Polizeigewalt in Deutschland: Guter Bulle, böser Bulle?
Videos von Polizeihandlungen zeigten in den vergangenen Tagen Fälle von Polizeigewalt. Die Verantwortlichen wiegeln oft noch ab.
In Frankfurt werden drei Polizisten suspendiert, nachdem zwei Videos von einem Vorfall am 15. August im Stadtteil Sachsenhausen bekannt wurden. Die Aufnahmen zeigen, wie mehrere Polizisten auf den jungen Festgenommenen einschlagen. Dieser hat sich zusammengekauert und versucht, den Kopf mit seinen Armen zu schützen. Ein Beamter tritt den Gefesselten.
In Düsseldorf wird gefilmt, wie ein Beamter bei einem Einsatz am vergangenen Samstag den Kopf eines 15-Jährigen mit seinem Knie auf den Boden drückte. Daraufhin gehen diverse Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft ein. Am Donnerstag erklärt das zuständige Landesamt, der Einsatz entspreche „den in der Ausbildung vermittelten zulässigen Techniken“.
Auch in Hamburg wurde in den vergangenen Tagen ein Polizeieinsatz gegen einen ebenfalls 15-Jährigen gefilmt. Der soll mit einem E-Scooter auf dem Bürgersteig gefahren sein. Auf dem Video ist zu sehen, wie sieben oder acht Beamte ihn niederringen. Es passiert vor einer Wand mit dem Graffiti-Schriftzug „I can't breathe“ (ich kann nicht atmen) – in Anlehnung an Polizeigewalt in den USA. Als Polizisten ihn am Boden festhalten, ruft er offenbar: „Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft.“
Und in Ingelheim werden Demonstranten in einem Tunnel mit Schlagstöcken und Pfefferspray so zusammengedrängt, dass Panik ausbricht.
Es sind Szenen, die sich alle in den vergangenen Tagen ereignet haben, dokumentiert auf privaten Videos, viel geteilt in sozialen Medien. Und die eine Debatte neu befeuern: Gibt es ein Problem mit Polizeigewalt auch in Deutschland?
Debatten gab's schon
Dabei wurde die Debatte bereits vor einigen Wochen schon mal geführt. Im Juni hatte SPD-Chefin Saskia Esken nach gewalttätigen Polizeieinsätzen in den USA konstatiert, dass auch unter deutschen Beamten ein „latenter Rassismus“ existiere – und damit breite Kritik auf sich gezogen.
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Nach einer taz-Kolumne über die Gewalt bei der Polizei drohte Bundesinnenminister Horst Seehofer gar mit einer Anzeige. Danach hatten sich alle in ihre Lager verschanzt: Polizei und Innenminister schlossen ihre Reihen, die PolizeikritikerInnen ebenso.
Auch diesmal ähneln sich die Reaktionen. Während im Netz die Polizei heftig kritisiert wird, forderte die rechte Deutsche Polizeigewerkschaft, PolizistInnen „den Rücken zu stärken“. Auch bei der liberaleren Gewerkschaft der Polizei (GdP) erklärt ihr Vize Jörg Radek, die Beamten bräuchten „keine digitale Dresche, sondern realen Rückhalt“. Kritik an der Polizei sei erlaubt, in sozialen Medien werde diese aber zu oft zur „Hysterie“, der Kontext der Einsätze bleibe unberücksichtigt.
Dieses Mal indes gibt es auch andere Töne. Den Polizeivorfall in Düsseldorf kommentierte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) zunächst „erschrocken“. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) nannte den Frankfurter Übergriff „völlig inakzeptabel“ und ein „dringend zu ahnendes Fehlverhalten“. In diesem Fall schritten noch vor Ort Polizisten gegen ihre Kollegen ein. Auch in Ingelheim wird gegen sechs Beamte ermittelt. Diesmal also gibt es tatsächlich Konsequenzen.
Ob diese Bestand haben, ist ungewiss. Die Zahl der wegen Gewalttaten verurteilten PolizistInnen ist weiterhin verschwindend gering. 2019 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 1.500 Körperverletzungen im Amt – in etwa so viele wie in den Vorjahren. Aber: Nur rund zwei Prozent davon führten zuletzt zu Anklagen – und weniger als ein Prozent zu Verurteilungen.
Der Bochumer Kriminologe Tobias Singelnstein legte kürzlich eine der bisher raren Studien zur Polizeigewalt vor. Er hatte 3.350 Gewaltbetroffene direkt befragt. Das Ergebnis: Die Verdachtsfälle seien fünfmal größer als die offiziellen Zahlen. Viele Betroffene verzichteten auf Anzeigen, weil sie diese für erfolglos hielten – oder Gegenanzeigen fürchteten. Singelnstein fordert erkennbare Dienstnummern für alle Beamten und unabhängige Beschwerdestellen.
Armin Schuster, CDU-Innenpolitiker und Polizist
Martin Herrnkind war 38 Jahre Polizist und Mitglied der Amnesty International Recherchegruppe Polizei. Heute lehrt er im Fachbereich Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung Schleswig-Holstein. Er glaubt nicht, dass die Videos eine gesteigerte Gewalttätigkeit der Polizei dokumentieren. Eher sieht er darin die gewachsene Sensibilität gegenüber Gewalt. „Früher wurden etwa Kinder häufiger geschlagen, es gab auf jedem Volksfest eine Schlägerei. Deswegen hat keiner eine Anzeige bei der Polizei gemacht.“ Heute sei Gewalt tendenziell geächtet. „Man lässt sich nicht mehr so viel von der Polizei gefallen, stuft Dinge eher als Übergriff ein und zeigt diese dann an,“ sagt Herrnkind.
Empirie schlägt Gefühl
Das gelte umgekehrt auch für die Polizei selber: „Vor 30 Jahren wäre keiner meiner Kollegen auf die Idee gekommen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen.“ Das stete Lamento der Innenminister, die Gesellschaft verrohe und deshalb seien Polizeibeamte objektiv immer stärkeren Angriffen ausgesetzt, sei nicht durch die Empirie gedeckt.
Deutschland sei unter westlichen Staaten ein Sonderfall, was die Wahrnehmung der Gewalt angehe, sagt Herrnkind. „Wenn es in Frankreich Riots gibt und 60 Autos in Flammen aufgehen, sagt der Innenminister am nächsten Morgen, man habe die Lage in den Griff bekommen.“ In Deutschland sei das undenkbar. „Wir nehmen Gewalt als deutsche Gesellschaft viel schneller als bedrohlich wahr und das ist vielleicht auch gut so.“
Herrnkind glaubt, dass noch zwei weitere Faktoren bei der Wahrnehmung der Gewalt eine Rolle spielen. Der eine hänge mit der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft zusammen. Wenn die Schere von Arm und Reich immer weiter auseinander klafft, gebe es auch mehr gesellschaftliche Konflikte, die die Polizei befrieden soll.
Der andere Faktor sei die Technik: „Das ging los mit dem Übergriff auf den Schwarzen Rodney King 1991 in Los Angeles. Der wurde zufällig gefilmt und danach gab es dort den größten Riot aller Zeiten.“ Filme hätten eine völlig andere Wirkung, „als wenn nur jemand davon spricht, dem nicht geglaubt wird – und dem auch von der Staatsanwaltschaft tendenziell nicht geglaubt wird.“
Letztlich biete die Entwicklung die Chance einer weiteren Zivilisierung, glaubt er. Befeuert durch den Fall George Floyd hätten sich Minderheitengruppen zusammen geschlossen und so mehr Einfluss im Kampf gegen Polizeigewalt bekommen.
Diskutiert wird auch im Bundestag. Es sei gut, wenn verstärkt hingeschaut werde, sagt dort Irene Mihalic, Grünen-Innenpolitikerin und Polizistin. „Denn leider haben die Innenminister und vor allem das konservative politische Spektrum jede Kritik an polizeilichen Handeln bisher pauschal zurückgewiesen nach dem Motto: Die Polizei hat immer Recht.“ Das sei aber genauso abwegig wie eine pauschale Verurteilung der Beamten. Sie plädiert für unabhängige Polizeibeauftragte in Bund und Ländern, an die sich Bürger und Beamte wenden könnten.
Auf der anderen Seite steht Armin Schuster, CDU-Innenpolitiker, auch er Polizist. Schuster ist momentan in Rage. „Was hier gerade läuft, ist eine völlig übertriebene Kampagne gegen die Polizei, die schlimm ausgehen kann“, sagt er.
Für Schuster ist klar: auch Polizisten machten Fehler. „Aber das wird systematisch und transparent aufgearbeitet, entsprechende Sanktionen sind Standard.“ Es sei aber „ziemlich abenteuerlich“, wenn „Laien“ aufgrund von Videoschnipseln Polizeiarbeit fundamental kritisierten. Es werde ein pauschales Misstrauen gegen die Polizisten geradezu geschürt, und „das wird ihnen das Herzblut nehmen“: die Arbeitsmoral der PolizistInnen könne leiden.
Einer indes schweigt: Horst Seehofer. Zuletzt stellte sich der Innenminister uneingeschränkt vor die Polizei, lehnte ein Studie zu Racial Profiling als überflüssig ab. Stattdessen plädierte der CSU-Mann für eine Studie über Gewalt gegen Polizisten. Und eine zu Polizeigewalt? Das sei „kein Thema“, sagt ein Sprecher. Die jetzt diskutierten Fälle würden ja untersucht und von einem flächendeckenden Phänomen rechtswidriger Polizeigewalt könne keine Rede sein.
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