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Queer sein im KapitalismusYou can stand under my umbrella

Wer ist „queer genug“? Unsere Kolumnistin findet, diese Frage bringt uns nicht weiter. Denn genau so wenig kann man schön oder reich genug sein.

Alle unter einem Schirm: Auf dem CSD am 23. Juli in Berlin Foto: Markus Schreiber/ap

B in ich queer genug? Diese Frage begegnet mir in meinem Umfeld immer wieder. Bin ich queer genug für die queere Party, für den CSD? Bin ich queer genug, um mich überhaupt queer zu nennen? Die meisten meiner weiblichen Freun­d*in­nen fühlen sich zu verschiedenen Geschlechtern hingezogen, hatten aber hauptsächlich sexuelle Erfahrungen mit Cis-Männern. Von ihnen höre ich oft Zweifel, ob sie sich als queer bezeichnen dürfen. Ähnliche Zweifel habe ich auch schon von Menschen gehört, die gerade nachspüren, ob ihre Pronomen wirklich zu ihnen passen. Ich habe sie von nichtbinären Personen gehört, die von außen selten so gelesen werden.

Auch ich habe mir diese Frage schon gestellt. Zum Beispiel, wenn ich als bisexuelle Frau gerade mit einem Mann zusammen war. Oder wenn ich lange keinen Sex mit einer Frau hatte. Doch welche Kriterien müssten wir denn erfüllen, um „queer genug“ zu sein? Müssten wir als Homo-, Pan- und Bisexuelle einen Lebenslauf unserer gleichgeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen vorweisen? Müssten wir eine bestimmte Quote davon im Jahr erfüllen? Ab wann darf sich jemand trans nennen? Ab Beginn der Hormoneinnahme? Nach einer geschlechtsangleichenden Operationen? Nach einer Namensänderung in offiziellen Dokumenten? Was müssten nichtbinäre Menschen vorweisen? Einen Unisex-Namen und einen besonders androgynen Stil?

Solche Überlegungen geben mir Bewerbungsgespräch-Vibes. So als müssten wir uns unsere Queerness erst hart erarbeiten und sie dann gegenüber einem Gremium verkaufen, dessen Mitglieder prüfend über ihre Brillengläser schauen. Noch dazu impliziert der Gedanke von „queer genug“, wir könnten mehr oder weniger queer als andere sein. Damit stünden wir dauerhaft in Konkurrenz mit anderen Queers. In dieser Logik werden wir natürlich nie „queer genug“ sein, genauso wie wir nie reich genug oder schön genug sein werden.

All das ist ein wahnsinnig kapitalistisches Mindset. Und das Gegenteil von dem, was Queerness ursprünglich bedeutete. Es ging dabei von Anfang an darum, sich gegen Unterdrückung und Marginalisierung aufzulehnen und damit auch gegen den heteropatriarchalen Kapitalismus. Es ging darum, Räume zu schaffen für Menschen, die nirgends die Kriterien erfüllten. Es ging um Community.

Ich finde, wir sollten uns dieses Erbe nicht vollständig von kapitalistischer Aneignung aus den Händen reißen lassen – auch nicht von dem internalisierten Kapitalismus in unseren Köpfen. Es ist wichtig zu benennen, dass queere Menschen sehr unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen machen. Genau deshalb ist „queer“ ja auch ein sogenannter umbrella term, unter dem verschiedenste Identitäten zusammenfinden. Ich möchte Queerness als Einladung verstehen, mehr von uns selbst zu entdecken und dabei nicht allein zu sein. Und ich wünsche mir wieder weniger Bewerbungsgespräch und mehr Rihanna: You can stand under my umbrella.

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Lou Zucker
Lou Zucker ist Journalistin und Autorin. Als Redakteurin arbeitete sie für neues deutschland, Supernova, bento und Der Spiegel, derzeit ist sie Chefin vom Dienst bei taz nord in Hamburg. Ihr Buch „Clara Zetkin. Eine rote Feministin“ erschien in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
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7 Kommentare

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  • Also das Wort "heteropatriarchalen Kapitalismus" finde ich irreführend. Es gibt sehr viele kapitalistische Schwule. Einige von ihnen gehören zu den Hauptkunden der Leihmütter-Agenturen, die fröhlich Menschenhandel betreiben. Deshalb: nicht alles wo queer draufsteht ist automatisch gut.

    • @Gerit Sonntag:

      Die Formulierung "kapitalistische Schwule" impliziert, dass "kapitalistisch sein" eine Eigenschaft wäre, die nur manchen Menschen zukommt. Kapitalismus ist aber keine Form von personaler Herrschaft, die vom Handeln einzelner Personen abhängt. Ich bin zwar Antikapitalist, reproduziere den Kapitalismus aber fortwährend durch mein Handeln, so wie alle anderen auch. Dem kann ich mich als Individuum schwerlich entziehen, schließlich hängt meine Selbsterhaltung davon ab.

      Davon abgesehen verweist schon die Kategorie "Identität" auf ein "wahnsinnig kapitalistisches Mindset". Adorno hätte das ein "Ticket" genannt: Identitätsdenken ist Schubladendenken. Nun müssen emanzipatorische Bewegungen gezwungenermaßen eine Art von positiver Identität ausbilden. Das erklärt aber nicht wie eine Kategorie wie die Identität zu solcher Bedeutung gelangen konnte. Umso schlimmer wenn Menschen sich dann irgendwann fragen: "Bin ich queer genug?"



      Jenseits der endlosen Debatten, in denen Emanzipation überwiegend als Ich-Technik thematisiert wird, wäre es mal ganz spannend zu erörtern weshalb wir uns heute permanent mit der Frage "Wer bin ich?" beschäftigen. Vielleicht hat auch das etwas mit dem Kapitalismus zu tun.

  • Bei allem "Rumgequeere" vergessen die meisten, dass es eine Identifikation mit dem Wort und dem Inhalt des Wortes geben muss, um Queer zu sein.Nicht jede_r ,der_ die den communities angehört, ist automatisch queer. Es müsste eigentlich nicht heißen: Bin ich queer genug? , sondern: Kann ich mich mit Inhalten identifizieren?Ich sehe mich eher als LGBIQA+ Ally.

  • "Bin ich queer genug?"

    Unter welchen Gruppenzwang muss man stehen, um sich so eine Frage zu stellen? Oder wie gelangweilt muss man sein?

    Wie wäre es, wenn ein Mensch einfach sein Leben lebt, ohne sich mit sinnlosen Fragen zu beschäftigen? Die Freiheit dazu gibt es in diesem Land.

  • "Bin ich queer genug?"



    Wenn dass das Problem einer queeren Person ist, dann kann man ja nur gratulieren. Scheinbar hat ihr ein homophober Mensch diese noch nicht beantwortet.

  • Ich glaube, dass man sehen muss, dass queer eigentlich nur in Beziehung zu bestimmten Normen funktioniert, sei es Heteronormativität oder einer vermeintlichen Queernormativität, wie sie im Artikel durch das beschriebene Gremium erdacht wird. Wenn mensch die Idee von Queerness ernstnehmen möchte, dann gehört da mMn. dazu, dass jede*r seine*ihre Form von Queerness leben kann wie er*sie meint und das unabhängig davon, wie irgendjemand anderes dies nun findet. Zugegeben, das mag idealistisch sein, aber das wäre doch der Punkt, denn was man innerhalb der Community mMn. gerade nicht braucht, sind irgendwelche Paternalismen, die entscheiden wer, wann, wie dazugehört und wann nicht.



    Erneut ist hier auch der Identitätspolitische Aspekt (Queer 'sein', queere 'Identität' haben) ein wesentliches Problem. Niemand hat oder ist per se queer. Das zeigt ja auch der Ausgangspunkt des Artikels, die Angst, nicht queer (genug) zu sein bzw. als nicht queer genug anerkannt zu werden. Versteht man Queer aber eben nicht als Essentialismus sondern als Praxis, dann fällt auch in gewisser Weise der Druck, weil sich Queerness dadurch zeigt, wie mensch sich verhält, denkt, handelt, Solidarisch ist usw.

    • @White_Chocobo:

      "Erneut ist hier auch der Identitätspolitische Aspekt ..."



      Das macht keinen Sinn. Kollektive Identitäten können auch auf geteilten Praktiken beruhen. Eine Zuschreibung von Identitätspolitik auf nur solche Identitäten, die sich auf essentielle Merkmale berufen, ist willkürlich.



      Darüber hinaus kommen Sie auch mit Queersein als Praxis dem Normativitätsproblem nicht aus, denn wie wird denn entschieden, ob eine bestimmte Praxis nun Queersein begründet oder nicht?