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Politik und CoronavirusVerschobene Verantwortung

Kommentar von Gunnar Hinck

In der Corona-Krise müssen Politiker auch zu unbequemen Entscheidungen stehen. Alles andere wäre fatal.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Dilek Kalayci, Berliner Senatorin für Gesundheit Foto: Kay Nietfeld/dpa

I m Horrorroman „The Stand“ von Stephen King rafft eine gefährliche Virusmutation nahezu die gesamte US-Bevölkerung dahin. Das Militär versucht mit gewaltsamen Mitteln das Virus einzudämmen und setzt auf einen totalitären Staat. Am Ende überleben nur ein paar Tausend Menschen, die sich gegenseitig nachstellen. Kings Buch ist in diesen Tagen wahrscheinlich nicht die erbaulichste Lektüre, erst recht nicht für Quarantäne. Die Horrorvision lotet das Ende der Angstskala aus und zeigt, wie eine Zivilisation im Zeichen eines Virus kollabiert.

Die deutsche Realität im Zeichen von Corona ist natürlich eine ganz andere und kein Horror. Die Apokalypse steht nicht bevor, die Republik setzt den beruhigenden Gegenpol zu Kings Angstszenario. Allerdings ist dabei fraglich, ob die Politiker*innen die Coronakrise wirklich ernst genug nehmen. Es herrscht das gepflegte Sowohl-als-auch vor: Das Virus muss eingedämmt werden, aber wir müssen auch besonnen bleiben, heißt es. Schulschließungen werden jetzt häufig mit dem Argument abgelehnt, dass dann die Eltern ihre Kinder betreuen müssten – und damit, so der Subtext, als Arbeitskräfte zum Erhalt des deutschen Wohlstands ausfallen. In Niedersachsen lobt der Kultusminister die Schulleitungen für ihre Besonnenheit, in Berlin sagt der Regierende Bürgermeister tapfer, dass das öffentliche Leben ja weitergehen müsse. Veranstalter von Groß­veranstaltungen „ermuntert“ Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu Absagen. Unverbindlicher geht es nicht. Immerhin haben NRW, Bremen und Bayern die zarte Empfehlung aus Berlin jetzt umgesetzt.

Regierende Politiker*innen agieren in der Coronakrise so, wie sie es auch in normalen Zeiten tun: Sie wollen es allen recht machen und keiner großen Interessengruppe – den eigenen Wähler*innen, der Wirtschaft – wehtun. Es überwiegt die kommode bundesdeutsche Konsenspolitik. Und wenn das nicht klappt, wird Verantwortung hin und her geschoben, denn das klappt praktischerweise gut im Föderalismus: Der Bund verweist auf die Länder oder, wie der Kultusminister in Hannover, auf das „örtlich zuständige Gesundheitsamt“; Länder und Kommunen zeigen mit dem Finger zurück.

Corona wird zeigen, ob die Politiker*innen Krise können. Dazu gehört, Verantwortung zu übernehmen – etwas, was sie als Floskel gemeint häufig sagen –, zu unbequemen Entscheidungen zu stehen und einer einzelnen Interessengruppe auch mal auf die Füße zu treten. Damit macht man sich zunächst nicht bei allen beliebt – aber Halb­herzigkeit und Inkonsequenz werden auf lange Sicht fataler sein.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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10 Kommentare

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  • Der Kommentar könnte (wenn er nicht so lang wäre) auch aus BILD stammen. Wie lange möchte der Autor denn die Schulen schließen?



    Apropos: SInd alle, die hier sich nach dem Leben getrachtet fühlen, gegen Influenza geimpft.Auch daran sterben Menschen, in diesem Winter bislang 100 mal mehr als durch Covid-19. Gegen Influenza gibt es allerdings eine hochwirksame Impfung....



    Spätestens wenn eine Impfung gegen Covid-19 auf dem Markt ist, werden aus der gleichen Ecke Bedenken gegen die Impfung (Zwangsimpfung?) lautstark geäußert werden. So schlimm ist Covid-19 dann wahrscheinlich auch nicht...

  • Im Gegensatz zur Konfrontationspolitik ist Konsenspolitik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die klügere, sicherlich jedoch die pragmatischere Handlungsweise. Siehe z.B. die Niederlande, in der seit Jahrzehnten Konsenspolitik praktiziert wird und die der Bundesrepublik - auch deshalb - in vielerlei Hinsicht weit voraus sind.

    Aber die Realität spielt ja keine Rolle, nicht wahr?, und so darf dann Konsenspolitik gerne im Seitenhieb als "kommod" diskreditiert werden.

    Vielleicht ist das Problem ja ein ganz anderes, nämlich dass es sich hier in keinster Weise um Konsenspolitik handelt. Stattdessen nimmt der Bundesminister Stellung, mit der gebotenen Zurückhaltung, weil er eben gerade keine bundesweite Weisungsbefugnis hat. Diejenigen, die Entscheidungen treffen können, Ministerien der Bundesländer und untergeordnete Behörden, schieben "Verantwortung hin und her", wie es zurecht im Artikel heißt - und praktizieren damit eins eben nicht: Konsenspolitik.

  • In Berlin machen Theater dicht, aber Union darf im vollen Stadion spielen. Zyniker könnten sagen: naja, sollen doch tausende proletarische Ostberliner ihre Omas anstecken, das Bürgertum wird weiterhin geschützt.

  • Der Autor übersieht, dass Gesundheitsvorsorge und Gesundheitskrisenmanagement in die Zuständigkeit der Länder fällt. Herr Spahn darf daher nur Empfehlungen abgeben.

    Kritik wäre hingegen beim Regierenden Bürgermeister angesagt, welcher sich angesichts des Bundesligaspiels in der Alten Försterei weigert, Großveranstaltungen abzusagen.

  • Der Bundesgesundheitsminister darf nach der Rechtslage keine Veranstaltungen verbieten. Ihm Halbherzigkeit und Unverbindlichkeit vorzuwerfen, wenn er sich daran hält, ist weder guter Stil noch guter Journalismus.

    • @Jochen Laun:

      Richtig, nach dem Infektionsschutzgesetz sind die Länder zuständig. Allerdings kann ein Bundesgesundheitsminister in der Art, wie er an die Länder appelliert, unterschiedlich stark Druck ausüben. Wenn das Bundeskabinett geschlossen einen dringenden Appell herausgeben würde, hätte das einen anderen Effekt als ein vage Bitte auf einer Presskonferenz. Gunnar Hinck, Autor

      • @Gunnar Hinck:

        Und weshalb sollte bitte das Bundeskabinett einen solchen Appell herausgeben, wenn es nicht die Angelegenheit des Bundes ist?

        Genau so ein Appell von einer nicht zuständigen Stelle würde die allseits befürchtete Panik dorch erst recht anfeuern.

        Wenn also Berlin behauptet, bestmöglich auf eine solche Epedemie vorbereitet zu sein, (hüstel), dann darf man wohl einen letzten Rest Führungsstärke auf Landesebene noch erwarten.

        Das Fehlen dieser Stärke hat sich je bereits gestern Abend gezeigt, als man versucht hat, die gerade erst bekannt gegebene Entscheidung schnell und möglichst geräuschlos wieder zu revidieren.

  • Hier in Tschechien bleiben ab morgen alle Schulen geschlossen - "bis auf Weiteres". Es gibt landesweit grad mal 40 bestätigte Corona-Fälle. Interessant den Vergleich zu Deutschland zu sehen.

  • Spahn hat doch gerade was von „Freiheit“ losgelassen, welche man nicht beschneiden dürfe, um damit seine Zögerlichkeit zu begründen. Die wird wahrscheinlich viele Leute das Leben kosten. Ob ihm solche Kurzsichtigkeit nicht mal schwer auf die Füße fallen wird, spätestens dann, wenn im Rückblick über den Beginn und die Ursachen der Katastrophe räsoniert werden wird? Als dumm schätze ich ihn eigentlich überhaupt nicht ein.



    Aber klar, wenn man sich in einem Politikbetrieb hochgeboxt, -gedient und -gekungelt hat, der mit Halbherzigkeit und Inkonsequenz (wie im Artikel richtig festgestellt) über lange Zeit nie an die Wand gefahren ist, ist es vermutlich immens schwierig, da mal ne andere Richtung einzuschlagen. Individuell schon, und systemisch (sprich: gegen die Widerstände der meisten, die etablierten Abläufe, die unausgesprochenen Regeln und Denkweisen etc.) noch sehr viel mehr.