WM im Flüchtlingslager: Spielen für den Traum

Hunderttausende Kinder leben in Vertriebenenlagern im Nordwesten Syriens. Eine Hilfsorganisation lässt sie in 32 Teams gegeneinander kicken.

Fünf Kinder in Trikots der holländischen Nationalmannschaft

Vorbereitung auf den Turniereinsatz: Team Niederlande beim „Cup der Camps“ Foto: Moawia Atrash

IDLIB-STADT taz | Die Stimmung ist ausgelassen, als die Kinder das offizielle WM-Lied „Arhbo“ anstimmen. Wie ein Echo hallt es aus dem Publikum im Stadion von Idlib-Stadt wider: „Hallo, hallo, hallo, los geht’s!“ Luftballons und Feuerwerkskörper steigen in die Luft, um den Beginn des Turniers zu feiern und die Kindermannschaften willkommen zu heißen.

Parallel zur echten Fußball-WM messen sich noch bis zum Tag des Finales in Katar mehr als 250 Kinder in Idlib im Nordwesten Syriens bei einem „Cup der Camps“. Die Hilfsorganisation Violet hat die 10- bis 14-Jährigen zusammengebracht, allesamt entweder aus den Flüchtlingslagern der Region oder Kin­der­ar­bei­te­r*in­nen aus Industriezonen in Idlib, die in ihrem Alltag normalerweise Autos und Motorräder reparieren oder Schreiner- oder Schmiedearbeiten erledigen.

„Ich habe vor drei Jahren die Schule verlassen und angefangen, in einer Autowerkstatt zu arbeiten, um meiner Familie bei den Haushaltskosten zu helfen“, erzählt der 13-jährige Orwa al-Rihani im Gespräch mit der taz. Orwa arbeitet in der Industriezone von Sarmin, einer kleinen Stadt östlich von Idlib-Stadt. Nun aber steht er stolz im Fußballstadion von Idlib-Stadt auf dem Rasen. Mit seinem Team habe er drei Tore geschossen. „Wir haben gewonnen“, sagt er.

Die Kinder kommen aus 25 verschiedenen Lagern und sieben Industriezonen. 32 Teams treten in Idlib gegeneinander an. Die Parallel-WM soll ein Licht werfen auf die Situation von Kindern in Idlib. Gleichzeitig solle das Turnier die physische und geistige Gesundheit der Kinder fördern und ihr Selbstbewusstsein stärken, sagt Ko-Organisator Abdullah Kashkash, Mitglied von Violet und seines Zeichens Fußballtrainer.

Der Nordwesten Syriens ist eine der Regionen des Bürgerkriegslandes, die weiterhin nicht unter der Kontrolle des Assad-Regimes stehen. In Idlib regiert eine Gegenregierung unter dem Namen „Salvation Government“, die als politischer Arm der Gruppe Hai’at Tahrir al-Scham gilt, die in den USA wie auch in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

Stadion wiedereröffnet

Kurz vor der Eröffnung der WM hatte die Regierung das Stadion in Idlib-Stadt nach jahrelanger Schließung wiedereröffnet. Militäraktionen des syrischen Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands und Irans, haben im Laufe der syrischen Revolution zur Vertreibung von Millionen Sy­re­r*in­nen auch innerhalb des Landes geführt. Fast zwei Millionen Binnenvertriebene leben heute in Lagern in Nordwestsyrien.

„Violet hat uns eingeladen, beim Cup der Camps mitzumachen“, erzählt Orwa, „wir haben vor sechs Monaten angefangen, wöchentlich zu trainieren.“ Nun ist er Teil des Teams Niederlande, das die Kinder aus der Industriezone repräsentiert, in der Orwa arbeitet. Alle Mannschaften in Idlib spielen unter dem Namen einer Nationalmannschaft, die auch in Katar vertreten ist.

Nur das Team Iran fehlt; stattdessen tritt eine Mannschaft „Freies Syrien“ an. Denn seit 2011 der Krieg ausbrach, stand Iran fest an der Seite des Assad-Regimes, das bei vielen Sy­re­r*in­nen – besonders bei den Aufständischen und Vertriebenen in Idlib – verhasst ist. Teheran unterstützte das Regime mit Waffen und Truppen, um die Revolution niederzuschlagen, iranischen Streitkräfte bombardierten Zi­vi­lis­t*in­nen und verübten zahlreiche Massaker.

„Ich wurde mit meiner Familie vor vier Jahren wegen der schweren Bombardierung unseres Dorfes vertrieben“, erzählt der 15-jährige Abdullah al-Fares, dessen Familie ursprünglich aus dem südlichen Umland von Aleppo kommt und der nun im Team Senegal spielt. „Ich blieb anderthalb Jahre lang im Lager, ohne eine Ausbildung zu erhalten. Dann öffnete die Schule. Aber das Leben im Lager ist schwierig. Wir haben keinen Platz zum Spielen und es mangelt an Essen.“

Für Kashkash, den Mitorganisator des Cups der Camps, ist eines der Hauptziele des Turniers, die Kinder zu bestärken, ihre Träume zu verwirklichen. Auch will er ihren Teamgeist wecken. Die Kinder sollen sich besser in die Gesellschaft einfügen und die Gelegenheit bekommen, zumindest für eine Zeit lang dem Vertriebenendasein und den Sorgen des Lagerlebens zu entfliehen.

Die Spiele in Idlib sollen noch bis zum letzten Tag der echten Weltmeisterschaft fortgesetzt werden. Wenn in Katar am 18. Dezember die Finalisten gegeneinander antreten, werden auch in Idlib nur noch die beiden besten Kindermannschaften übrig sein. Das Finale soll nicht im Stadion von Idlib-Stadt ausgetragen werden, sondern direkt vor Ort in einem der Flüchtlingslager, um die Situation der Lagerkinder in den Mittelpunkt zu rücken.

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