Polizeigewalt in Tschechien: Der ungeklärte Tod
Stanislav Tomáš starb nach einem brutalen Einsatz der Polizei. Am Wochenende wurde der tschechische Rom beerdigt.
D er Vormittag fängt gerade erst an, doch die Sonne brennt schon mit gleißenden Strahlen auf den Schlossplatz von Teplice herab. Das Weiß der barocken Kirche Johannes der Täufer sticht an diesem heißen Samstag im Juli besonders aus dem Blau des Sommers hervor. Auf dem Platz kommt der Tag nur langsam in Gang, es ist Wochenende und Urlaubszeit. Das Brautmodengeschäft hat noch geschlossen, die Sonnenschirme im Vorgarten des noblen Hotels Prince de Ligne haben sich vom Gleißen der Sonne noch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Der moderne Einkaufstempel ums Eck gähnt vor Leere, die Straßencafés der angrenzenden Fußgängerzone sind nur spärlich besetzt.
Umso mehr fallen die Polizisten auf, die an sämtlichen neuralgischen Punkten stehen oder parken, die zum Schlossplatz führen. Ob eine solche Polizeipräsenz in Teplice üblich sei, mag der Polizist nicht sagen, der vom Rand des Platzes aus die Kirche im Auge behält.
Vor dem Gebäude steht eine dunkelrote Limousine mit geöffnetem Kofferraum. Aus der Kirche erklingt melancholische und doch sehr lebendige Musik. Die Beerdigung von Stanislav Tomáš ist ruhig und würdevoll. Wenn die Polizei Protest statt Pietät erwartet hat, dann deswegen, weil Tomáš' Tod internationale Aufmerksamkeit erregt hat.
Stanislav Tomáš ist am 19. Juni nach einem Polizeieinsatz gestorben. Es gibt ein kurzes Video davon. Ein Polizist drückt sein Knie minutenlang in den Nacken von Stanislav Tomáš. Der stirbt kurze Zeit später in einem Krankenwagen. Zeugenaussagen zufolge hatte Tomáš sich zuerst mit einem Mann gestritten, um seine Aggressionen dann gegen sich selbst zu richten. Videoaufnahmen zeigen, wie Tomáš vor dem Polizeieinsatz immer wieder brutal den Kopf gegen ein Autofenster geschlagen hat. Laut Autopsiebericht soll Tomáš zu diesem Zeitpunkt eine hohe Dosis Methamphetamin im Blut gehabt haben, „Piko“ sagt man in Tschechien dazu. Dessen langjähriger Konsum soll diesem Bericht zufolge auch schon die Herzkranzgefäße von Stanislav Tomáš zerstört haben.
Im Hinblick auf den brutalen Polizeieinsatz, der an den Tod George Floyds in den USA im Mai 2020 erinnerte, warf die offizielle Version vom Tod durch Herzversagen durch langfristigen Drogenverbrauch die Frage auf, ob nicht auch Polizeigewalt einen Anteil an Tomáš' Tod hatte. Innenminister Jan Hamáček wie auch Ministerpräsident Andrej Babiš sahen keinen Bedarf, die Situation zu entschärfen. Die beiden Politiker bedankten sich öffentlich bei der Polizei für ihren Einsatz und betonten, drogeninduzierte Gewalt stelle eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.
Internationale NGOs, der Zentralrat der Sinti und Roma, Amnesty International und der Europarat forderten unabhängige Untersuchungen. Auch die Menschenrechtsbeauftragte der tschechischen Regierung, Helena Válková, eine Anwältin und ehemalige Justizministerin, sprach sich für eine weitere Klärung aus. Die Familie von Stanislav Tomáš versuchte über einen Anwalt eine zweite Autopsie gerichtlich durchzusetzen.
„Es gibt einfach noch zu viele Unklarheiten“, meint Roman Vasko und zuckt die Schultern. Der Endvierziger ist zu Hause in der Roma-Community in dieser Ecke Nordböhmens. Der gelernte Installateur kommt hier viel rum, als Manager für einen mittelständischen Developer aus der Nachbarregion verwaltet er mehrere Mietshäuser und Bauvorhaben. „Wer bei mir säuft oder Drogen nimmt, fliegt“, sagt er. Mit Drogen meint er Piko, andere spielen kaum eine Rolle. Sein älterer Bruder ist ebenfalls an Piko zugrunde gegangen. „Der starb auch an Herzversagen“, murmelt Roman.
Behörden lehnen zweite Autopsie ab
In Tomáš’ Fall mag Roman nichts ausschließen. Selbst fragt er sich ja, was die Polizei hätte machen sollen, konfrontiert mit dem geballten Adrenalinausschuss, den nur eine Überdosis Piko auszulösen vermag. Wenn er von Unklarheiten spricht, dann, weil der Fall einfach zu schnell abgehakt wurde, weil Fragen nach Fehlern vonseiten der Polizei zu entschieden ausgeschlossen wurden. Die von vielen Seiten geforderte zweite Autopsie haben die tschechischen Behörden als überflüssig abgelehnt.
„Vielleicht hätte es ja gereicht, unsere Bedenken einfach mal ernst zu nehmen“, meint Roman. So zeige die Mehrheitsgesellschaft nur wieder einmal mehr ihre Geringschätzung. Die nagt am meisten, sagt Roman, die abschätzigen Blicke: „Am schlimmsten ist die mittlere, gutbürgerliche Klasse.“
Die Mitschülerinnen und Mitschüler seiner Kinder zum Beispiel, von denen die beiden ältesten inzwischen studieren. Oder die, die ihm automatisch absprechen, so zu sein wie jeder andere auch. „Mein Chef hat meiner Frau und mir mal ein Wochenende in einem Prager Fünf-Sterne-Hotel geschenkt. An der Rezeption haben sie nicht mal nachgeschaut und gesagt, wir seien im falschen Hotel. Mein Chef musste erst anrufen und klären, dass unser Aufenthalt nicht nur reserviert, sondern auch bezahlt war.“
Roman Vasko, Manager
Geboren und aufgewachsen ist Vasko in Chanov. Der Stadtteil gilt in Tschechien als symbolischer Ort für alles, was beim Zusammenleben von Roma und Mehrheitsgesellschaft schiefläuft. Es gehört zu Most, einer Nachbarstadt von Teplice. Wie alle der schätzungsweise etwa 250.000 Roma, die in Tschechien leben, hat Vasko seine Wurzeln in der Ostslowakei. „Meine Eltern sind den 60er Jahren hierher übergesiedelt“, erzählt Vasko. „Wegen der Arbeit“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Roma in mehreren Siedlungswellen aus der Ostslowakei nach Böhmen und Mähren. Sie sollten helfen, die Grenzgebiete des Landes neu zu besiedeln, die durch Vertreibung ihrer deutschsprachigen Bevölkerung zwischen 1945 und 1947 entvölkert wurden. Außerdem hielten es die Verantwortlichen damals für einfacher, die Roma aus ihren Siedlungen zu zwingen, als diese mit Strom oder Wasser zu versorgen.
„Mein Großvater war noch ein richtiger Zigeunerbaron“, lacht Vasko. Aber er meint es ernst. Er ist stolz auf seine Familiengeschichte, darauf, dass sein Großvater unter dem tschechischen General Ludvík Svoboda gegen die Nazis gekämpft hat und später als eine Autorität unter den Roma im äußersten Osten der Slowakei galt. Ein „Baron“ war er deswegen natürlich nicht. „Aber ein Zigeuner“, betont Vasko. Genauso wie er. Mit der Bezeichnung Rom kann er nichts anfangen, er verbindet sie mit einem Verlust kultureller Identität.
„Siebzig bis achtzig Prozent unserer Leute hier sind irgendwie kaputt, die sind aufgewachsen fern von Bildung und ohne Perspektiven“, sagt Vasko und ärgert sich darüber. „Wozu das führt, konnten wir ja jetzt gerade sehen, bei diesem ganzen Theater um die Beerdigung von Stanislav“, brummt er mit leichtem Zynismus in der Stimme. „Da haben wir die halbe Welt auf uns aufmerksam gemacht, und dann das.“
Obskure Prediger tauchen auf
Der brutale Tod von Stanislav Tomáš hat nicht nur international für Aufruhr gesorgt, sondern auch ein absurdes Phänomen innerhalb der tschechoslowakischen Roma-Gesellschaft an die breitere Öffentlichkeit gebracht: sogenannte Laifer. Laifer wie in life auf Facebook. Dahinter verbergen sich selbsternannte Prediger, die sich in stundenlangen Livestreams auf Facebook als Retter und Erlöser stilisieren, oder, wie einst Mel Gibson als William Wallace im Film „Braveheart“, den Kampf um Freiheit beschwören.
Kurz nach Tomáš’ Tod begannen sie, um die Schwester des Verstorbenen zu kreisen und die Sache an sich zu reißen. Tomáš solle in einem weißen Sarg beerdigt werden, der extra aus Amerika eingeflogen werde, Kostenpunkt umgerechnet 7.000 Euro, die aus Spendengeldern finanziert werden sollten. Mit solchen und weiteren Phantasmagorien hatten „Laifer“ es geschafft, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und gleichzeitig Aktivistinnen und Aktivisten und Organisationen, die sich um die Belange der Verbliebenen kümmern wollten, zu verdrängen. Etwas über 6.000 Euro an Spendengeldern sollen laut Berichten geflossen sein. Angekommen sind sie nicht, wie die tschechischen Zeitungen kurz vor Tomáš’ Beerdigung mehr oder weniger höhnisch berichteten.
„Je mehr wir auf Bildung setzen, desto irrelevanter werden solche falschen Prediger“, sagt Stefan Balog. Der 28-Jährige leitet seit über fünf Jahren das Stipendienprogramm der NGO Romea in Prag. „Seit 2016 haben wir etwa 360 Stipendien an Roma und Romnija vergeben, die hier an Universitäten und Hochschulen studieren“, sagt Balog. Seine Mutter ist Olas-Romni, sein Vater stammt aus der Slowakei, Balog ist Prager. „Ich bin hier in einer Multikultigesellschaft aufgewachsen, spreche Rominja und bin mir meiner Kultur und Tradition bewusst“, erzählt Balog, der an der Prager Karls-Universität Genetik studiert hat. Seine Berufung hat er darin gefunden, dazu beizutragen, dass auch Roma außerhalb der Prager Blase genauso normal leben wie er.
„Meine rosa Brille habe ich an der Uni abgesetzt, als mir ein Kommilitone erzählte, wie oft ihm sein Studentenausweis nicht abgenommen wird, weil er ein Rom ist.“ Ein Rom, so das übliche Stereotyp, kann unmöglich an einer Uni studieren. Der kann höchstens musizieren, so fasst Stepan Balog die Vorurteile zusammen, die er bis heute mitbekommt.
Stepan Balog, Genetiker
Dabei gebe es schon einige Tausend Roma, die an tschechischen Hochschulen studieren. „Wir haben viele Jurastudenten oder angehende Ärzte, das ist wichtig. Viele glauben ja auch, wenn ein Rom studiert, dann Sozialarbeit. Das ist Quatsch.“
Die Zukunft der Roma sieht Balog positiv, deshalb arbeitet er auf sie hin. „Unsere Stipendiaten dienen als Beispiel für die Mittelschüler und Grundschüler. Für viele Kinder, für die Bildung von zu Hause aus fremd und fern war, die in den Schulen deswegen bis heute in spezielle Klassen gesteckt werden“, sagt Balog. Und wenn sie aus dem Milieu rauskommen, dann erwartet sie die Diskriminierung auf den Wohnungsmarkt. „Das ist für viele eine fast unüberwindliche Hürde“, sagt Stefan Balog.
Die Mehrheitsgesellschaft macht es den Roma schwer. Den Teufelskreis durchbrechen können sie aber durch Bildung, meint Balog. Denn „Wenn sie mal einen Titel vor dem Namen haben, dann sind sie auch in der Gesellschaft angekommen.“
Der Priester redet von Barmherzigkeit
Bei der Beerdigung von Stanislav Tomáš in Teplice hat der Priester mit seiner Predigt begonnen. „Es wird kein Schmerz mehr sein“, sagt er. Der Sarg, von zwei Blumengebinden in Herzform umgeben, ist schneeweiß, wie auch das Gesteck, das ihn schmückt. Die Fotoapparate und Kameras, mit denen die Gäste sich eben noch um den Sarg geschart haben, in dem der einbalsamierte Leichnam von Tomáš offen zur Schau gestellt wurde, sind aus Pietät verstummt. Die Filmenden und Fotografierenden haben sich in den Eingangsbereich der Kirche zurückgezogen.
Der Priester erzählt viel von der Barmherzigkeit, die Tomáš jetzt bei Gott finden wird. Über sein Leben erzählt er nichts. Nach der kurzen Predigt wird der Sarg durch das Kirchenschiff getragen, vier Musiker schreiten voran und spielen noch, als der Sarg schon in der dunkelroten Limousine liegt. Sie spielen ihm ein letztes Ständchen, umgeben von Trauergästen und ein paar Neugierigen, die schon zuvor ein Selfie vor dem offenen Sarg gemacht hatten.
Die NGO Romea, die mit ihrer Webseite und in den sozialen Medien auch bei vielen Roma als Diskussionsplattform beliebt ist, überträgt die Trauerfeier live ins Internet. Daneben sind sämtliche tschechische Nachrichtensender vertreten.
Als die Limousine losfährt, laufen die Musiker ihr voraus und lenken sie in langsamen Schritten über den Schlossplatz, der noch immer verschlafen unter der gleißenden Julisonne liegt. Die rund 40 Trauergäste schreiten langsam hinterher, unter den Klängen der „Schicksalsmelodie“ aus „Doktor Schiwago“.
Am Rand des Schlossplatzes angekommen, dort, wo die Polizei die Kirche seit Beginn der Beerdigung im Auge behält, nimmt die Limousine Fahrt auf und biegt nach rechts in Richtung Einkaufszentrum zum nächsten Kreisverkehr. Von dort führt der Weg des Autos aus der Altstadt von Teplice heraus zum Friedhof der Stadt, wo Stanislav Tomáš endlich seine letzte Ruhe finden darf, fünf Wochen nach seinem Tod.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“