piwik no script img

Pazifismus in Zeiten des Krieges

Viele Grüne und Linke haben ihre politischen Wurzeln in der Friedensbewegung. Aber kann Pazifismus noch funktionieren, da in Europa Krieg herrscht? Darüber diskutierte taz-Redakteur Pascal Beucker mit Po­li­ti­ke­r*in­nen ­bei der taz-Seitenwende-Tour in Köln

Pascal Beucker (links), Yazgülü Zeybek (Grüne) und Paul Schäfer (Linke) in der Alten Feuerwache in Köln Foto: David Klammer

Aus Köln Marco Fründt

Ich komme aus einer Zeit, in der man geglaubt hat, man könnte auch ohne Waffen das Leben auf dem Planeten erträglich gestalten“, sagt ein Zuhörer. Heute diskutiere man nur darüber, welcher Panzer oder welche Drohne die geeignetere sei. Ob in den Parteien, bei den Linken und den Grünen, überhaupt noch Ideen zum Pazifismus diskutiert werden, fragt er. Genau darum soll es bei der taz-Podiumsdiskussion zwischen Yazgülü Zeybek, der Co-Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen Grünen, und dem ehemaligen verteidigungspolitischen Sprecher der Linkspartei, Paul Schäfer, gehen. Den Abend moderiert taz-Inlandsredakteur Pascal Beucker.

Die Sitze in der Alten Feuerwache im Kölner Agnesviertel sind an diesem Freitagabend voll besetzt – trotz strahlendem Sonnenschein und vielen Erkälteten. Der Saal hat sich schnell gefüllt, viele sind früher gekommen. Zeybek, Schäfer und Beucker diskutieren, ob und wie ein Pazifismus auch jetzt noch funktionieren kann, da in Europa Krieg herrscht. Denn spätestens seit Russland die Ukraine angegriffen hat, stehen pazifistische Positionen unter Druck.

Es ist der Abend des 16. Mai. Am Nachmittag hat das erste Zusammentreffen der Kriegsparteien Russland und Ukraine seit 2022 stattgefunden. Zwar waren bei dem nur zweistündigen Gespräch nicht die beiden Staatschefs Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj anwesend, immerhin wurde aber ein groß angelegter Austausch von Kriegsgefangenen vereinbart. Dass Putin der Einladung nach Istanbul nicht gefolgt ist, hält die Grünen-Co-Vorsitzende Yazgülü Zeybek nicht nur für die Ukraine für fatal: „Auch Russland hätte es verdient, dass Putin bereit ist, solche Gespräche auf höchster Ebene zu führen.“ Denn die Hoffnung auf einen diplomatischen Ausweg aus dem Krieg dürfe man nicht aufgeben, sagt die Grünenpolitikerin.

„Wenn man sich die Lage an der Front anschaut, sind Putins Leute in einer starken Position. Solange das so ist, bin ich sehr skeptisch, ob es möglich ist, einen Durchbruch bei Verhandlungen zu erzielen“, widerspricht Paul Schäfer von der Linkspartei. Wo er Zeybek zustimme: Ein Kriegsende müsse durch Verhandlungen erreicht werden. Auch beim Publikum findet diese Position Anklang, unter den etwa 80 Anwesenden sind viele nickende Köpfe zu sehen. Die Schlüsselfrage, da sind sich die Re­fe­ren­t:in­nen einig, sei die nach dem Wie. Es brauche vor allem Russlands Bereitschaft, den Krieg zu beenden, findet Zeybek. Um Garantien stehe es dabei jedoch schlecht. „Russland hat bisher mehrfach Abkommen gebrochen. Wo ist da die Glaubwürdigkeit?“

Wladimir Putin verfolge mit seinem Krieg mehrere Ziele, so Schäfer. Zum einen wolle er Russlands Einflusszone in der Ukraine sichern, zum anderen solle Russland wieder „eine Rolle in der Welt spielen“. „Russland wirft begehrliche Blicke auf das Gebiet des ehemaligen Zarenreichs“, so Schäfer. Dahinter stehe eine neoimperiale Politik. Allerdings, betont der ehemalige Verteidigungspolitiker, müsse man dagegen anders vorgehen als durch Aufrüstung. „Das können wir uns auch vor dem Hintergrund des Klimawandels einfach nicht leisten.“ Kriege, so zeigen Untersuchungen, heizen die Klimakrise massiv an.

An der Militärfrage komme man aber trotzdem nicht vorbei. „Leider muss man Putin zeigen, dass er in der Ukraine nicht durchkommt. Das darf er nicht“, so Schäfer. Am Ende, vermutet der Linkenpolitiker, wird es eine Ukraine geben müssen, die auf Teile ihrer Gebiete verzichtet und nicht Teil der Nato ist. „Diese Kompromisse werden sehr hart, auch, weil sie die russische Aggression belohnen. Aber das ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe.“

„Ich finde diese Feststellung sehr tragisch“, kommentiert Zeybek, „Dort sterben noch immer täglich Menschen. In so einer Situation dann aus dem sicheren Deutschland heraus zu sagen, tut uns leid, liebe Ukrainer, aber ihr müsst das akzeptieren, ist tragisch.“ Viele Zu­schaue­r:in­nen machen diese Worte sichtlich betroffen, einige halten sich betreten die Hand vor den Mund, kurz wird es ganz still im Saal.

Dennoch sei die derzeitige Linie mit Blick auf die Kräfteverhältnisse nicht zu halten, sagt Schäfer. „Vor allem nicht, wenn die USA aussteigen. So bitter das ist.“ So könne für Grünenpolitikerin Yazgülü Zeybek aber kein nachhaltiger Frieden entstehen. „Russland ist keine Demokratie. Man kann den Menschen in der Ukraine keinen Frieden in Unterdrückung zumuten, nur Frieden in Freiheit“, sagt sie. Schäfer sieht die Lösung dafür in zivilem Ungehorsam. Dieser müsse nur so stark werden, dass sich dann die politischen Verhältnisse innergesellschaftlich ändern.

Die Partei Bündnis 90/Die Grünen ist nicht nur aus der Umwelt-, sondern auch aus der Friedensbewegung heraus entstanden. In den vergangenen drei Jahren stand die Partei als Teil der Bundesregierung und angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen unter Druck. Manche Kri­ti­ke­r:in­nen warfen den Grünen, die sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, sogar „Kriegstreiberei“ vor. Diesen Vorwurf möchte Yazgülü Zeybek nicht unbeantwortet lassen: „Meine Partei und ich haben uns immer für den Frieden starkgemacht. Aber wir leben heute in einer Welt, in der Russland Völkerrecht bricht und Kriegsverbrechen begeht.“ Möglicherweise gewinne die Ukraine nicht militärisch. „Aber sie darf nicht verlieren“, betont Zeybek. Man sehe auch die Sorge in Polen und dem Baltikum: „Ob Putin an den Grenzen der Ukraine stehen bleiben würde, wissen wir nicht.“

Dass Russland einen Nato-Staat angreift, hält Paul Schäfer für unwahrscheinlich. „Solch ein Angriff wäre selbstmörderisch für Putin. Deshalb versucht er auf andere Art, seinen Einfluss auszubauen.“ An dieser Stelle ruft eine Zuhörerin ungläubig dazwischen: „Aber wir können doch nicht davon ausgehen, dass die Nato in der jetzigen Form weiter bestehen bleibt!“

Auf der Bühne geht es konfrontativ weiter. „Was ich nicht verstehe, ist, warum die Grünen sich dafür einsetzen, hundert Milliarden Euro in Aufrüstung zu stecken. Das machen doch alle anderen Parteien schon“, sagt Schäfer. Wir sind in der Parteipolitik angekommen. Zeybek entgegnet gereizt: „Das war nie unsere Position. Für uns war von Anfang an klar, dass das Sondervermögen nicht nur in Waffen, sondern auch in andere Bereiche der Verteidigungsfähigkeit investiert werden muss.“ Gemeint ist Cybersicherheit. Seit vielen Jahren sind Panzer und Raketen nicht mehr die einzige Form der Kriegsführung. Angriffe auf Webseiten der kritischen Infrastruktur wie Behörden und Medien oder Sabotageakte gehören auch in Deutschland längst zum Alltag. Zeybek geht zum Konter über: „Was soll Ihrer Partei zufolge eigentlich mit der Ukraine passieren, wenn sie den Krieg nicht fortsetzen kann? Das ist mir nicht klar.“ „Mir auch nicht“, antwortet Schäfer und bekommt vom Publikum die erwartete amüsierte Reaktion.

Mensch zu sein ist das, was die Zu­hö­re­r:in­nen mögen, das hat Schäfer verstanden. In fast habeckscher Manier beichtet er ab und an, dies nicht zu wissen oder jenes nicht zu verstehen. Die Leute kennen die Debatte, sie kennen die Argumente. Der 76-jährige Linkenpolitiker schafft es in dem Gespräch durchaus besser als die 39-jährige Zeybek, authentisch zu wirken und den Eindruck entstehen zu lassen, er spreche „Klartext“ und halte keine hohlen Politikerreden. Als Oppositionspolitiker hat er einerseits den Vorteil, dass seine Partei keine Kompromisslasten aus Regierungszeiten mit sich trägt. Andererseits scheint sich auch beim Thema Pazifismus eine generationelle Trennlinie zu ziehen: das Publikum ist ihm, trotz einzelner Menschen in den Zwanzigern sowie wenigen Kindern, alterstechnisch weitaus näher als seiner 39-jährigen Grünen-Kollegin. Ein Zuhörer wird die Altersverteilung im Publikum im weiteren Diskussionsverlauf „bezeichnend“ nennen.

Nächster Punkt: Warum reden Grüne und Linke nur noch halbherzig über Sanktionen? Schäfer sieht „Uneinigkeit in der EU“ als Grund. Was Putin stark mache, sei sein militärisches Potenzial, aber auch „viele internationale Unterstützer beziehungsweise viele, die nicht intervenieren wollen“, sagt er. „Denen muss die EU etwas anbieten, das macht es natürlich noch mal komplizierter“. Zeybek fordert: „Das beste Mittel gegen Erpressbarkeit ist es, sich durch erneuerbare Energien unabhängig von fossilen Importen zu machen.“

Sichtlich ungeduldig haben viele im Publikum darauf gewartet, dass die Diskussion geöffnet wird. Als es so weit ist, schnellen Hände in die Höhe. Die Zuhörerin im weiß-blau-gestreiften Oberteil erinnert nachdrücklich an ihre dazwischengeworfene Frage, ob der Nato nicht ein Zusammenbruch drohe. Paul Schäfer glaubt an ein Weiterbestehen der Nato. Aber: „Der europäische Pfeiler der Nato wird gestärkt werden müssen.“

Ein Zuhörer erklärt: „In meiner Jugend war ich froh über jede Bombe, die entschärft wird. Meine Kinder hingegen wachsen in eine Welt hinein, in der immer mehr Waffen gefordert werden“, sagt er merklich verzweifelt. „Ich verstehe nicht, warum das Geld jetzt so locker sitzt, es in den letzten Dekaden aber nicht zur Verfügung stand, um eine Gemeinschaft aufzubauen, sodass Europa geschlossen so einem Aggressor gegenübertreten kann“, fügt er hinzu. Das Gros der Zu­hö­re­r:in­nen hat er auf seiner Seite. Dort herrscht breites Unverständnis darüber, dass ihrem Eindruck nach pazifistische Ideen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt würden.

Wie er seinen Kindern erklären solle, dass in der aktuellen Politik die Themen „Aggressivität und Militär“ eine so große Rolle spielten, wisse der Mann nicht, sagt er. Die Gefühle der Verunsicherung konnten aber auch die Re­fe­ren­t:in­nen nicht auflösen. Für den Zuhörer eine Enttäuschung: „Das, was aktuell in der Welt passiert, will ich nicht. Ich hatte gehofft, heute Abend Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen zu erhalten.“ Damit trifft er auch bei anderen einen Nerv, Applaus brandet auf.

„Wir müssen uns durch erneuerbare Energien unabhängig machen“

Yazgülü Zeybek, Grüne NRW

Kann eine pazifistische Theorie die Unsicherheit lindern, vielleicht sogar Antworten liefern? Diese Zwischenfrage einer weiteren Person ist an Moderator Pascal Beucker gerichtet, der vergangenes Jahr ein Buch zum Thema veröffentlicht hat. Beucker protestiert den nickenden Köpfen im Saal zum Trotz: „Aber ich moderiere heute doch nur!“ Eine Zuhörerin ruft: „Aber wir wollen doch Antworten!“ Der taz-Redakteur lenkt ein: Was in der Debatte oft für Unklarheit sorge, sei, Pazifismus mit Radikalpazifismus gleichzusetzen, so Beucker. „Das ist nur eine Variante, die historisch aber immer eine Minderheitsvariante war“, sagt er. Seinen Ursprung habe der Pazifismus in zwei Strömungen, einer religiös geprägten, die in Nordamerika entstanden ist, und der bürgerlichen Friedensbewegung im Europa des 19. Jahrhunderts. Letztere hielt jedoch Gewaltanwendung im Verteidigungsfall für zulässig, genauso wie Angegriffene zu unterstützen. „Der Grundkonsens ist die Ablehnung von Angriffskriegen. Und alle pazifistischen Strömungen wollen Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Aber nicht alle wollen auch die andere Wange hinhalten.“

Die Frau im blau-weiß gestreiften Oberteil kann diese Sichtweise nachvollziehen. Auch sie sei mit pazifistischen Ideen groß geworden, sagt die 70-Jährige. „Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass die Forderung ‚Raus aus der Nato‘ für mich irgendwann nicht mehr als Ziel gilt. Seit drei Jahren ist das anders.“ Der Herr im weißen Hemd nickt, während sie spricht. Ein weiterer meldet sich: „Ich glaube, so unterschiedlich sind die hier vertretenen Positionen von Grünen und Linken gar nicht.“ Yazgülü Zeybek zeigt sich dankbar für die Fragen des Publikums. Vielleicht sei der Grundgedanke des Pazifismus in ihrer Partei im politischen Alltag und angesichts „der Rea­lität des Krieges“ nicht immer wahrnehmbar gewesen. Aber, so sagt sie, sie nehme die vielfältigen Sorgen, die geäußert wurden, ernst. Sie selbst frage sich: „Wie reagiert man auf jemanden, der sich nicht an die Spielregeln hält?“

Frieden in der Ukraine sei das ultimative Ziel, so Zeybek. „Aber nicht zum Preis, in Putins Diktatur leben zu müssen. Und auch wir können der Ukraine nicht vorschreiben, welche Bedingungen sie akzeptieren muss.“ Das Pazifismusverständnis müsse aber dennoch in die Überlegungen zum Umgang mit Putin einfließen, betont sie. Das sieht auch Linkenpolitiker Schäfer so. Pazifismus, glaubt er, sei das „Gegengift gegen die in der Debatte herrschende Sprache der Gewalt“. Das stößt im Saal nur noch auf leise geraunte Bejahungen. Der Abend war lang – und die Zuhörenden fast zwei Stunden lang hochkonzentriert.

Am Ende bleiben viele aus dem Publikum dennoch im Saal. Schnell bilden sich kleinere Grüppchen, manche kennen sich, manche führen die vorherige Diskussion weiter. Untereinander, aber auch mit den Referent:innen. Erst als die Stühle aufgeräumt werden, verlassen die letzten Zu­hö­re­r:in­nen den Saal. Die Sorgen, so hat es sich gezeigt, sind groß. Und so auch der Redebedarf, den eine Podiumsdiskussion allein nicht decken kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen