Queerbaiting in der Popkultur: Die Projektionsflächen
Vermarktet Billie Eilish sich als queer, obwohl sie es vielleicht nicht ist? Die Frage führt zurück zum Sinn von Diversität und Repräsentation.
Zum Pride Month kommen immer wieder Altes und Neues zusammen, zum Beispiel politische Kämpfe der Vergangenheit mit aktuellen Bewegungen. Aids-Veteran_innen und die Generation Tiktok. Und so auch die Verhandlung darüber, wo die Grenzen zwischen queerem Gatekeeping und queerfeindlicher Appropriation verläuft.
Was gerade neu ist: Das Musikvideo von Billie Eilish zu ihrem Song „Lost Cause“, in dem sie mit ein paar Frauen eine Pyjama-Party schmeißt und über einen unerwiderten Crush singt. Ob das als Metapher für ein Coming-Out steht? Auf ihrem Instagram veröffentlichte Eilish letzte Woche noch einen Beitrag mit Fotomaterial hinter den Kulissen. In der Bildunterschrift: „i love girls“. Damit löste sie eine hitzige Debatte darüber aus, ob dieser Move ein süßes Eingeständnis oder doch nur kalkuliertes Queerbaiting sei – schließlich sei sie doch mit einem cis Mann zusammen.
An dieser Stelle kommen die nicht mehr ganz so neuen Dinge dazu, an vorderster Stelle die seit Jahren andauernde öffentliche Obsession mit Billie Eilish, insbesondere mit ihrem Körper und ihrer Sexualität. Selbst als sie noch minderjährig war, wurde die Musikerin ständig sexualisiert, ohne durch eine entsprechende Inszenierung damals suggeriert zu haben, zum Sexsymbol avancieren zu wollen.
Im Prinzip ging es darum, an ihrem Exemplar zu diskutieren, was Frauen dürfen. Ist es radikal, den Körper durch weite Kleidung unkenntlich zu machen? Begehen Frauen einen Verrat an der feministischen Sache, wenn sie sich doch für figurbetonte oder freizügige Looks entscheiden? Oder jetzt eben: Vermarktet Billie Eilish sich zum Pride Month als queer, obwohl sie es vielleicht nicht ist?
Druck auf öffentliche Personen
Keine Ahnung, kann nur sie beantworten. Aber Gegenfrage: Ist man automatisch straight, nur weil man gerade einen Boyfriend hat? Der einzige Weg aus dieser Kritik heraus wäre in diesem Fall ein erzwungenes Outing. Entweder als heterosexuell oder queer. So, wie die Sängerin Kali Uchis schon klarstellen musste, dass sie bisexuell ist, nachdem man auch ihr Queerbaiting vorwarf. Billie Eilish ist es niemandem schuldig, ihre Sexualität zu offenbaren. Überhaupt, wer konnte das mit 19 schon, sein Begehren auf ein Label reduzieren? Als öffentliche Person ist der Druck zudem höher, mit der Definition der Identität bloß richtig zu liegen, das verdeutlicht die bisherige Debatte. Dabei waren wir uns doch schon mal einig, dass Sexualität etwas Fluides ist.
Weg von Billie und Kali, hin zu dem größeren Ganzen: Queerbaiting ist ein Phänomen, das es in unterschiedlichen Formen schon seit einer Weile gibt, also eher Kategorie „alt“. In seiner ursprünglichen Definition jedoch bezieht Queerbaiting sich nicht auf die Performance von einzelnen Promis, sondern als eine Vermarktungsstrategie in Serien, Büchern und Filmen. Indem dort queere Plot-Lines und Figuren angedeutet, jedoch nie eindeutig als solche explizit werden, bleibt ein queeres Publikum am Ball, während ein konservatives nicht abgeschreckt wird.
Erstere warten sehnsüchtig darauf, dass das Versprechen von queeren Inhalten irgendwann eingelöst wird, und schauen unbefriedigt weiter. Dass das Ausbleiben von expliziter Queerness ein Erfolgsrezept ist, widerlegen Serien wie „Orange Is The New Black“, „Pose“ oder „Sex Education“.
Lesbischsein als Bandkonzept
Während es bei Billie Eilish tatsächlich unklar ist, ob sie nun queer ist oder nicht, gibt es Fälle, in denen es offensichtlicher war. Das wohl bekannteste Beispiel ist das russische Popduo t.A.T.u., das Anfang der 2000er durch sein Image als lesbische Schulmädchen bekannt wurden. Diese Zuschreibung war nicht an angedeuteten Symbolen gebunden, sondern war es ein fester Bestandteil des Bandkonzepts. Der Name ist eine Kurzform des russischen Satzes „Та любит ту“, also „Dieses Mädchen liebt das Mädchen“, in ihrem viralen Video zur Single „All The Things She Said“ knutschen sie leidenschaftlich vor schockiertem Publikum herum. Die Gerüchte, ob die beiden Frauen wirklich zusammen waren, räumten sie in guter alter „No Homo“-Manier in einer Doku aus der Welt. Schnell wurde klar: Das ist kein schonungsloses Pop-Beispiel für lesbische Sichtbarkeit, sondern ein klassischer Fall von „Gay For Pay“, eingeführt von ihrem Produzenten Ivan Shapovalov.
Über die Jahre äußerten sie sich mehrmals homofeindlich, insbesondere Yulia Volkova. Ihre Kollegin Lena Katina grenzte sich von einigen Aussagen Volkovas ab, doch der Vibe bleibt: Homofeindliche Heteros, die mit lesbischem Image Geld verdienen. Trotzdem: So homofeindlich sie privat sind, t.A.T.u. werden in diesem Leben ihr Image als lesbische Ikonen oder zumindest Projektionsflächen für lesbisches Begehren nicht mehr los. Für sie war die Rebellion vielleicht nur Marketing, doch für ihre Zuschauer_innen war es ein Ausbruch aus den schnöden vorgelebten Optionen von Heterosexualität und Anpassung. Dann gab es Katy Perry und ihre Single „I kissed a girl“. Vor dem männlichen Blick performt sie den Fauxpas, eine Frau geküsst zu haben. Hoffentlich nimmt ihr Freund ihr das nicht übel!
Viel höhere Wellen schlug der ikonische Gruppenkuss zwischen Madonna, Britney Spears und Christina Aguilera auf den MTV Video Music Awards 2003. Britney und Madonna haben ja bereits in ihrem Song „Me Against The Music“ fleißig homoerotische Stimmung gemacht, der Dreierkuss war dann der popkulturelle Höhepunkt. Ob das nur Provokation oder ein Statement war, ist auch Jahrzehnte später ungeklärt.
Geheimhalten von Queerness
Ausgerechnet, wenn es um Abweichungen von Cis- und Heteronormativität geht, argumentieren Produzent_innen oder Autor_innen damit, Begehren und Identität lieber zu suggerieren anstatt die Dinge auszubuchstabieren. Komischerweise wird diese Diskretion selten auf Heterosexualität angewendet, diese wird dem Publikum eher zwanghaft ins Gesicht gehalten. Dabei hat das Geheimhalten von Queerness Geschichte, die sich zum Teil bis heute fortsetzt. Nicht ohne Grund spekulieren Queers über die Sexualität oder Geschlechteridentität verstorbener Bekanntheiten.
Ob sie mit ihrer Vermutung, die Person könnte queer gelebt haben, richtig liegen, wird selten verifiziert. Vielleicht ist es in diesen Fällen auch unwichtig. Denn egal ob queer oder nur so gelesen, verstorbene Ikonen sind immer eine Projektionsfläche – das kann auch etwas Gutes sein, denn sie geben Kraft, können Vorbilder sein. Ihre vermeintliche Heterosexualität ist häufig genauso spekulativ wie eine mögliche Queerness, warum also nicht automatisch von Letzterem ausgehen, wenn die Vibes passen? Es schwingt ein besonderes Gefühl dabei mit, zum Beispiel daran festzuhalten, dass der Dichter Rumi, der durchaus auch eine große Fanbase in konservativeren Szenen hat, wahrscheinlich queer war. Genau, eure Ikone war genauso pervers wie wir! Was sagt ihr dazu?
Bei einzelnen lebenden Promis kann es ähnlich sein. Offenbar regen sie bestimmte Fantasien oder Projektionen an. Der Schauspieler Elliot Page etwa galt für viele lange vor seinem queeren (und später trans) Coming-Out als queeres Vorbild. Trotzdem: Beide seiner Coming-Outs haben für LGBTQI-Personen eine große Bedeutung gehabt. Niemand schuldet der Öffentlichkeit ein Coming-Out, doch es macht einen Unterschied.
Zwischen Vergnügen und „No Homo“-Rhetorik
Natürlich löst es Frustration aus, wenn berühmte Heten sich als Marketingstrategien nur die coolen Aspekte von Queerness herauspicken und mit aufgesetzter Edginess Geld mit einer angetäuschten Eigenschaft machen, die andere Menschen unter Umständen den Job, das Zuhause, das soziale Umfeld oder das Leben kosten kann. Während manche Promis also ihre Queerness verheimlichen, weil sie sich die möglichen Konsequenzen nicht leisten können, spielen ihre hetero cis Kolleg_innen Fasching, weil es gerade gut ankommt.
Da kommt der Ärger darüber nicht unberechtigt. Besonders dann, wenn es normschöne, konventionell feminine cis Frauen wie Bella Hadid, Katy Perry oder Ariana Grande sind, die niemals unter das Label „Kampflesbe“ fallen würden, sondern genau diesen Male Gaze füttern, der stromlinienförmig in die Matrix der Heteronormativität im Kapitalismus passt. Wie subversiv kann das schon sein – selbst wenn die jeweilige Person sich in dem Moment ermächtigt fühlt?
Also, wie stehen zu Queerbaiting? Ein abschließendes Urteil fällt schwer. Einerseits kann auch offensichtliches Queerbaiting zumindest temporär queeres Vergnügen auslösen, und geht es beim Entertainment nicht genau darum: sich unterhalten fühlen und Spaß haben? Andererseits verschärft es manchmal die „No Homo“-Rhetorik, nach dem Motto: „Ih, spinnst du, ich bin doch nicht wirklich gay!“
Letztlich führt das Thema zurück zur Frage nach dem Sinn von Diversität und Repräsentation. Zwar kann es sich gut anfühlen, Vorbilder zu haben, doch letztendlich füttern diese Dinge den Kapitalismus und nicht den politischen Kampf. Und das ist nun wirklich nicht neu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner