Prozessauftakt in Berlin: War es Antisemitismus?
In Berlin hat der Prozess zum brutalen Angriff auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira begonnen. Der Angeklagte gesteht.
Mit solchen teils absurden Szenen begann am Dienstag in Berlin der Prozess zum brutalen Angriff auf Shapira, der im Februar 2024 bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. Shapira ist Jude und setzt sich gegen Antisemitismus ein. Die Tat gegen ihn war der traurige Höhepunkt einer ganzen Kette von antisemitischen Vorfällen im Zusammenhang mit Protesten gegen das israelische Vorgehen in Gaza. Entsprechend groß war am Dienstag das Medieninteresse, auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, war vor Ort im Amtsgericht Tiergarten.
Außer Frage steht schon jetzt, dass es A. war, der Shapira nach dem Besuch einer Bar in Berlin-Mitte erst schlug und ihm noch ins Gesicht trat, als er schon am Boden lag. Zur Folge hatte das nicht nur diverse Brüche im Gesicht, sondern auch eine Hirnblutung. Gleich am Anfang des Prozesstages lässt A. seinen Verteidiger eine Einlassung verlesen, in der er das zugibt und sich entschuldigt.
Eines aber will der 24-Jährige nicht gelten lassen: dass er aus antisemitischen Motiven handelte. Genau die sieht aber die Staatsanwaltschaft bei ihm. Antisemitismus ist zwar kein eigenes Delikt, die Anklage gegen A. lautet auf gefährliche Körperverletzung. Das Motiv kann aber straferschwerend wirken und etwa Bewährungsstrafen ausschließen. Allerdings ist Antisemitismus schwer nachzuweisen, Staatsanwalt Tim Kaufmann spricht von „Puzzlearbeit“.
Diskussionen in Whatsapp-Gruppen
Beim Vorlauf der Tat spielte Hass auf Israel jedenfalls eine wichtige Rolle. Ursprünglicher Auslöser war eine Rangelei bei einer propalästinensischen Hörsaalbesetzung an der Freien Universität (FU) Berlin. Shapira, der dort wie der Angeklagte studierte, riss Plakate antisemitischer Gruppen ab. Anschließend begannen Unbekannte online eine antisemitische Hetzjagd gegen ihn. Fotos von ihm wurden verbreitet, dazu die Behauptung, er sei ein rechtsextremer Zionist, dem es um Zerstörung gehe.
Das heizte offenbar auch bestehende Konflikte in verschiedenen Whatsapp-Gruppen für Studierende an, in denen sowohl Shapira als auch A. aktiv waren. A., der palästinensische Wurzeln hat, diskutierte hier regelmäßig mit Shapira über den Umgang mit Posts zum Nahostkonflikt, ohne dass sich die beiden jemals begegnet waren. Zunächst war der Ton entspannt, wie Screenshots beweisen, die am Dienstag vor Gericht gezeigt wurden. Nach der Hörsaalbesetzung, bei der Shapira die Plakate abriss, wurde der Ton dann rauer.
Zur Tat selbst kam es, als A. einige Tage später zufällig Shapira in einer Bar begegnete, ihn erkannte und ihm folgte, als er zusammen mit einer Freundin eine Bar verließ. Was in den nächsten Sekunden geschah, ist neben dem Motiv der zweite Aspekt, der trotz Geständnis unklar ist. In seiner Einlassung berichtet A. von einem Streit über die abgerissenen Plakate und provokanten Fragen, die Shapira gestellt habe. „Ein Wort ergab das andere“, dann sei es bei ihm zu einer „Kurzschlussreaktion“ gekommen. Shapira wiederum berichtet im Zeugenstand von praktisch unmittelbarer Gewalt ohne vorangegangenen Streit. Stützende Aussagen anderer Zeug*innen gibt es für beide Versionen.
Worüber sich alle Zeug*innen dagegen einig sind, ist die Brutalität des Angriffs. Eine junge Frau, die zufällig anwesend war, berichtet von einem „dumpfen Knirschen“, als der Tritt Shapiras Gesicht traf. A. macht bis heute Kampfsport und sagte vor Gericht, er habe seine Kraft unterschätzt. Ein anderer Augenzeuge berichtet von Blut, das meterweit gespritzt sei. Shapira selbst listet etliche Operationen auf, denen er sich unterziehen musste, berichtet von Metallplatten zur Gesichtsrekonstruktion und monatelangem Schlafen im Sitzen, das ihm die Ärzt*innen verordnet hatten. Bis heute ist er mit Personenschützern unterwegs.
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