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Prozessauftakt in BerlinWar es Antisemitismus?

In Berlin hat der Prozess zum brutalen Angriff auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira begonnen. Der Angeklagte gesteht.

Lahav Shapira auf dem Weg zum Gerichtssaal am 8. April 2025 Foto: REUTERS/Lisi Niesner

Berlin taz | „Sie können das mitnehmen.“ Der Verteidiger von Mustafa A. hantiert mit einem braunen Umschlag, der, so sagt er es, 5.500 Euro enthält. Schmerzensgeld „in cash“. Ungläubiges Lachen im Saal. Das, was der Jurist da vorschlägt, ist der Versuch, in letzter Sekunde doch noch zu einem Täter-Opfer-Ausgleich zu kommen. Gerichtet ist er an Lahav Shapira, der im Zeugenstand sitzt und Nebenkläger im Prozess gegen A. ist. Shapira lehnt ab.

Mit solchen teils absurden Szenen begann am Dienstag in Berlin der Prozess zum brutalen Angriff auf Shapira, der im Februar 2024 bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. Shapira ist Jude und setzt sich gegen Anti­semitismus ein. Die Tat gegen ihn war der traurige Höhepunkt einer ganzen Kette von antisemitischen Vorfällen im Zusammenhang mit Protesten gegen das israelische Vorgehen in Gaza. Entsprechend groß war am Dienstag das Medien­interesse, auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, war vor Ort im Amtsgericht Tiergarten.

Außer Frage steht schon jetzt, dass es A. war, der Shapira nach dem Besuch einer Bar in Berlin-Mitte erst schlug und ihm noch ins Gesicht trat, als er schon am Boden lag. Zur Folge hatte das nicht nur diverse Brüche im Gesicht, sondern auch eine Hirnblutung. Gleich am Anfang des Prozesstages lässt A. seinen Verteidiger eine Einlassung verlesen, in der er das zugibt und sich entschuldigt.

Eines aber will der 24-Jährige nicht gelten lassen: dass er aus antisemitischen Motiven handelte. Genau die sieht aber die Staatsanwaltschaft bei ihm. Antisemitismus ist zwar kein eigenes Delikt, die Anklage gegen A. lautet auf gefährliche Körperverletzung. Das Motiv kann aber straferschwerend wirken und etwa Bewährungsstrafen ausschließen. Allerdings ist Antisemitismus schwer nachzuweisen, Staatsanwalt Tim Kaufmann spricht von „Puzzlearbeit“.

Diskussionen in Whatsapp-Gruppen

Beim Vorlauf der Tat spielte Hass auf Israel jedenfalls eine wichtige Rolle. Ursprünglicher Auslöser war eine Rangelei bei einer propalästinensischen Hörsaalbesetzung an der Freien Universität (FU) Berlin. Shapira, der dort wie der Angeklagte studierte, riss Plakate antisemitischer Gruppen ab. Anschließend begannen Unbekannte online eine antisemitische Hetzjagd gegen ihn. Fotos von ihm wurden verbreitet, dazu die Behauptung, er sei ein rechts­extremer Zionist, dem es um Zerstörung gehe.

Das heizte offenbar auch bestehende Konflikte in verschiedenen Whatsapp-Gruppen für Studierende an, in denen sowohl Shapira als auch A. aktiv waren. A., der palästinensische Wurzeln hat, diskutierte hier regelmäßig mit Shapira über den Umgang mit Posts zum Nahostkonflikt, ohne dass sich die beiden jemals begegnet waren. Zunächst war der Ton entspannt, wie Screenshots beweisen, die am Dienstag vor Gericht gezeigt wurden. Nach der Hörsaalbesetzung, bei der Shapira die Plakate abriss, wurde der Ton dann rauer.

Zur Tat selbst kam es, als A. einige Tage später zufällig Shapira in einer Bar begegnete, ihn erkannte und ihm folgte, als er zusammen mit einer Freundin eine Bar verließ. Was in den nächsten Sekunden geschah, ist neben dem Motiv der zweite Aspekt, der trotz Geständnis unklar ist. In seiner Einlassung berichtet A. von einem Streit über die abgerissenen Plakate und provokanten Fragen, die Shapira gestellt habe. „Ein Wort ergab das andere“, dann sei es bei ihm zu einer „Kurzschlussreaktion“ gekommen. Shapira wiederum berichtet im Zeugenstand von praktisch unmittelbarer Gewalt ohne vorangegangenen Streit. Stützende Aussagen anderer Zeu­g*in­nen gibt es für beide Versionen.

Worüber sich alle Zeu­g*in­nen dagegen einig sind, ist die Brutalität des Angriffs. Eine junge Frau, die zufällig anwesend war, berichtet von einem „dumpfen Knirschen“, als der Tritt Shapiras Gesicht traf. A. macht bis heute Kampfsport und sagte vor Gericht, er habe seine Kraft unterschätzt. Ein anderer Augenzeuge berichtet von Blut, das meterweit gespritzt sei. Shapira selbst listet etliche Operationen auf, denen er sich unterziehen musste, berichtet von Metallplatten zur Gesichtsrekonstruktion und monatelangem Schlafen im Sitzen, das ihm die Ärzt*in­nen verordnet hatten. Bis heute ist er mit Personenschützern unterwegs.

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10 Kommentare

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  • Der mutmaßliche Täter tut aus seiner Sicht gut daran, das Motiv "Antisemitismus" zu leugen:

    Lt. DIE ZEIT hat auch "Der Vorsitzende Richter Sahin Sezer kündigte an, sollte kein antisemitisches Motiv vorliegen, könnte es im Fall einer Verurteilung bei einer Bewährungsstrafe bleiben. Das Strafmaß für gefährliche Körperverletzung beträgt sechs Monate bis zehn Jahre."



    (Quelle: Absatzüberschrift "Motiv ist entscheidend", 2. Absatz.



    www.zeit.de/gesell...verletzung-berlin)

    Gut finde ich, dass der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung vor Ort war und der mutmaßliche Täter vorerst Abstand davon genommen hat, Lehrer werden zu wollen.

  • Ein Kampfsportler trainiert was noch mal genau? Das Zusammenschlagen von Personen? Oder den Kampf gegen andere Kampfsportler?

    Ein Kampfsportler weiß, was der Tritt gegen den Kopf bedeutet. Ich bin gespannt, was das Gericht daraus macht.

  • Bei jemanden, der einer Person, die er bereits zu Boden geschlagen hat, auch noch ins Gesicht tritt, über Bewährung auch nur nachzudenken, was ja scheinbar getan wird, sollte Antisemitismus nicht zu 100 % nachgewiesen werden können, finde ich vollkommen abwegig.



    Die Strafe muss so ausfallen, dass es Täter richtig spürt, heißt es darf auch gerne massive Auswirkungen auf seine zukünftige Berufswahl haben. Ich weiß nicht, was dieser Herr studiert. Wirklich auf Lehramt? Naja, umso mehr ist darauf zu achten, dass so eine Person niemals vor Schülern steht.

  • Wie jetzt herauskommt - der Mann ist erfahrener Kampfsportler mit Wettkampferfahrung und behauptet gleichzeitig, er hätte keine Ahnung, was seine Schläge und Tritte anrichten können. Der Spiegel berichtet, in den Erläuterungen seines Anwalts zur Person wären unter Hobbys und Beschäftigungen Fußball und Sachbücher lesen aufgelistet gewesen, ohne jede Erwähnung dieses kleinen Nebeninteresses. Das ist doch ein Witz. Und die Funde auf seinem Handy hätte die taz auch gerne erwähnen können.

  • Der Angreifer gab allen Erstes vor Gericht an, er habe sich über den Ton einer Textnachricht geärgert mit den Worten "Das widerstrebt meinem Bild vom fairen Miteinander" und tritt dann einer am Boden liegenden Person gegen den Kopf. Da fällt einem wirklich nicht viel zu ein außer wie kann so jemand ausgerechnet auf Lehramt studieren. Vielleicht kann ja jemand einem juritischen Laien erklären warum das bei einem Kampfsportler dann nicht als Mordversuch gewertet wird sondern nur als Körperverletzung. Das Angebot von Cash im Prozess hätte ich als Betroffener nur als weiteren Akt des Antisemitismus aufgefasst.

    • @Šarru-kīnu:

      Wenn überhaupt wäre es versuchter Totschlag in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung.

      Maßgeblich für die Anklage auf versuchter Totschlag ist neben dem Vorsatz der sogenannte Rücktrittshorizont. Dabei ist zu klären, ob der Angeklagte vom Versuch des Totschlags gemäß § 24 I StGB strafbefreiend zurückgetreten ist. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt.

      Anders könnte es verlaufen, wenn er lediglich durch das Einschreiten von Dritten an der weiteren Ausführung der Tat gehindert wurde. Das könnte dann auf eine Tatabsicht schließen lassen, den versuchten Totschlag zu beenden.

      Diese Details sind dem Artikel aber nicht zu entnehmen und daher belasse ich es in aller Kürze bei dieser einführenden Erläuterung.

      • @Sam Spade:

        Der Rücktritt von der Tat des "Voraus"Trittes gegen den Kopf soll sich daraus ergeben, dass der KopfTreter



        seinen Fuß nach dem Tritt zurück gezogen hat.

        Wer so argumentiert, kann nur Jura studieren, um



        Winkel-Advokat-Strafverteidiger zu werden.

    • @Šarru-kīnu:

      Naja für einen Mordversuch müssen Mordmerkmale (Habgier, Heimtücke, Grausamkeit...) erfüllt sein, und für Totschlag zumindest eine Tötungsabsicht nachweisbar, sonst ist es ggf. eine körperverletzung mit Todesfolge.



      Das wird vom viel gelobten Rechtsstaat allerdings genutzt, um Anklagen recht beliebig zu verbiegen. Bei Straftaten gegen Beamte wird dann zum Beispiel zu Grunde gelegt, dass man die Tötung in kauf genommen hat, ähnlich absurde Argumentationen wurden auch schon gegen Raser angewandt.



      Im Gegensatz dazu ist es plötzlich kein Mord wenn der mordende Raser ein Bulle ist, wie jener der in Berlin Fabien am Alexanderplatz tötete. Es gibt auch Fälle in denen Nazis zum Beispiel mit dem Auto in eine Demo fahren oder auf Leute einstechen, da stellen sich Staatsanwälte und Gerichte gern hin und können keine Tötungsabsicht erkennen. Wie soll man denn Beweisen, dass man jemanden mit fünf Messerstichen töten möchte? Ein Ding der Unmöglichkeit.



      Zusammengefasst kann man wohl sagen, dass sich Gerichte oft an persönlichen Interessen orientieren, statt die Taten und ihre möglichen Folgen zu bewerten.

      • @Genosse Luzifer:

        Das sieht in der Praxis doch etwas anders aus, als aus ihrer subjektiven Warte betrachtet.

        Einzelne Urteile mögen für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar sein und eine gewisse Diskrepanz in der Strafverfolgung gerade bei politisch motivierten Straftaten ist nicht von der Hand zu weisen, der Großteil der Verfahren wird aber objektiv und nach hohen rechtsstaatlichen Maßstäben durchgeführt.

        Fernab aller Verschwörungstheorien ist die Justiz intakt und die Gewaltenteilung funktioniert.

        Anstatt Gerichten persönliche Interessen in Verfahren zu unterstellen, sollten sie froh sein in einem funktionierenden Rechtsstaat zu leben und bei Gelegenheit einmal einen Blick über den Tellerrand werfen.

        Hierzulande jedenfalls sind ihnen ihre persönlichen Rechte garantiert und bei Verletzung haben sie die Möglichkeit diese einzuklagen. Das ist nicht in allen Gegenden dieser Welt selbstverständlich, auch nicht in Europa.

  • Lesenswert ist das Interview mit Lahav Shapira im Tagesspiegel. Leider ist es gestern hinter die Paywall verschoben worden.