Putins Armee probte in Syrien: Déjà-vu in der Ukraine
Russlands Armee hat in Syrien die Waffen und Strategien für den Ukrainekrieg erprobt. Der Westen hat Putins Testlauf übersehen.
Wer im syrischen Bürgerkrieg genauer hingesehen hat, dem kommt das Drehbuch des russischen Militärs in der Ukraine verstörend bekannt vor. Auch dort wurden Städte eingekesselt und mit überwältigender Feuerkraft beschossen, bis der Widerstand, im Falle Syriens teilweise nach Monaten, gebrochen war. Auch dort wurden humanitäre Korridore und lokale Waffenstillstandszonen zäh ausgehandelt und deren Schutz immer wieder verletzt. Die Zermürbung der Einwohner der Kriegszone war Strategie.
Der russische Militäreinsatz an der Seite des syrischen Diktators Baschar Assad wirkt fast wie die Blaupause für den Ukrainekrieg. Wenngleich es einen entscheidenden Unterschied gibt. In Syrien ging es Putin darum, den Wechsel eines Regimes zu verhindern, in der Ukraine geht es um das Gegenteil: Die amtierende Regierung Selenski soll militärisch zu Fall gebracht werden. Doch der Weg, diese unterschiedlichen Ziele zu erreichen, geht in beiden Fällen über die Kontrolle von Gebieten, die es militärisch zu erlangen gilt. In Syrien verlief dieser Weg über die Vorstädte von Damaskus, die aus den Händen der Rebellen zurückerobert wurden, und endete in der verheerenden Belagerung und Zerstörung von Aleppo.
In der Ukraine verläuft er heute über Charkiw, Mariupol bis wahrscheinlich in die Hauptstadt Kiew. In Syrien ging es darum, den Diktator Assad aus seiner bedrängten Lage zu befreien. In der Ukraine geht es darum, die Hauptstadt zu erreichen, um eine Putin-genehme Regierung zu installieren.
Syrien stand Modell für die humanitären Korridore, über die auch heute völlig erschöpfte ukrainische Zivilisten sich nun in Sicherheit bringen können. Das verheißt für die Menschen in der in der Ukraine nichts Gutes. Die von den Rebellen kontrollierten Orte in Syrien wurden mit Hilfe der russischen Luftwaffe systematisch bombardiert und über lange Zeiträume belagert, zerstört und ausgehungert. Wer dann die Städte verlassen wollte, dem wurden humanitäre Korridore angeboten.
Das einzige Angebot auf dem russischen Tisch
Damals endeten diese zunächst oft in den Gebieten, die vom Regime in Damaskus regiert wurden. Wer dort ankam und irgendwie nach Opposition roch, wurde abgegriffen und auf Nimmerwiedersehen weggeführt. Ein Grund, warum auch damals viele zögerten, diesen Weg zu nehmen, ähnlich wie heute viele ukrainische Zivilisten, die nicht nach Russland oder Belarus transportiert werden möchten. Und so wie deren sicherster Weg heute in Richtung Westen verläuft, lag der einzige „sichere“ Ausweg für die Menschen von Aleppo in der Evakuierung in die nordwest-syrische Provinz Idlib, die weiterhin von den Rebellen kontrolliert wurde.
Jene, die damals über diese Korridore ankamen, bilden heute das Gros der drei Millionen Flüchtlinge, die dort in überfüllten Lagern sitzen. Die Auswahl für die Menschen in Aleppo war damals ebenso brutal wie heute für die Menschen in Mariupol oder Charkiw: sein Heim und sein Hab und Gut hinter sich zu lassen oder zu riskieren, mit der Familie unten den Trümmern seines Hauses zu enden. Oder wie es der damalige und noch heutige russische Außenminister Sergei Lawrow bei der Belagerung von Aleppo unumwunden formulierte: „Jene, die sich weigern freiwillig zu gehen, werden ausgelöscht.“
Es ist heute wie damals das einzige Angebot auf dem russischen Tisch. Die syrischen und russischen Militärs erreichten mit diesen humanitären Korridoren ihr Ziel. Nachdem die Evakuierung – viele Syrer nannten es auch Vertreibung – abgeschlossen war, wurden die belagerten Orte endgültig zum Freiwild der Artillerie und Luftwaffe. Denn wer jetzt noch dort war, war nach russisch-syrischer PR selbst schuld. Es dauerte dann meist nicht mehr lange, bis der letzte Widerstand weggebombt war.
Die humanitären Korridore sind ein Paradox. Denn hier wird die Vertreibung von Menschen als die einzige Möglichkeit präsentiert, zivile Menschenleben zu retten. Ein Kriegsverbrechen wird begangen, um ein anderes zu vermeiden. Das war damals in Syrien so, das gilt heute für die Ukraine. Zumindest von jenen, die damals Aleppo in Richtung Idlib den Rücken kehrten, um ihr nacktes Leben zu retten, ist bis heute praktisch niemand wieder in die Stadt zurückgekehrt.
Der Westen hat weggeschaut
Vielleicht waren wir zu sehr in unserem Eurozentrismus verfangen und haben deswegen nicht hingesehen, als das russische Militär viele seiner modernen Waffenarsenale, die es heute in der Ukraine einsetzt, in Syrien bereits getestet hat: von den Brandbomben, der Streumunition bis hin zu den Vakuumbomben, die damals gnadenlos in zivilen Wohngebieten eingesetzt wurden. Die Modernisierung der russischen Armee und Luftwaffe fand praktisch in Syrien statt. Aleppo und Idlib waren das Testgelände für den Krieg in der Ukraine.
Vielleicht hat man alles nicht sehen wollen, weil die Lage in Syrien zu verwirrend war. Da waren der Diktator auf der einen Seite und auf der anderen eine Vielzahl von Rebellengruppen, darunter einige, die sich mit militanten Islamisten wie al-Qaida identifizierten, und dann war da noch der sogenannte „Islamische Staat“. Russland vermarktete sein brutales Agieren in Syrien als Antiterrorkampf. In Wirklichkeit gingen die russischen Militärs aber nie gezielt gegen den IS vor, sondern bombardierten wahllos Krankenhäuser und Schulen und terrorisierten die Zivilbevölkerung.
Das war kein Antiterrorkampf, es ging um die Rettung ihres Verbündeten Assad, der ihnen eine Luftwaffenbasis und einen Mittelmeerhafen im syrischen Tartus sicherte. Den Freibrief, den Putin damals in Syrien bekommen hat, den löst er heute in der Ukraine ein. In dem Jahr, in dem Aleppo in Grund und Boden bombardiert wurde, war Europa beschäftigt, mit dem Brexit, der Flüchtlingskrise und dem wachsenden Rechtspopulismus. Syrien war weit weg. Wer ahnte schon damals, dass Putin sein Militär für den Einsatz mitten in Europa üben ließ.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Sicherheitsleck in der JVA Burg
Sensibler Lageplan kursierte unter Gefangenen