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Proteste in LützerathVorteile der Bewegung

Gastkommentar von Alicia Mengelkamp

In Lützerath stießen mit Polizei und Pro­tes­tie­renden zwei unterschiedliche soziale Gruppen aufeinander. Eine organisationssoziologische Analyse.

Die Demonstranten stehen wenige Meter vor dem Absperrzaun vor Lützerath Foto: Roland Geisheimer/attenzione/focus

D ie Räumung Lützeraths ist vorbei; die Diskussion über das Geschehene allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders die medialen Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. Steine, die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen. Nicht nur Polizei und Po­li­ti­ke­r*in­nen verurteilten dies scharf. Videos in den sozialen Medien zeigen, dass auch Protestierende immer wieder „Keine Steine!“ riefen, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen.

Warum versuchten auch Protestierende aktiv, dies zu unterbinden? Für die Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen Fragwürdigkeit vor allem eines: die Gefahr, den eigenen Erfolg zu riskieren. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aktionen, die umstrittenes Handeln von Staat und Unternehmen skandalisieren und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität.

Alicia Mengelkamp

Alicia Mengelkamp (25) hat einen Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft. Sie studiert derzeit an der Uni Bielefeld im Master Organisationssoziologie und beschäftigt sich aktuell mit der Bewegungsforschung.

Prägen aber Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Ak­ti­vis­t*in­nen zu riskieren.

Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur.

Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftreten, haben gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil. Sie können verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man bei ihnen Mitglied ist, hat man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die Organisation zustimmt: Sie beinhalten, eigenes Handeln an den Zielen der Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen – selbst wenn also in Lützerath Po­li­zis­t*in­nen vor Ort waren, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben.

Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von Dienstverweigerung seitens der Po­li­zis­t*in­nen bekannt. Denn diese hätte für sie dienstrechtliche Sanktionen zur Folge.

Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend. Die Ak­ti­vis­t*in­nen waren dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen Führungspersonen vermutlich prägend – wenn die Protestierenden diese jedoch nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der Polizei. Die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitgliedern lediglich Anhänger des Protests.

Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests aussuchen – auch wenn sie sich ethisch fragwürdig verhielten, mussten sie nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der Räumung Lützeraths entgegensetzte. Und außerdem gab es keinen Sanktionshebel: Kei­n*e Ak­ti­vis­t*in konnte von der Protestbewegung selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz gab, die dies entscheiden konnte.

Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber Organisationen nahezu unbegrenzt, An­hän­ge­r*in­nen zu rekrutieren. Auch wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es, mehr Menschen als erwartet nach Lützerath zu bringen.

Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die die gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass die Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeiketten zu dem Tagebau vorzudringen, war deshalb wenig überraschend.

Weitere Begegnungen mit der Polizei

Anhänger der Protestbewegung versus Mitglieder der Polizei – wer hat gewonnen, und wie geht es weiter? Auf beiden Seiten gab es Verletzte; auch Vorwürfe, Gewalt ausgeübt zu haben, treffen beide Parteien. Dennoch ist das Kernziel der Polizei erreicht: Lützerath ist geräumt. Aber: Trotz schlechten Wetters waren Tausende mehr zu den Protesten gekommen, als allgemein erwartet wurde. Und Ak­ti­vis­t*in­nen setzen nun ihren Protest außerhalb von Lützerath an Kohlebaggern und Bahnschienen fort. Es wird also auch künftig weitere Aufeinandertreffen von Polizei und Ak­ti­vis­t*in­nen geben.

Und wer ist dann im Vorteil? Die unterschiedlichen Eigenschaften von Protestbewegungen und formalen Mitgliedern wie bei der Polizei werden bleiben. Die Polizei wird auch weiterhin Vorteile aufbieten können, wenn es um ein entschiedenes und einheitliches Auftreten geht. Aber auch die Protestierenden werden ihre Stärken halten können: Schnelles und eindrucksvolles Vorgehen kann für Überraschungen sorgen und die begrenzte Spontanität der Po­li­zis­t*in­nen strapazieren.

Nun liegt es an dem Umfang und der Art des Protests, inwieweit die Ak­ti­vis­t*in­nen in der Lage sind, mithilfe von störenden, aber friedlichen Aktionen weiter Aufmerksamkeit und Solidarität in der Bevölkerung zu sammeln und ihre Überzeugungen in der Gesellschaft so zu verankern, dass effektiver Druck auf politische Entscheidungen ausgeübt werden kann.

Alicia Mengelkamp, 25 Jahre, hat einen Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaft. Sie studiert derzeit an der Uni Bielefeld im Master Organisationssoziologie und beschäftigt sich aktuell mit der Bewegungsforschung.

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11 Kommentare

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  • Alicia - leider finde ich weder im Web noch hier eine Mailadresse von dir. Also muss dieser Kommentar taugen. Du beleuchtest meiner Meinung nach ein einziges Thema und deklinierst es den ganzen Artikel lang durch: Dass die Polizei als Organisation durch Mitgliedschaft und Sanktionen die Möglichkeit hat, geschlossener zu agieren als die offene Menge der Protestierenden. Welche Rolle spielt dieses Teil-Thema im Gesamtzusammenhang und in der Einschätzung der Verhältnisse? Meiner Meinung nach eine untergeordnete. Warst du mal auf solchen Protestaktionen? Das Wesentliche, finde ich, war immer: Die Protestierenden handeln aus Überzeugung, die Polizei aufgrund einer Dienstanweisung. Und damit ist auch schon gesagt, wer besagte "Vorteile" auf seiner Seite hat. Das anwesende Fußvolk der Polizei macht Dienst nach Vorschrift, nach Schicht und nach Einsatzplan. Null Eigenmotivation, tatsächlich etwas zu erreichen. Natürlich soll die Staatsmacht die jeweiligen Gesetze und getroffenen Entscheidungen durchsetzen und wird das letztendlich auch tun. Wem allerdings die Sympathien gehören, wird im Medialen entschieden: Was legitim ist, entscheiden wir alle. Schon bei der Atomkraft konnten die Protestierenden die Gesetzeslücken und Illegitimität der geltenden Regeln gut aufzeigen, in der Kohle-Frage jetzt ebenso.

  • Weil in Zeitknappheit kann ich den Artikel leider nur kurz "würdigen". Dabei hätte er aus meiner Sicht mehr verdient. Weil er für mich gedanklich sehr anregend ist. Er gibt mir wertvolle Hinweise, das Geschehen um Lüthzerat besser zu verstehen. Prima gelungen.

  • es ist immer dasselbe blah, blah, blah.

    protest hat nicht die aufgabe populär zu sein. protest muss eine notwendigkeit haben! die mittel sind dabei zweitrangig solange auch sie einer notwendig entbehren.

    "gewalt" (sollte zu erst definieret werden) beispielweise bei protesten ist kein selbstzweck. er bedingt ebenfalls einer notwendigkeit. gibt es diese nicht ist "gewalt" kein protest. gibt es allerdings die notwenigkeit wird auch die "gewalt" von dieser gedeckt und ist teil des protests.



    so einfach ist das.

  • Ich erinner mich an eine Demo, gegen das Feierverbot am 1. Mai,



    bei welchem auch Steine aus der Demo auf Polizisten flogen, aber zu 99% handelte es sich bei den Steinewerfern um zivile Polizisten, die sofort von der ortsansässigen Antifa "freigestellt" wurden und mit hunderten Fingern und Srechchören auf den Missstand aufmerksam gemacht wurde.



    Ich weiß es nicht, kann mir aber gut Vorstellen, dass auch in Lützi zivilbullen Steine schmissen, um Gewalt der eigenen Seite zu rechtfertigen. Wundern würde es mich auf jeden Fall nicht.

  • "selbst wenn also in Lützerath Po­li­zis­t*in­nen vor Ort waren, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben.

    Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. "

    Naja siehe Corona Protest was da zum teil die Polizei gemacht hat ;)

  • Kei­n*e Ak­ti­vis­t*in konnte von der Protestbewegung selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz gab, die dies entscheiden konnte.

    Das stimmt nicht. Es gibt/gab eine Awareness Struktur die Menschen bei Zuwiderhandlung zum Gruppenkonsens, des Ortes verweisen konnten.

    LG

  • Der letzte Absatz ist ganz interessant.

    Am Beispiel der sogenannten Letzten Generation ist ganz gut ersichtlich, dass nicht jede Aufmerksamkeit auch zu Solidarität in der Gesellschaft führt. Umfang und der Art des Protests sind in diesem zu hinterfragen.

    • @DiMa:

      nun will die Letzte Generation halt keine Sympathie sondern vor allem Aufmerksamkeit um jeden Preis, weil ihr Anliegen nunmal eilt.

      Solidarität erfahren auch diese durchaus... nur halt nicht von Menschen die glauben wir können das Klima retten und weiter so leben wie bissher. Das tut die Mehrheit aber.

      LG werden der Gesellschaft so lange auf die Nerven gehen, bis das verstanden wurde und gehandelt wird.

      Protest kann nicht immer nur Sympathie hervorrufen.

      MLK war der meistgehasste Mann Amerikas, als er noch lebte.

      Da war nichts mit "Solidarität" vor allem aus der "Mitte der Gesellschaft".

      Ganz ähnlich ist es nun bei der Klimabewegung, da gibt es nicht viel Sympathie, es sei denn diese ist handzam wie FFF.

      • @sociajizzm:

        Ich persönlich spreche in diesem Zusammenhang nicht von Sympathie sondern von Solidarität.

        Und Sie verwechseln zweierlei. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zwar für den Klimaschutz, jedoch lehnt die Mehrheit der Bevölkerung die Form des Protestes ab.

        Durch eine etwaige Fortsetzung oder Intensivierung des Protest wird dann immer mehr über den Protest selbst, nicht jedoch über das Klima debattiert. Diese Form der Aufmerksamkeit wird dadurch höchst kontraproduktiv, da die Aufmerksamkeit, die dem eingesetzten Mittel zu Teil wird zu Lasten des eigentlichen Ziel geht.

        Unterstützung lässt sich halt nicht erpressen.

  • Ein weiteres Argument gegen das Steinewerfen u. a. bei Demonstrationen: Steine sind keineswegs mit Wattebällchen zu verwechseln. Zur Erinnerung: Im Altertum war die Steinigung eine beliebte Hinrichtungsart! Vielleicht sollten einige besonders „engagierte“ Demonstranten daran denken, wenn sie wegen Werfens von „ein paar Steinchen“ zur Verantwortung gezogen werden und das überhaupt nicht verstehen.

  • Welch ein Quatsch in Rudi Dutschkeer Langatmigkeit 0 zu erklären.



    Der einzige sozilogische Unterschied liegt in der Vorauswahl des Berufes "PolizistIN", der aufgrund der Lohnhöhe im Vergleich zur Macht eher das "Ghettopeople" denn Herrn Lindners Kinder anspricht.



    Protestierende sind per se aus sozial höher gestellten Gruppierungen- wie generell alles Demokratische- und damit "Linke" seit Anbeginn in einer intellektuellen Schicht zu finden ist. Das ist in der Sache begründet.