Protokolle nach Hanau: Wut. Trauer. Mut
Eine Woche nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau bleibt die Frage: Was können wir tun? Elf Protokolle.
Mein Sohn soll nicht umsonst gestorben sein, sagt die Mutter von Ferhat Unvar, der in Hanau ermordet wurde. Leider wird es so sein. Er ist umsonst gestorben. Genau wie alle anderen. Sie, ihr Sohn und alle anderen gehören nicht zu Deutschland, wie Bundesinnenminister Seehofer vor zwei Jahren verkündete. Die Migration sei die Mutter aller Probleme und der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Damit gehören sie und ihr Sohn genauso wenig wie ich zu Deutschland. Von einer „Zäsur“ wird nur gesprochen, wenn Biodeutsche getötet werden. Nicht die Höckes und Konsorten sind unser Problem. Wer als Innenminister einer wohlgemerkt christlichen Partei, der für die innere Sicherheit in diesem Land und damit für die Sicherheit aller Bürger in diesem Land verantwortlich ist, so etwas sagt, braucht sich nicht zu wundern, wenn andere den Abzug drücken.
Taten statt Worte haben schon die NSU-Terroristen propagiert. Der Islam und damit die „Ausländer“ gehören nicht hierher. Schließlich geht es hier um den Erhalt der Deutschen Nation. Es wird alles beim Alten bleiben. Ein paar Tage Trauer, die Fahnen auf halbmast, alles bleibt, wie es ist. Es wird nicht besser. Es wird schlimmer. Es kommen die nächsten Seehofers, die den Rechtsradikalismus mit der Thematisierung der Clankriminalität bekämpfen wollen. Schon wieder sind es die „Ausländer“, die schuld daran sind, dass es Rechtsradikalismus in Deutschland gibt. Wer erklärt dieser Mutter, dass ihr Sohn umsonst gestorben ist?
Seda Başay-Yildiz, NSU-Nebenklageanwältin, Frankfurt
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Hätte ein islamistischer Terrorist in Deutschland zehn Menschen erschossen, weil er gegen „Ungläubige“ vorgehen wollte, hätte es – völlig zu Recht – einen Aufschrei gegeben, der wochenlang nachhallt. Aber nach dem Terror von Hanau? Schnell ist Normalität eingekehrt. Kein Mensch ist auf die Idee gekommen, Karneval ausfallen zu lassen. Und hat irgendjemand eigentlich etwas über die Beerdigungen der Opfer gelesen? Kann wenigstens einen Namen der Ermordeten nennen? Mich erstaunt das nicht.
Das ist kein neues Gefühl, dass Menschen, die braune oder schwarze Haut haben oder die einen fremd klingenden Namen tragen, in dieser Gesellschaft weniger wert sind. Wenn sie wegen genau dieser Eigenschaften ermordet werden, ist es anscheinend weniger schlimm. Politiker wie Friedrich Merz von der CDU vermitteln in dieser Lage allen Ernstes, am Rechtsextremismus seien letztlich die Ausländer selbst schuld. So wie CSU-Politiker Horst Seehofer behauptete, Migration sei „die Mutter aller Probleme“.
So wie der CDU-Mann Heinrich Lummer, als Anfang der Neunzigerjahre Flüchtlingsheime brannten und Menschen ermordet wurden, erklärte: „Ich warne vor einer Überfremdung Deutschlands!“ All das ist inakzeptabel. Wie wird es weitergehen in Deutschland? Wir werden uns wehren, immer wieder, mit Worten und allen demokratischen und juristischen Mitteln. Wir müssen noch viel lauter werden.
Hasnain Kazim, Autor, Wien
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Das Attentat in Hanau erschüttert zahllose Menschen in Deutschland. Scheinbar aus dem Nichts wurden Menschen mitten aus dem Leben gerissen, plötzlich, sinnlos, unbegreiflich. Den Zusammenbruch all dessen, was wir für sicher und stabil in unserem Leben halten, müssen die Angehörigen nun ertragen. Und wir müssen uns fragen, was können und was müssen wir tun, damit nicht noch mehr unschuldige Menschen mitten aus unserer Gesellschaft, mitten im Alltag, mitten unter uns ermordet werden?
Das Waffengesetz in Deutschland ist eines der restriktivsten der Welt. Was versäumen wir? Offensichtlich geht es um die Vernetzung von Informationen, denn der mutmaßliche Täter war als Waffenbesitzer bekannt und er war ebenso als psychisch belastet auffällig geworden, als er Anzeige, gegen eine imaginäre Geheimdienstorganisation stellte. Die Zusammenführung der Informationen hätte zum sofortigen Entzug der Berechtigung zum Besitz von Schusswaffen geführt.
Neben dieser Vernetzung ist eine obligatorische psychologische Begutachtung von Waffenbesitzern, wie sie als Antrag 2017 bei der Revision der EU Feuerwaffenrichtlinie vorlag und abgewiesen wurde, sinnvoll. Im Leben eines jeden Menschen kann es Entwicklungen geben, die ihn aus der Bahn werfen. Der Besitz einer Schusswaffe kann in einer solchen Situation fatale Folgen haben.
Gisela Mayer, Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden
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Der Terroranschlag in Hanau hat nicht überrascht, aber geschockt. Es hat Menschen getroffen, die meine Geschwister hätten sein können. Meine Geschwister waren am Samstag wieder in einer Shishabar. Meine Schwester sagt am Telefon, wir sind immer in die Shishabar gegangen. Wir werden es auch weiterhin tun.
Vor rechtem Terror können wir uns nicht selber schützen. Nur die Sicherheitsbehörden können das, die Zivilgesellschaft kann das, die Politik kann das. Die Sicherheitsbehörden, in dem sie ihrer Pflicht nachkommen, alle Menschen zu schützen, und mit der Entnazifizierung in den eigenen Reihen und Köpfen beginnt. Die Zivilgesellschaft, in dem sie rechter Ideologie keinen Quadratzentimeter Boden einräumt, in dem sie sich als antifaschistisch versteht. Und die Politik, die ein verschärftes Waffenrecht durchsetzt, erwirkt, dass die NSU-Akten geöffnet werden, die Förderung für zivilgesellschaftliche Projekte sicherstellt, keine Kompromisse mit der AfD eingeht und Rassismus benennt.
Ronya Othmann, Autorin, München
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Der Anschlag in Hanau kam nicht unerwartet. Erst kurze Zeit vorher ist ein Nazi-Terrornetzwerk von der Polizei hochgenommen worden. Die formulierten Ziele der Neonazis waren Terroranschläge auf die muslimische Minderheit des Landes, um dadurch Bürgerkriegszustände herzustellen. Dieses Wissen führt nicht dazu, dass es einem weniger das Herz zerreißt, dass diese unschuldigen Menschen sterben mussten. Die Trauer, die sich jetzt in ihren Familien ausbreitet, muss unermesslich sein. Schlimm waren auch Relativierungsversuche in den sozialen Medien und anderswo.
Dass es einen hundertprozentigen Schutz nun einmal nicht gebe, usw. Eine solche Aussage macht es sich zu einfach. Niemand fragt hier nach dem Unsterblichkeitskraut. Es geht um menschenrechtliche Schutzpflichten des Staates, die eingehalten werden müssen, auch wenn das nicht zu einem absoluten Schutz führen kann. Dazu gehört: dass der Staat keine Ressourcen scheut, den NSU-Komplex vollständig aufzulösen, alle Netzwerke von Nazis zu identifizieren und wirksame Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Bisher blieben die Mahnungen von Betroffenen und Opferanwälten ungehört. Auch nach innen hin muss der Staat aktiv werden und in den eigenen Behörden, insbesondere im Sicherheitsapparat die Verbindung zu Nazistrukturen mit einer Null-Toleranz-Linie eliminieren, also eine Entnazifizierung 2.0. durchführen.
Die Generalbundesanwaltschaft sollte Rechenschaft darüber ablegen, wie sie mit den Informationen aus dem Brief umgegangen ist, den der Attentäter aus Hanau vorab dort eingesandt hat. Darüber hinaus sollte der Staat einen wirksamen, zugänglichen und schnell handelnden Beschwerdemechanismus für die Angehörigen der Opfer einrichten. Für potenziell Betroffene sollte es eine Meldestelle geben, wo sie bei Verdacht auf Verfolgung sofort Schutz finden können.
Deniz Utlu, Schriftsteller, Berlin
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Was heißt es, mit einer Narbe, dem Verlust eines Bruders, eines Sohnes, eines Mannes zu leben? Ich habe 2004 den Nagelbombenanschlag in Köln miterlebt, habe jahrelang den NSU-Prozess mitgemacht und wurde wie mein Mann beschuldigt: Bandenkrieg oder Zuhälterei oder irgendetwas anderes. Rassismus ausgeschlossen. Mein Sohn hat seinen Vater mit sieben Jahren unter die Erde gelegt. Deutschland, du hast in Bezug auf Rassismus versagt! Wir sind hier geboren, wir haben einen deutschen Pass, wir reden deutsch, wir halten uns an Gesetze. Aber das hat euch nicht gereicht.
Wenn ihr Integration wollt, beherrscht erst einmal unsere Namen und unsere Geschichten. Vorher seid ihr keine Deutschen. Die Morde und Anschläge passieren in eurem Land. Das gehört zu eurer Geschichte. Was ihr als Trauer bezeichnet, ist eine tiefe Narbe, die wir im Herzen haben, die ihr zwei Tage lang lebt, indem ihr Kerzen anzündet. Ich bitte euch, die Familien der Opfer in Hanau nicht nur bei Trauerveranstaltungen zu unterstützen. Ich bitte euch, eure Kinder so zu erziehen, dass sie nicht irgendwann einmal Akten wegschließen.
Candan Özer Yılmaz, Witwe von Atilla Özer, der 2004 beim rassistischen Nagelbombenanschlag des NSU in einem Friseurladen in der Kölner Keupstraße schwer verletzt wurde und später starb.
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Als klar wurde, was in Hanau passiert ist, war mein erster Gedanke: Jetzt ist es wieder passiert. Wochen vor der Tat habe ich mich mit anderen über die Stimmung in Deutschland unterhalten. Überall war das Gefühl: Es wird bald wieder etwas passieren, wir wissen nur nicht, wo. Nun ist es Hanau. Mich lässt nicht los, dass es die Kinder und Enkel der Zugewanderten und Gastarbeiter getroffen hat. Ich hatte nach dem Auffliegen des NSU mal eine Lesung, da kam ein Mann zu mir, der sagte, er sei nach Deutschland gekommen, damit seine Kinder hier eine bessere Zukunft hätten, und nun gingen seine Kinder zurück in die Türkei, um diese bessere Zukunft dort zu suchen. Da bricht gerade etwas zusammen: das Gefühl, hier geschützt und Teil der Gesellschaft zu sein. Ich sage in meinem Wahlkreis immer: Wendet euch an die Behörden, wenn es Probleme gibt, die sorgen für euch. Jetzt gibt es Momente, an denen ich zweifle, ob das so noch stimmt.
Ich selber habe nie erwogen, Deutschland zu verlassen, das ist keine Option. Hier ist mein Kind geboren, hier ist mein Freundeskreis, mein Lebensmittelpunkt. Ich bleibe da, wo ich bin. Ich mache mich jetzt noch breiter, lasse mir keine Räume nehmen. Das Oberste ist jetzt, dass der Staat uns schützt, und zwar alle. Dass er Rassismus wirklich wirksam entgegentritt. Und dann müssen wir uns über unsere Zukunft austauschen: Wie wollen wir miteinander leben? Da, wo etwa die AfD zu spalten sucht, da muss uns das Einende gelingen. Es ist genau die Umvolkungsideologie dieser Partei, die kranke Menschen wie in Hanau zur Tat schreiten lässt. Als ob mein deutschtürkisches Kind Teil eines Geheimplans wäre, Deutschland zu unterwandern – wie absurd und niederträchtig! Wir müssen diese Partei endlich konsequent ausgrenzen.
Canan Bayram, Grünen-Abgeordnete, Berlin-Kreuzberg
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Hanau hat etwas in mir verändert. Ich habe mich bislang in der Öffentlichkeit immer als „Migrantin undercover“ gefühlt. Ich heiße Julia Wasenmüller. Dass meine Familie aus Kasachstan kommt und wir in die Kategorie „Russlanddeutsche“ fallen, sieht man mir nicht an. Ich bin weiß. Am Tag des Anschlags in Hanau habe ich mich gefragt, wie ich meine BIPOC-Freund*innen unterstützen kann, wo ich nicht die erste Zielscheibe rechter Gewalt bin und überall als Kartoffel durchgehe. Ein Bild-Reporter nahm noch in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ein Video vor einer der Shishabars in Hanau auf und spricht von einer „Milieutat“. Diesmal sollen es „die Russen“ gewesen sein.
Klar, Migrant*innen morden mal wieder unter sich. Die Nachricht macht mich wütend. Am Freitag lese ich, dass am Donnerstagnachmittag, also ein Tag nach Hanau, in Berlin-Schmargendorf ein Typ mit Nazitattoos und Luftdruckgewehr vor der Brust in einen russischen Supermarkt lief. Die Polizei erkennt kein politisches Tatmotiv. Ich schreibe meinen Freund*innen mit PostOst-Background. Maksim antwortet, dass er vor unserem letzten Treffen in diesem Supermarkt eingekauft hat. Ich muss schlucken. Plötzlich fühlt sich das alles ziemlich nah an. Die meisten Menschen in meiner Familie sprechen kein perfektes Deutsch und heißen Olga, Viktor oder Vitali. Hanau trifft uns alle, die wir von Nazis als „anders“ markiert werden.
Julia Wasenmüller, Social-Media-Redakteurin bei der taz
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Als ich am Donnerstag beim Frühstück saß und im Radio von neun Ermordeten in Hanau hörte, war ich entsetzt. Doch als kurz danach die rassistischen Motive des Täters bekannt wurden, traten zur Trauer bald auch Wut und Frustration hinzu: Wären diese Morde zu verhindern gewesen, wenn der Staat früher und entschlossener gegen Rassismus und die Bedrohung durch rechten Terror vorgegangen wäre? Als Bildungsstätte Anne Frank hatten wir erst wenige Tage zuvor darauf hingewiesen, wie gering uns der Aufschrei über die enttarnte Terrorgruppe S. erschien.
Die Bedrohung von rechts muss endlich ernst genommen werden. Wir brauchen keine Schnellschüsse, sondern eine neue Strategie: Eine koordinierte Zusammenarbeit des Staats und der Zivilgesellschaft. Ist die Politik jetzt bereit, die Versäumnisse der Vergangenheit anzuerkennen und entschlossen zu handeln? Wahrscheinlicher ist, dass auch dieser Terroranschlag wie seine Vorgänger ganz schnell ad acta gelegt wird. Und beim nächsten rechten Anschlag werden wir wieder Floskeln wie „Tragödie“ und „Alarmsignal“ zu hören bekommen.
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank
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Was empfinde ich nach dem rassistischen Anschlag von Hanau? Trauer. Mitgefühl. Mitleid. Wütende Entschlossenheit. Keine blinde Wut. Gerechte Wut nennt man das biblisch. Darüber, dass ausgerechnet in Deutschland jeden Tag Menschen rassistisch und antisemitisch beleidigt, angegriffen, getötet werden. Müsste Deutschland nicht das weltweite Vorbild darin sein, Rechtsextremismus zu ächten und zu bekämpfen? Kann das Grauen der Schoah nach gerade mal drei Generationen vergessen sein?
Der Glaube daran, dass Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft „nie wieder“ Platz haben werde, ist schon lange verflogen. Ich möchte von allen Politiker*innen hören, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ich möchte im Fernsehen nicht mit rechtsextremen Positionen konfrontiert werden. Ich möchte, dass jemand, der das Dritte Reich als „Vogelschiss“ bezeichnet, rechtliche Konsequenzen trägt. Ich möchte, dass nicht nur von Rassismus und Antisemitismus Betroffene sich dagegen stellen. Ich möchte, dass nach Hanau alle Menschen in Deutschland wütend entschlossen sind.
Gilda Sahebi, Politikwissenschaftlerin und Journalistin
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Meine eine ersten Gefühle nach Hanau: Angst, Ohnmacht, Wut. Was passiert, wenn Deutschland kippt? Wohin gehen wir? Es reicht, dachte ich mir, dass Rassismus kleingeredet und immer wieder von Fremdenfeindlichkeit gesprochen wird. Es reicht, dass ein Ali es schwerer hat als ein Thomas, eine Wohnung zu bekommen. Es reicht, dass eine Fatma mit Kopftuch sich viermal mehr als eine Anna bewerben muss, um bei gleicher Qualifikation zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Es reicht, dass wir bei Angriffen auf PoCs, die täglich stattfinden, direkt zur Tagesordnung übergehen.
Ich selbst erhalte immer wieder Morddrohungen, stehe auf Todeslisten, bekomme Polizeischutz, erlebe Hass und Hetze von rechts wie nie zuvor in meinem Leben. Rassismus ist in unserem Land heute keine Ausnahme, Rassismus ist für viele Menschen Alltag. Manch eine Kopftuch- oder Leitkulturdebatte, manch eine Äußerung über Migration und Flüchtlinge, über Clans und Shishabars – und damit meine ich insbesondere, aber nicht nur die AfD – haben den Boden dafür bereitet, indem sie Deutschland in ein „wir“ und ein „die“ eingeteilt haben.
Spaltung beginnt in den Köpfen und setzt sich in Bestsellern, Kommentarspalten und Tweets fort. Und wer dann nur noch mit Gleichgesinnten in der eigenen Blase kommuniziert, da ist es kein großer Schritt mehr hin zur Radikalisierung. Und dann können aus dem Hass auf Migranten, auf Muslime, auf Flüchtlinge, der in den letzten Jahren massiv befeuert wurde, auch schreckliche Taten werden. Hanau steht dafür beispielhaft.
Fakt ist aber auch: Wir können nicht bei Ohnmacht, Wut und Angst stehen bleiben. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschland muss es für uns Demokraten heißen: Jetzt erst recht. Wir überlassen den Hatern dieses Land nicht. Dafür brauchen wir vieles. Als Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement setze ich mich dafür ein, die Zivilgesellschaft in ihrem Einsatz gegen rechts und für Demokratie zu stärken, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dieses Engagement sich besser entfalten kann.
Ich kämpfe dafür, dass zivilgesellschaftliches Engagement einen höheren Stellenwert in der Politik findet und als das anerkannt wird, was es ist: nämlich Bollwerk und Betriebssystem für unsere Demokratie. Denn wohin schweigende Mehrheiten führen, wissen wir in Deutschland. Ich setze mich dafür ein, dass Antisemitismus und Rassismus nicht immer weiter um sich greifen. Auch gehört für mich dazu, dass wir uns endlich mit dem Phänomen des antimuslimischen Rassismus auseinandersetzen.
Wir wollen und wir können nach dem NSU, nach Kassel, nach Halle, nach Hanau nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir, die taz, können Rassismus, rassistischen Hass und Mord nicht als deutsche Normalität im Jahr 2020 hinnehmen. Wir brauchen jetzt Ideen, Taten, Gesetze, all das. Und eine gesellschaftliche Umkehr. Nicht weniger.
Das Thema gehört – endlich – auf die Agenda der Bundespolitik. In vielen Gesprächen mit Abgeordneten quer durch die demokratischen Parteien und mit Regierungsvertretern spüre ich Zuspruch, zugleich aber auch große Vorsicht. Ich wünsche mir, dass jetzt endlich Mutige vorangehen, das Gespräch mit Fachleuten suchen und den Betroffenen signalisieren: Wir lassen euch nicht allein, sondern packen das Thema an.
Auf Landesebene haben wir schon einiges unternommen. Die Polizei ist wachsam. Moscheen werden geschützt. Es gibt Beratung für Betroffene und Projekte, die Mut machen. Gerade weil es so viele Engagierte, so vielfältiges muslimisches Leben und einen so großen Sachverstand in Berlin gibt, setze ich jetzt auch auf den nächsten Schritt: dass wir eine systematische Bestandsaufnahme machen und Handlungskonzepte erarbeiten.
Wir müssen uns vor allem fragen: Wie können wir eine übergreifende Allianz aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung schmieden, um diese schreckliche Spaltung in „die“ und „wir“ zu überwinden, um gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten? Die Angriffe auf die Demokratie laufen weltweit. Das bedeutet, wir brauchen eine globale Strategie, um sie abzuwehren. Als Staatssekretärin für Internationales trete ich dafür ein, dass wir Allianzen von Städten bilden im Kampf gegen die Feinde der Demokratie.
Ganz besonders mit den Städten, in denen die nationalen Regierungen die Räume der Zivilgesellschaft und ihre Grundrechte immer weiter einschränken. Bei allen Problemen und Herausforderungen, die es auch in der Hauptstadt gibt, bin ich dankbar und stolz darauf, dass Berlin ein Garant für Toleranz, Offenheit und Akzeptanz ist. Dass wir einen Innensenator haben, der mit der notwendigen Sensibilität in diesem Bereich agiert.
Seit dem Mord an Walter Lübcke ist insgesamt einiges auf den Weg gebracht worden im Kampf gegen Rechtsextremismus und Hass im Netz. Die Politik ist sensibilisiert. Es gibt ein neues Bewusstsein dafür, dass es so nicht mehr weitergehen kann und dass wir tiefergreifende Maßnahmen brauchen, um den Vormarsch der Rechtsterroristen zu stoppen. Ich bin ich zuversichtlich, dass es uns gelingt, das Klima der Angst zu überwinden und ein Stimmungswandel in unserem Land zu erreichen. Viele sind in den letzten Monaten aufgestanden. Lasst uns das Momentum nutzen!
Sawsan Chebli, Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei
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