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Plötzlich ist Marias Vorhang zuVon einer, die fehlt

Maria hatte ihre Einzimmerwohnung im Hochparterre eines Wohnhauses auf St. Pauli. Sie war immer da. Und ihr Fenster stand immer offen.

Hamburg-St. Pauli: Aus einem dieser Häuser hängte Maria ihre Regenbogenfahne Foto: dpa

W arum vermissen wir manches erst, wenn es nicht mehr da ist? Häuser, Kunst, Tiere, Menschen: Plötzlich ist etwas fort. Etwas Ungeplantes, manchmal Unordentliches. Eine Energie, die uns ein Gefühl von Lebendigsein gab. Ein Grundrauschen, das den Alltag mit einem bestimmten Sounddesign unterlegte. Plötzlich stehen wir neben einer glatt betonierten Fläche. Einem leeren Haus oder Saal. Etwas hat aufgehört. Es sticht jetzt im Innern. Ein Stückchen Ich ist fort.

Maria ist weg. Jetzt begreife ich es. Vor ihrer Einzimmerwohnung im Hochparterre: eine glatte Vorhangwand. Maria würde die Vorhänge nie so schließen. Sie ließ die Blicke zu, in ihre Einzimmerwohnung. Auf ihre Kochzeile und den Fernseher, der immer lief. Maria gewährte den Blick in ihre Wohnhöhle wie in ihr Inneres. Maria war immer da. Ihr Fenster stand offen. Sie wohnte am Fenster.

Jetzt ist sie fort. Aber weiß ich es denn? Vielleicht lebt sie jetzt anders? Will nicht mehr, was sie früher wollte: „Kannst du mir was vom Edeka mitbringen?“ – „Gehst du in die ‚Kleine Pause‘?“ So hat sie die Leute angesprochen, die abends an ihrem Fenster vorbeiliefen, von der Schanze zum Kiez.

Sie redete von ihren Füßen, konnte nicht mehr gut laufen. Sie saß an der Fensterbank, oft aufgestützt auf ein Kissen, ein schwerer Körper. Ein Gesicht mit lieben Zügen, einer Brille, grauem Haar. Einmal hat sie auch mich gefragt, ob ich ihr etwas mitbringen könne: „Gehst du zum Edeka?“ Eine freundliche Frage. Als würde sie Kontakt suchen. Ich hatte keine Zeit. Ich wollte nicht zum Supermarkt und wieder zurück gehen. Sie nickte verständnisvoll.

Manche Menschen sind wie Gebäude. Sie sind eigene Institutionen mitten im Leben. Wenn sie gehen oder entfernt werden, fehlt eine Energie
Christa Pfafferott

ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Sie fiel mir wieder auf. Wie sie ihr Fenster mit den vergilbten Spitzengardinen dekorierte. Sie klebte medizinische Berichte an die Scheibe, dann hing eine Regenbogenflagge daran. Nett sah das aus.

Nebenan war eine Bar, in der die Leute abends lachten. Sie lebte direkt daneben mit dem Fernseher im Zimmer. Einmal hatte sie für die Vorbeigehenden einen handgeschriebenen Zettel aufgehängt: „Wer will mit mir Panini-Bilder tauschen? Ruft am Fenster einfach Maria. Ich würde mich freuen.“

Mich berührte das: dieser Wille zur Kommunikation, der nie abriss. Wie sie ins Außen ging, die Menschen suchte. Sie versteckte sich nicht, wie es manche tun, die allein sind; die sich für ihre Einsamkeit schämen und zurückziehen, bis sie ganz isoliert sind. Maria nutzte ihr Fenster als Lebensmittelpunkt. Als Sprachrohr zur Welt. Von ihrem Platz aus, von dem sie sich nicht mehr wegbewegen konnte, tat sie alles, um sich zu verbinden.

Einmal, an einem lichtdurchfluteten Vormittag, als die Stimmung auf der Straße gut war, blieb ich stehen und sprach sie an. Ich fragte sie, was sie so mache am Fenster. Ich bekam mit, wie sie für die Kinder aus dem Viertel an einem Körbchen Süßigkeiten hinunterließ. Sie sagte „meine Hunde“ zu den Hunden, die vorbeiliefen, und fütterte sie mit Leckerli. Als sie von ihren Geh-Problemen erzählte, blickten ihre Augen traurig. Sie sagte, dass sie seit Jahrzehnten auf St. Pauli lebte und schließlich lange Jahre in dieser Einzimmerwohnung.

Vor einiger Zeit ging ich wieder die Straße hinunter. Wie selbstverständlich wanderte mein Blick zu Marias Fenster. Ich erwartete ihr Gesicht. Doch die Wohnung war grell erleuchtet. Sie war kahl und weiß. Eine Malerleiter stand dort, jüngere Leute strichen. Maria ist weg, habe ich erschrocken gedacht. Und dann, dass vielleicht auch nur für sie renoviert würde. Als wollte ich den Gedanken nicht zulassen.

Manche Menschen sind wie Gebäude. Sie sind eigene Institutionen mitten im Leben, weil sie sich dem Leben zeigen. Wenn sie gehen oder entfernt werden, fehlt eine Energie.

Jetzt, da ich wieder an Marias Wohnung stehe und die fest vorgezogene Vorhangwand sehe. Jetzt spüre ich es: Der Vorhang ist zu. Da ist keiner mehr, der nach draußen will, das Außen sucht. Der sich nach den Menschen sehnt, nach Nähe und Fürsorge. Jemand fehlt. Maria, die der Straße ihr Gesicht hinhielt.

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2 Kommentare

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  • Erstmal vielen Dank für Blumen, die jüngeren Leute haben die Vierzig auch schon hinter sich (Grins). Maria ist leider vor 1 1/2 Jahren in eine Pflegeeinrichtung umgezogen, weil Sie medizinische betreut werden muß. Ob Sie noch lebt kann ich Ihnen leider nicht sagen. Bekannte von Maria - die wie Sie die hälfte ihres Lebens hier auf St Pauli verbracht haben - haben die Wohnung übernommen. Nehmen Sie Maria als Vorbild , beim nächsten mal die Menschen , die Nachbarschaft, das Kneipenpersonal direkt ansprechen . Sie werden mit echten Geschichten aus dem Leben belohnt.

  • Bei uns gegenüber ist eine Flüchtlingsunterkunft. Es herrscht dort ein gewisses Kommen und Gehen. Eines Tages zog eine Roma-Familie ein. Der Vater hatte eine Abschiebung verhindert, indem er aus dem Fenster des dritten Stockes sprang. Der hohe Preis für die darauf folgende Duldung war eine Gehbehinderung.

    Das Paar hatte einen kleinen Jungen, er war im Vorschulalter und trug immer ein Spiderman-Kostüm. Die Mutter sagte, sie müsse es abends waschen und nachts trocknen, sonst gab es Geschrei. Ich versuchte mit dem Kleinen zu sprechen, wir kamen aber nicht über "Du Spiderman" und "Ich Spiderman" hinaus.

    Die Frau versuchte alles etwas freundlicher zu gestalten, stellte Blumentöpfe auf die Fenstersimse und fegte öfter als die Schwaben den Bürgersteig.

    Eines Morgens ging ich auch dem Haus und erwartete Spiderman wie einen geölten Blitz ankommen zu sehen, es kam aber keiner.

    Die Familie war in der Nacht abgeholt und abgeschoben worden.

    Einer der Blumentöpfe stand noch wochenlang auf dem Sims, wie ein Mahnmal.