor dem Jahrestag noch mal herausgeputzt werden, heißt es.
Die Münchner Künstlerin Elke Härtel hat es gestaltet. Ein Edelstahlring windet sich bis auf zweieinhalb Meter Höhe um einen Ginkgobaum. Titel: „Für Euch“. Neun Fotos erinnern an die Todesopfer. Auf der Innenseite des Rings steht: „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22. 7. 2016“. Um den Begriff des „rassistischen Attentats“ mussten die Angehörigen hart kämpfen. Drei Jahre lang war in der Inschrift lediglich von einem „Amoklauf“ die Rede.
Ein paar Meter weiter geht es zur U-Bahn. Katharina Schulze kommt die Treppe hoch. Die Grünen-Politikerin hat vor wenigen Wochen ein Kind bekommen, ist noch im Mutterschutz. Doch für ein Gespräch über die Folgen des OEZ-Attentats nimmt sie sich Zeit, das Thema sei ihr „superwichtig“. Sie zeigt die Straße runter. Dahinten habe ihr Bruder gewohnt. Entsprechend groß war an dem Abend der Schrecken, als sie von den Schüssen am OEZ hörte. Sie selbst war zu dem Zeitpunkt im unterfränkischen Kahl am Main, sollte bei einer Veranstaltung ihrer Partei sprechen. Thema: Rassismus in der Gesellschaft. Wenigstens konnte sie ihren Bruder schnell erreichen, er befand sich in Sicherheit.
Schulze, inzwischen Oppositionsführerin im bayerischen Landtag, machte sich schon früh dafür stark, das Attentat als rechten Terror einzustufen. Eine Bewertung, die ursprünglich keineswegs der Lesart der bayerischen Staatsregierung entsprach. Die war sich mit Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt einig, dass David S. zwar rechtsextremes Gedankengut gehabt habe, dies aber nicht das ausschlaggebende Motiv für das Attentat gewesen sei. Vielmehr sei der 18-Jährige psychisch krank gewesen und habe sich dafür rächen wollen, dass er an der Schule jahrelang gemobbt worden sei.
Während der Attentäter noch immer um sich schoss, wagten die Azemis einen letzten Sprint zum Saturn. Bis zum Eingang des Elektromarkts waren es vielleicht zehn Meter. Vorne er mit den Kindern, sie hinterher.
„Schmerzen habe ich erst gar nicht gespürt“, erzählt Lumnije Azemi. „Nur wie das Blut aus meinen Beinen gespritzt ist.“ Die Kugeln haben sie getroffen, als sie gerade loslaufen wollte. In beide Unterschenkel, oberhalb der Wade. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zum Eingang. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe.“
„Es war die Hölle da drin“
Saturn-Mitarbeiter binden die Wunden ab. Ohne sie, glaubt Azemi, wäre sie verblutet. Sie ziehen die Frau weiter ins Innere des Ladens, verstecken sie hinter Kühlschränken. Um sie herum Menschen in Panik, Schreie, weinende Kinder. Ihre eigenen Kinder sehen die Mutter in der Blutlache. „Es war die Hölle da drin“, sagt sie. „Wir haben uns so ausgeliefert gefühlt. Wir haben gedacht, jetzt kommt er jeden Moment rein und das war’s dann.“
Mit diesem Gefühl sind die am OEZ verbarrikadierten Menschen an diesem Abend nicht allein: Kurz nach 18 Uhr ist der Attentäter erst einmal von der Bildfläche verschwunden – und noch immer ist nicht klar, ob es nicht doch mehrere Täter sind. Es folgen Stunden, in denen nichts passiert – und doch scheinbar so viel.
Genug jedenfalls, um ganz München in Angst und Schrecken zu versetzen. Es ist ein Phänomen, das so zuvor noch nirgends beobachtet wurde: Überall in der Stadt werden Schüsse gemeldet – am Stachus, am Marienplatz, am Max-Joseph-Platz. Im Hofbräuhaus beobachtet eine Frau sogar, wie ein Mann von Kugeln getroffen von der Balustrade stürzt.
Am Ende wird die Polizei für den Zeitraum von 17.51 Uhr bis 24 Uhr 4.310 Notrufe registriert haben, darunter 310 Mitteilungen über konkrete Terrorakte an insgesamt 71 verschiedenen Orten. Doch nichts davon ist tatsächlich passiert. Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins führt dafür den bislang in der Kriminalistik unbekannten Begriff des Phantomtatorts ein. Der Filmemacher Stefan Eberlein hat die vermeintlichen Ereignisse dieser Nacht 2018 in einer Dokumentation nachgezeichnet. „München – Stadt in Angst“ heißt der Film.
Die Panik freilich ist echt, die Menschen verbarrikadieren sich stundenlang in Läden, Anwohner öffnen ihre Wohnungen für verängstigte Passanten. Die öffentlichen Verkehrsmittel stellen den Betrieb ein, Tausende Polizeibeamte sind im Einsatz. Die Terroranschläge von Paris sind erst acht Monate her. Gefühlt herrscht in München nun dieselbe Situation: Mordende Terroristenbanden ziehen durch das gesamte Stadtgebiet.
Mehrere Polizeipannen
Das Ganze wird durch Polizeipannen noch befeuert. Vor allem dadurch, dass am OEZ, aber auch andernorts bewaffnete Zivilpolizisten unterwegs sind, die man als solche nicht erkennen kann. In dem Film berichtet ein Arzt der Haunerschen Kinderklinik, wie auf seiner Station Panik ausbrach, als der Pförtner anrief und meldete, dass ein bewaffneter Mann in die Klinik eingedrungen sei. Später stellt sich heraus, dass es ein Polizist in Zivil war, der lediglich eine Abkürzung über das Krankenhausgelände nehmen wollte – mit der Waffe in der Hand.
Irgendwann – Azemi fehlt das Zeitgefühl, um zu sagen, wie lange es dauerte – kommen Notarzt und Sanitäter unter Polizeischutz in den Laden gerannt, holen die Frau heraus und bringen sie ins Krankenhaus. Alle anderen, auch Azemis Mann und ihre Kinder, müssen noch etwa bis Mitternacht im Saturn ausharren. Im Krankenhaus entscheiden sich die Ärzte gegen eine Operation, da die Geschosse nicht mehr in den Beinen stecken. Nach Stunden erfährt Azemi, dass ihre Familie unverletzt zu Hause angekommen ist.
Nach einer Woche wird Lumnije Azemi aus dem Krankenhaus entlassen. Die äußerlichen Wunden verheilen, doch es gibt kein normales Leben mehr, in das sie zurückkehren könnte. Sie ist stark traumatisiert. „Ich dachte damals, dass ich das nicht überstehe.“ Dazu kommt: Das große „Warum“, das alle Hinterbliebenen und Überlebenden zusätzlich zum übrigen Schmerz plagt, steht noch immer unbeantwortet im Raum.
Dass David S. ausschließlich aus persönlichen Beweggründen heraus mordete, an dieser Einschätzung hält die Staatsregierung drei Jahre fest – obwohl es an Hinweisen auf ein rassistisches Motiv nicht mangelt. Am Tag der Tat etwa legte S. auf seinem Computer eine Datei mit dem Titel „Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer.docx“ an. In einem weiteren Dokument, seinem „Manifest“, spricht er von „ausländischen Untermenschen“, den „Kakerlaken“. Als seine Opfer wählte er vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. Den Ermittlungen zufolge soll er zudem während eines stationären Aufenthalts in der Psychiatrie Hakenkreuze gemalt und den Hitlergruß gezeigt haben. Und dass S. für seine Tat den fünften Jahrestag der rechtsterroristischen Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya wählte – ein Zufall?
„Da könnte man als Ermittler ja mal denken: Oh, das könnte ein rassistischer Anschlag gewesen sein“, findet Grünen-Politikerin Schulze. „Ich war schon erstaunt, dass das von der Staatsregierung so schnell abgetan wurde.“ Für die Stadt München waren die Indizien immerhin Grund genug, drei voneinander unabhängige Gutachten anfertigen zu lassen. Das übereinstimmende Ergebnis: Die Tat war rechtsextremistisch motiviert.
„Wir müssen die Dinge richtig benennen“, argumentiert Schulze. „Sonst können wir doch gar nicht erkennen, wie die Gefährdungslage im Freistaat tatsächlich ist.“ Und erst dann könne man auch entsprechende Konsequenzen fordern. „Wenn wir zum Beispiel im Innenausschuss über die Gefahren von rechtsextremer, linksextremer und islamistischer Gewalt diskutieren und in dem Kästchen,rechtsextreme Gewalt' steht nichts drin, dann wird natürlich die Regierung schnell sagen: Da haben wir ja überhaupt kein Problem.“ Außerdem hätten auch die Opfer ein Recht darauf, genau zu erfahren, warum sie ihre Liebsten verloren haben, warum sie angeschossen wurden.
„Eine gewisse Täter-Opfer-Umkehr“
Tatsächlich hätten die Betroffenen sehr darunter gelitten, dass die Tat nicht als rassistischer Anschlag anerkannt worden sei, sagt auch Anja Spiegler, die als Beraterin bei Before etliche von ihnen betreut hat. „Für sie ging es auch darum, dass der Tod des geliebten Angehörigen zumindest dazu führen soll, dass Lehren gezogen würden, dass vielleicht weitere Taten verhindert werden können.“ Und Lumnije Azemi sagt: „Das war für uns sehr verletzend. Es war, als ob sie das Ganze nicht wirklich ernst nehmen würden. Aber für uns war es bitterer Ernst.“
Der Opferanwalt Onur Özata spricht sogar von einer „gewissen Täter-Opfer-Umkehr“, solange die These gelte, der Täter habe allein aus Rachegedanken wegen vorhergehenden Mobbings von türkisch- oder balkanstämmigen Jugendlichen gehandelt. „Das wird von den Angehörigen als Ignoranz wahrgenommen“, sagt Özata bei einem vom Mediendienst Integration anlässlich des Jahrestages organisierten Pressegespräch. Özata hat bereits Nebenkläger im NSU-Prozess vertreten, aber auch bei den Prozessen gegen den Attentäter von Halle sowie den Mann, der David S. die Tatwaffe verkaufte. Die Gutachten der Landeshauptstadt hätten schließlich die die rassistische Motivation von David S. schon früh klar benannt, erinnert Özata. „Und was macht das bayerische LKA? Es geht hin und lässt ein viertes Gutachten erstellen. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen.“
Es dauert bis zum Oktober 2019. Dann stuft das LKA das Attentat schließlich doch noch als politisch motivierte Straftat ein. Katharina Schulze ist überzeugt: „Ohne den Druck, den wir im Zusammenspiel mit den Angehörigen, der Zivilgesellschaft und der Stadt München ausgeübt haben, und die Recherche der Medien hätte die Staatsregierung das weiterhin als Amoklage eines psychisch Kranken eingestuft.“ Für die Betroffenen war die Neubewertung eine Erleichterung. „Aber der Groll, dass es so spät kam“, erzählt Beraterin Spiegler, „sitzt immer noch tief.“
Und wenn es nach Schulze geht, muss die späte Erkenntnis bei der Staatsregierung nun zumindest auch Folgen haben. So fordert die Innenpolitikerin beispielsweise eine viel bessere Überwachung von Gaming-Plattformen wie Steam, auf der auch der Münchner Attentäter unterwegs war. Dort finde häufig die Radikalisierung und Vernetzung von Rechtsextremisten statt. Auf Steam lernte David S. einen Gleichgesinnten aus den USA kennen, der ein Jahr später an einer Schule in New Mexico einen Anschlag mit zwei Todesopfern verübte.
Anja Spiegler,Opferberaterin
Für ein effektives Monitoring benötige man mehr Personal bei Polizei und Justiz, so Schulze. Und vor allem mehr Internetkompetenz. „Wir brauchen die besten Hacker bei der bayerischen Polizei.“ Diese müsse man aber auch entsprechend bezahlen, weshalb auch das Besoldungsrecht geändert werden müsse. Außerdem spricht sich Schulze für eine „virtuelle Polizeiwache“ aus: „Kaum ein Gamer geht am nächsten Tag zur Polizeidienststelle, um eine Anzeige zu erstatten. Wir brauchen da niedrigschwellige Optionen, Stellen, an die man auf die Schnelle einen Screenshot hinschicken kann.“ Und auch die Hilfe für die Betroffenen könne man noch verbessern, meint Schulze. Schneller, unbürokratischer solle sie werden.
Lumnije Azemi hat einige Monate nach dem Attentat einen Platz für eine Traumatherapie gefunden. Doch dann wechselte der Therapeut in eine Anstellung im Krankenhaus. Nach einer längeren Behandlungspause fand sie eine neue Psychologin. Dann kam Corona. Seit über einem Jahr hat sie nun keine Sitzung mehr gehabt. Die kleinen Fortschritte, die sie gemacht hatte, seien dahin, klagt Azemi. Die seelischen, aber auch die körperlichen Schmerzen werden wieder mehr. Sie kann nur noch mit Mühe gehen, auch langes Sitzen schmerzt sie. Die drei Kinder, mittlerweile elf, zehn und sieben Jahre alt, waren beziehungsweise sind ebenfalls in Therapie. Sie sind sehr schreckhaft, trauen sich nicht an die Tür, wenn es klingelt.
Sorge, dass das Attentat in Vergessenheit gerät
„Meine Träume, meine Ziele – alles ist erloschen“, erzählt Azemi. Sie spricht ruhig, mit lauter, fester Stimme. Freundlich, aber freudlos. Sobald die Kleinste in die Krippe kommen würde, so war der Plan vor dem 22. Juli 2016, würde sie zu arbeiten anfangen. Und auch endlich einen Deutschkurs machen. Doch dazu war sie dann nicht mehr in der Lage. „Ich habe das Kosovo vor 13 Jahren verlassen, mit der Vorstellung, ich gehe nach Deutschland, in ein sicheres Land.“ Jetzt hat sie auf der Straße sogar manchmal das Gefühl, verfolgt zu werden. „Ich bin nicht mehr die sorglose Lumnije, die ich vorher war.“
Seit dem Tag des Attentats vermeidet Azemi die Gegend um das Olympia-Einkaufszentrum. Einzige Ausnahme: die zentralen Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen. Da geht sie auch in diesem Jahr wieder mit ihrem Mann hin. Oberbürgermeister Dieter Reiter wird sprechen, auch Ministerpräsident Markus Söder.
Die Gedenkveranstaltung sei für die meisten der Betroffenen immer ein wichtiger Termin, erzählt Anja Spiegler von Before. Es ist der eine Tag im Jahr, an dem sie das Gefühl haben, dass sich wenigstens mal jemand an sie erinnert, an ihre ermordeten Kinder. „Denn es gibt tatsächlich die Sorge, dass das OEZ-Attentat in Vergessenheit gerät“, sagt die Beraterin. Wenn beispielsweise die rechten Terroranschläge der letzten Jahre wie Hanau oder Halle aufgezählt würden, fehle es regelmäßig. „Die Betroffenen haben teilweise den Eindruck, dass sogar in der Erinnerung Münchens der Anschlag nicht mehr präsent sei. Dass Teile der Stadtgesellschaft das Gedenken an den Anschlag lieber wegschieben.“ Und das, obwohl es diese Nacht war, die die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt hat. Es gibt keine Münchnerin, keinen Münchner, die nicht sagen könnten, wo sie damals waren.
Warum, kann auch Spiegler nicht wirklich erklären. Aber die Beobachtung deckt sich mit dem, was auch Opferanwalt Özata von seinen Mandanten hört. „Die Opferperspektive wurde in den letzten Jahren völlig außer Acht gelassen. Dabei ist es so wichtig, dass man den Betroffenen zuhört.“ Staat und Gesellschaft müssten solidarischer mit den Opfern rassistischer Gewalt sein.
Am Ende kommt Lumnije Azemi noch einmal auf den Täter zu sprechen. Nur kurz, denn sie redet nicht gern über ihn. Sie sei nicht überzeugt davon, dass er tatsächlich tot ist, sagt sie. Vielleicht werde er ja irgendwo versteckt oder sei im Gefängnis. In dem Film jedenfalls, den Azemi Tag für Tag vor ihrem Auge ablaufen sieht, schießt er noch immer.
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