Perspektiven für den Nahost-Konflikt: Die Hoffnung der Narren
Im Nahen Osten ist trotz des Waffenstillstands kein echter Frieden in Sicht. Initiativen, die für das Zusammenleben einstehen, fegen nun die Scherben zusammen.
D ies sind düstere Tage – daran ändert der fragile Waffenstillstand von Freitag kaum etwas. Als die ersten Bilder von randalierenden Juden und Arabern über den Bildschirm flimmerten, ließ mich das an Zeilen des Dichters Nathan Alterman denken: „Die Stadt verdunkelt sich. Kein Mann weiß mehr, was ein Volk ist. Kein Volk weiß mehr, was ein Mann und was eine Frau ist.“
Empfohlener externer Inhalt
In diesen Tagen verdunkelt sich das ganze Land. Hier und dort tauchen irre Gesichter aus der Dunkelheit auf, blutdürstig, wie in bei einem Pogrom oder in dem Thriller „The purge“ („Die Säuberung“). Die Barbaren stehen nicht am Stadttor – sie sind hier, in den Straßen und auf den Plätzen, jüdische Barbaren und arabische Barbaren.
Gerade in Zeiten wie diesen gilt es in einigen Punkten so genau wie möglich zu sein:
1. Das jüdische Volk hat ein Recht auf ein sicheres Leben in Frieden und dem Gefühl, zu Hause zu sein. Dasselbe gilt für das palästinensische Volk.
lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. Auf Englisch erschien im Mai sein Spionagethriller „The March Angel“.
2. Seit 1948 und vielleicht länger haben die Palästinenser unter anhaltender Ungerechtigkeit gelitten. Dieses Unrecht kann nicht mit so banalen Feststellungen, wie: „Sie haben den Krieg angefangen“, gerechtfertigt werden.
3. Seit Jahrzehnten verstärken sich in der israelischen Gesellschaft religiös-nationalistische Ströme und damit Tendenzen hin zum Separatismus, zum Rassismus und zu dem Gefühl, die ganze Welt sei gegen uns; dem Gefühl, dass wir die Auserwählten sind und die, die recht haben. Die Rede ist von jungen Leuten, die ein vereinfachtes Realitätsbild haben.
Sie leben in einer Demokratie oder zumindest in einer demokratieähnlichen Struktur, haben jedoch eine autoritäre, oft rassistische Mentalität. Sie sind es, die heute durch die Straßen ziehen und „Tod den Arabern“ rufen. Rechte Politiker und religiöse Parteien, die seit 1977 nahezu ununterbrochen Teil aller Regierungskoalitionen sind, hetzen den Pöbel zusätzlich auf.
4. In der palästinensischen Gesellschaft waren über die Jahre wiederholt moderate Stimmen zu hören, die eine pragmatische Lösung befürworteten. Diese Stimmen konnten sich jedoch nicht gegen andere, radikale Stimmen durchsetzen, die „alles oder nichts“ verfolgten. Die Extremisten haben die erste und die zweite Intifada vorangetrieben. Organisationen wie die Fatah, die Volksfront zur Befreiung Palästinas und andere waren weltliche Bewegungen, die nationalistische Ziele verfolgten.
Kampf um religiöse Symbole
Mit dem Aufkommen der Hamas und anderen extrem religiösen Bewegungen in der arabischen Welt hat sich das Bild komplett gewandelt. In dem Moment, in dem sich die Hamas die Macht im Gazastreifen erkämpfte, verwandelte sie ihn in einen einzigen großen Bunker, inklusive einer unterirdischen Stadt und unterirdischen Rüstungslagern.
Man muss sich eines vergegenwärtigen: Israel ist aus Gaza abgezogen, aber die Hamas denkt noch immer in Begriffen wie „Widerstand“. Gegen wen genau? Wenn man sich die Rhetorik der palästinensischen Islamisten anhört, ist völlig klar, dass sie den gesamten Gazastreifen mitsamt seiner Bevölkerung, die sie als Geiseln hält, zum Kampf um religiöse Symbole wie die Al-Aksa-Moschee antreibt und zum Kampf um Souveränität.
Souveränität worüber? Souveränität über den Gazastreifen haben sie doch längst. Das Westjordanland? Nein, die Islamisten zielen offen auf die Rückkehr nach Haifa und Jaffa. Mit anderen Worten: Solange der Staat Israel nicht von der Landkarte verschwindet, wird die Hamas den Kampf fortsetzen. In der Zwischenzeit ist Gaza arbeitslos, vom Rest der Welt abgeschnitten, hungrig.
Auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen: Die Blockade, unter der der Gazastreifen steht, ist Israel nur teilweise zuzuschreiben. Im Süden hält Ägypten die Grenze weitgehend geschlossen. Aber darüber redet niemand. So lebt der Gazastreifen von ausländischen Hilfsgeldern. Vor allem aus Katar fließen die Dollars in den belagerten palästinensischen Küstenstreifen. Wohin genau geht das Geld? In die Entwicklung der maroden Wirtschaft vielleicht? Nein. Es fließt in den Bau geheimer Tunnel, durch die man Terroristen nach Israel einschleusen will, es fließt in Raketenabschussbasen und Sprengstoff.
Hamas will keine Integration
5. Die Palästinenser in Israel sind Opfer andauernder Diskriminierung. Allerdings gibt es seit geraumer Zeit Tendenzen junger Araber, sich in die Gesellschaft, im Arbeitsmarkt und an den Hochschulen zu integrieren. Die Hamas wie auch Untergruppen der islamischen Bewegung in Galiläa, in Jerusalem und im Negev lehnen derartige Entwicklungen strikt ab. Wenn die israelische Polizei in die Al-Aksa-Moschee eindringt, ist das für die Hamas ein politisches Kampfmittel, denn es ermöglicht den Islamisten, mithilfe religiöser Empfindlichkeiten den Konflikt anzuheizen.
6. Wer in diesem Kessel rührt, sind die sozialen Netzwerke. Die Tendenz geht hier überwiegend dahin, die höchst komplexe Lage vereinfacht, manipulierend und propagandistisch darzustellen. Daran schließt sich die Berichterstattung im Fernsehen an. In den israelischen Sendern wird die Geschichte zuallererst aus israelischer Perspektive geschildert. Gerade jetzt werden „patriotische“ Stimmen lauter, die sich weigern, der anderen Seite Raum zu lassen. Trotzdem werden auch Palästinenser und oppositionelle Politiker in die Studios eingeladen, sodass das Bild zumindest etwas ausgewogen ist.
Im Gegensatz dazu bleibt die Berichterstattung in Kanälen wie Al-Jazeera komplett einseitig. Al-Jazeera steht inklusive all seiner Reporter unter den Fittichen der Hamas. Hier geht es nicht um die palästinensische Version, sondern um die Narrative der Hamas. Wer die Berichterstattung dieses Kanals verfolgt, muss den Eindruck bekommen, dass Israel gezielt auf Zivilisten schießt. Angriffe auf militärische Ziele erwähnt Al-Jazeera mit keinem Wort.
Selbst wenn die Berichte der Reporter, die Israel als erbarmungslos und völlig boshaft darstellen, der Wahrheit entsprächen, würde es doch keinen Sinn ergeben, dass die israelische Armee nur auf Zivilisten schießt. Wozu genau sollte das gut sein?
Bei Al-Jazeera ist die Rede von einem „Zerstörungskrieg“. Hätte Israel das Ziel, den Gazastreifen zu zerstören, dann läge die Zahl der Toten heute nicht zwischen 200 bis 300, sondern bei mehreren Hunderttausend. Die Wahrheit ist natürlich eine andere. Israel zielt auf militärische Einrichtungen und Kämpfer, die jedoch mitten in der Zivilbevölkerung versteckt sind. Deshalb tragen auch Zivilisten den Schaden, was furchtbar tragisch ist und kaum auszuhalten. Die Frage ist, wie weit es moralisch verantwortlich ist, militärische Ziele inmitten der zivilen Bevölkerung anzugreifen.
7. Nicht wenige Analysten sind der Überzeugung, dass Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und der Minister für Innere Sicherheit Amir Ohana die Lage für sich missbrauchen, um die Koalitionsbildung des oppositionellen Lagers unter der Führung des rechtsliberalen Jair Lapid zu verhindern. Der Gedanke, die beiden Politiker hätten all das so genau geplant, scheint doch ein wenig weit hergeholt. Dennoch gibt es bis heute keine Antwort auf die Frage, warum die israelische Polizei in die Al-Aksa-Moschee eingedrungen ist.
Vorläufig versuchen Netanjahu und Ohana die Krise so darzustellen, dass die Unruhen zuallererst von arabischer Seite ausgingen und unterdrückt werden mussten. Das ist sicher eine Lüge. Schon wird hier der Boden für die nächste Eskalation bereitet. Der Eindruck entsteht, dass Netanjahu den Konflikt mit der Hamas zu einer endlosen Abfolge von Schlagabtausch-Runden machen will, dass er die Hamas Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, den er politisch schwächt, vorzieht, weil er nicht an einer Lösung interessiert ist, sondern in Wahrheit an der Fortsetzung des Konflikts.
Netanjahu braucht den Feind, um sich selbst als starke Führungsperson zu inszenieren. Zudem würde ihm eine echte Friedenslösung schwere Zugeständnisse abfordern.
Die Scherben müssen zusammengefegt werden
Die Lage ist komplex. Und schlecht – sehr schlecht. Es ist keine Geschichte von Gerechten. Israel ist schuld an der Not und der andauernden Diskriminierung der Palästinenser und verschärft damit Tendenzen zu nationaler und religiöser Radikalisierung. Wenn die Bundesregierung daran festhält, Israel um jeden Preis zu verteidigen, dann sollten sich die Deutschen darüber klar sein, von welchem Israel die Rede ist: einer überwiegend rechten Gesellschaft, die in weiten Teilen religiös, militant und oft rassistisch ist. Noch gibt es liberale, pluralistische Kräfte, aber sie werden weniger.
Das heutige Israel gehört zum großen Teil den jungen Leuten, die auf die Straßen zogen, um Araber zu töten; es gehört religiösen Gruppen, die sich in gemischten jüdisch-arabischen Städten breitmachen und Überlegenheit demonstrieren. Die ersten Unruhen, die von arabischer Seite ausgingen, richteten sich genau gegen diese Gruppen.
Die Palästinenser ihrerseits haben völlig recht, wenn sie gleiche Rechte und Selbstbestimmung fordern. Doch von dem Moment an, wo ihr Narrativ religiös-extremistisch wird, von dem Moment an, wo sie Kompromisse ablehnen, von dem Moment an, wo sie losziehen, um Synagogen in Brand zu stecken oder jüdische Passanten zu lynchen, ist ihr Kampf nicht mehr zu rechtfertigen.
Was bleibt, ist, die Scherben zusammenzufegen. Schon jetzt entstehen zahlreiche Initiativen, die für das Zusammenleben und die friedliche Koexistenz einstehen. Ob sich diese Kräfte gegen das Inferno durchsetzen, das sich in den vergangenen Tagen wie ein Lauffeuer verbreitete? Im letzten Kapitel vom „Herr der Ringe“, in den schwersten Momenten der Belagerung Gondors, sagt Gandalf zu Pippin: „Es gab nie viel Hoffnung, nur ein Narr konnte hoffen.“ Vielleicht ist das genau, was wir jetzt brauchen. Die Hoffnung der Narren.
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl