Politische Gewalt in Israel: Zorn auf ganzer Linie
Kein Tag ohne Steine und Tränengas: Nur eine Straßenbahnlinie fährt von West- nach Ostjerusalem – quer durch alle Konfliktfelder.
JERUSALEM taz | Kifah Kimiri lässt ihren Schleier neuerdings zu Hause, wenn sie mit der Straßenbahn zur Arbeit fährt. Die 38-jährige Palästinenserin ist die lästigen Blicke leid. Es war Krieg im Gazastreifen, als sie im Zug von einer, wie sie sagt, „frommen jüdischen Frau“ beschimpft wurde. „Der Fahrer hat sich zwischen uns gestellt, um mich zu beschützen“, sagt Kimiri.
Sie ist eine zarte Frau mit dezentem Lidschatten, sieben Kinder erzieht sie allein. Ganze drei Stationen sind es von ihrem Viertel Wadi el-Dschoos bis zur Jaffastraße in Westjerusalem, wo sie den Lebensunterhalt für sich und die Kinder als Putzfrau in einem israelischen Hostel verdient. „Ich trug einen Hidschab, als es passierte.“ Jetzt verzichtet sie bewusst auf das Kopftuch. „Denn jetzt wissen sie nicht, dass ich Araberin bin“, sagt Kimiri. „Jetzt lassen sie mich in Ruhe.“
Seit Wochen vergeht kein Tag in Jerusalem, ohne dass Steine und Feuerwerkskörper fliegen und ohne dass israelische Sicherheitskräfte die oft vermummten palästinensischen Jugendlichen mit Tränengas und Schreckgeschossen auseinanderzutreiben versuchen. Jedes zerstörte oder in Brand gesteckte Auto, jede Verhaftung und jeder Verletzte schüren neuen Zorn.
Die Anspannung ist auch in der „Linie 1“ zu spüren, der bislang einzigen Strecke der Stadtbahn. Alle paar Minuten fährt ein Zug vom Herzl-Berg durch Westjerusalem bis zur Altstadt und dann entlang der Demarkationslinie zum eingemeindeten palästinensischen Stadtviertel Schoafat in Ostjerusalem. Von dort aus geht es weiter bis nach Pisgat Seew, einer israelischen Siedlung im Einzugsbereich vom Rathaus Großjerusalems.
2. 7. Der 16-jährige Mohammed Abu Chdeir wird von drei radikalen ultraorthodoxen Israelis entführt und ermordet.
29. 9. Nationalreligiöse Israelis beziehen 25 zuvor legal erstandene Wohnungen in Silwan.
24. 9. Die israelische Regierung segnet den Bauplan für die neue Siedlung Givat Hamatos in Ostjerusalem und die ersten 2.500 Wohneinheiten ab.
20. 10. Nationalreligiöse Israelis beziehen zwei weitere Häuser mit insgesamt neun Wohnungen in Silwan.
22. 10. Der palästinensische Autofahrer Abdel Rahman Schaludi rast an einer Haltestelle der Stadtbahn in eine Menschengruppe und tötet zwei Menschen, darunter ein drei Monate altes Baby.
27. 10. Israels Regierung gibt weiteren Bauplan für insgesamt 1.000 Wohneinheiten für Israelis in Ostjerusalem bekannt.
29. 10. Der israelische Tempelberg-Aktivist Jehuda Glick entkommt knapp einem Mordanschlag.
30. 10. Sicherheitskräfte erschießen den mutmaßlichen Attentäter Glick während eines Feuergefechts bei der versuchten Verhaftung von Moatas Hidschasi.
5. 11. Die israelische Polizei erschießt in Ostjerusalem einen Autofahrer, der seinen Wagen auf einen Bahnsteig voller Menschen gelenkt hatte. Anschließend rammte er mehrere Fahrzeuge, ehe er aus dem Auto sprang und versuchte, zu Fuß zu fliehen. Die Polizei spricht von einem "vorsätzlichen Anschlag". Nach Angaben des Rettungsdienstes wurden acht Personen verletzt, zwei davon schwer. S.K.
Seit drei Jahren gehört die hochmoderne, silberfarbene Bahn zum Stadtbild. Für Pendler, die früher auf die nach Benzin stinkenden, überfüllten Busse angewiesen waren, ist sie ein großer Gewinn. Die Abteile sind klimatisiert und großzügig. Der Geräuschpegel der Motoren ist so niedrig, dass man ihn kaum wahrnimmt. Die Fenster haben kugelsichere Scheiben, und die Abteile sind übersichtlich für das Sicherheitspersonal, das regelmäßig vor allem die Fahrgäste kontrolliert, die arabisch aussehen.
Keine Nachsicht für arabsiche Schwarzfahrer
„In letzter Zeit sind weniger Palästinenser in der Bahn“, stellt Kifiri fest. Es sitzen fast nur noch Israelis im Zug. Dass auch das Personal der Stadtbahn auf die Leute unterschiedlich reagiert, ärgert die Palästinenserin. „Wenn ein Jude kein Ticket hat, drücken die Kontrolleure oft ein Auge zu, ein Araber, der schwarzfährt, zahlt immer Strafe.“
Wer an der Haltestelle von Schoafat einsteigt, hat keine andere Wahl, als schwarzzufahren. Es sei denn, er hat sich vorher schon einen Fahrschein besorgt. Der Ticketautomat ist komplett zerstört, und in der Bahn kann man nur abstempeln.
Direkt neben der Station, an der israelische Sicherheitsleute Posten bezogen haben, ist die Moschee, in der Mohammed Abu Chdeir täglich betete. Das Elternhaus des 16-jährigen Palästinensers liegt keine zehn Meter entfernt. Nur ein paar Schritte musste der Junge laufen. Seinen Mördern reichte das kurze Stück, um ihn einzufangen.
Immer öfter taucht in der Presse ein Wort auf: Intifada
Der grausame Mord an Abu Chdeir, den radikale ultraorthodoxe Juden vor vier Monaten entführten und lebendig verbrannten, war ein erster Trigger, der die latente Unruhe in Jerusalem explodieren ließ. Seither heizt eine Serie politischer Gewaltakte die Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden und Muslimen an.
Am „Amunition Hill“, zwei Stationen nachdem Kimiri aussteigt und drei vor Schoafat, kam es jüngst zu einem Unfall. Oder Anschlag. Je nachdem, welchem Narrativ man folgt. Ein Palästinenser raste mit seinem Pkw in eine wartende Menschenmenge, tötete zwei Menschen und wurde selbst erschossen. Gut eine Woche später gipfelte die Gewalt in dem versuchten Mordanschlag auf einen ultranationalen Aktivisten. Wieder wurde der Angreifer erschossen. Immer öfter taucht seither in der lokalen Berichterstattung ein Wort auf: Intifada.
„Nein, diesmal ist es kein organisierter Aufstand.“ Said Abu Chdeir schüttelt den Kopf. „Die Unruhen sind spontan“, meint er, aber so war es bei der ersten Intifada Ende der 80er Jahre auch. Said ist ein entfernter Onkel von Mohammed Abu Chdeir. Vis-à-vis vom Elternhaus des Jungen hat er ein Fastfood-Restaurant. Das Geschäft geht schlecht.
Das ganze Dorf kam und zerstörte die Haltestelle
Seit dem Mord an Mohammed „bleibt hier kein Gast mehr sitzen“. Said Abu Chdeir hasst die Bahn, die ihm Parkmöglichkeiten vor dem Lokal raubte, außerdem komme es immer wieder zu Staus. „Als Mohammed getötet wurde, kam das ganze Dorf her und zerstörte die Haltestelle.“
An ein friedliches Miteinander, wie die Betreiber der Stadtbahn das Projekt einst propagierten, glaubt der Palästinenser schon lange nicht mehr. „Wir sprechen verschiedene Sprachen, haben verschiedene Religionen und Kulturen“, sagt er und schneidet Fleisch für ein Schawarma-Sandwich. Nur eine Trennung könne eine Beruhigung bewirken, sagt er, nur „zwei Staaten für zwei Völker“.
Als Bürger der Stadt Jerusalem hätten die Leute aus dem eingemeindeten Viertel die Möglichkeit, die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ein Privileg, von dem nur wenige Gebrauch machen.
88 Häuser, in denen 1.500 Palästinenser leben, stehen unter Abrissbefehl
Abu Chdeir treibt nichts nach Jerusalem, wie er sagt, doch die frommen Muslime aus Schoafat fahren an Feiertagen in die heilige Stadt, um in der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg zu beten. Allerdings nur Frauen und Männer älter als 50 Jahre, denn so schreibt es Israel vor. Die begrenzten Besuchsrechte der Moschee schaffen Unmut unter den Palästinensern.
Die Besatzungsmacht sei verantwortlich dafür, mahnen sie, den Gläubigen das Gebet zu ermöglichen und die heiligen Stätten zu schützen, vor allem vor den jüdischen Tempelberg-Aktivisten, die am Status quo kratzten und die Vertreibung der Muslime verfolgten.
Am Fuß des Tempelbergs, gleich hinter den Mauern der Altstadt, beginnt Silwan, das mit rund 50.000 Palästinensern eng bewohnte Stadtviertel, in dem einst der jüdische König David gelebt haben soll. 88 Häuser, die rund 1.500 Palästinenser beherbergen, stehen unter sofortigem Abrissbefehl. Sie sollen Platz machen für einen archäologischen Park.
„Statt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer“
Die Straßen von Silwan sind schmutzig, in manchen Ecken riecht es scharf nach Abwasser. Leere Plastiktüten und Konservendosen liegen auf dem Bürgersteig. „Wir zahlen städtische Abgaben“, schimpft Fakhri Abu Diab, Aktivist des palästinensischen Komitees zum Schutz der Häuser von Silwan, „aber anstatt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer, um unsere Häuser abzureißen.“
Dass der Unmut vor allem sehr junger Palästinenser nun fast täglich in Straßenkämpfe mündet, schiebt der 52-jährige Aktivist auch dem jüngsten Zuzug Dutzender national-religiöser Israelis in das Viertel zu. „Es ist eine Entwicklung, die uns jeden politischen Horizont raubt“, sagt der Palästinenser. An den drei umstrittenen Häusern wehen provozierend blau-weiße Nationalflaggen mit dem Davidstern.
Abu Diab verurteilt das „zweierlei Maß“ des israelischen Rechtssystems. „Wenn ein Palästinenser mit seinem Auto einen Israeli anfährt, wird er erschossen, umgekehrt passiert gar nichts.“ Ende Oktober starb ein fünfjähriges palästinensisches Mädchen, nachdem es von einem israelischen Siedler angefahren worden war. Die Polizei spricht von einem Unfall, die Palästinenser von einem gezielten Mordanschlag.
Die Bahn sollte einmal ein Mittel der friedlichen Koexistenz sein
Der palästinensische Fahrer, der an der „Amunition Hill“ zwei Menschen tötete, stammte aus Silwan. Jeden Tag fährt der 68-jährige Abraham Krieger an der Haltestelle vorbei. Krieger lebt in der Siedlung Pisgat Seew und pendelt in der „Linie 1“ regelmäßig zu seiner Jeschiwa, einer Tora-Schule in Jerusalem.
Angst hat der bärtige Israeli mit der Kipa nicht, obschon der Zug oft mit Steinen angegriffen werde, wenn er durch Schoafat fährt. „Von uns hat keiner verstanden, warum die Bahn ausgerechnet hier langfährt“, sagt der fromme Jude, der vor 45 Jahren aus den USA einwanderte und mit breitem Akzent Hebräisch spricht.
Die Bahn sollte ursprünglich von beiden Völkern genutzt und damit ein Mittel zur friedlichen Koexistenz werden. „Das ist es immer noch“, meint Krieger, der beobachtet haben will, „wie Palästinenser für ältere Israelis ihren Sitzplatz räumen und auch umgekehrt“. Pisgat Seew als Siedlung zu bezeichnen hält er für Unsinn. „Das hier ist Jerusalem“, meint er kurz vor der Endstation und fragt ungläubig, ob Israel denn alles Land zurückgeben solle. Frieden werde es so oder so erst geben, „wenn der Messias kommt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich