Pädophilie in Kreuzberg: Was keiner wissen durfte
Im Kreuzberg von heute sieht man es kaum. In den 80er Jahren wurden hier Kinder missbraucht. Die Täter kamen oft aus dem alternativ-grünen Milieu.
Als die Berliner Grünen am 20. Mai die Presse in ihre Landesgeschäftsstelle luden, war der Saal voll. Und die Spannung fast mit Händen zu greifen. Was würde in dem lang erwarteten Bericht zu pädophilenfreundlichen Positionen in der grünen Frühphase stehen? Neue Enthüllungen über (Schreibtisch)-Täter? Erstmals konkrete Opferzahlen?
Nein, Sensationen lieferte die 90 Seiten starke Broschüre nicht. Die wesentlichen Namen und „einschlägigen“ Parteigremien kannte man bereits. Trotzdem war der Bericht erschütternd. Und er wirkte nach. Denn er ließ ein Kreuzberg auferstehen, von dem heutige Bewohner nichts wissen können. Und frühere Bewohner nichts mehr wissen wollen.
Der Falckensteinkeller, ein von Pädophilen betriebener Kinderfreizeittreff im Souterrain: Hier wurden über Jahre hinweg Kinder missbraucht. Von einem Grünen, der sich im „Schwulenbereich“ der Partei wortgewaltig für die Rechte Pädosexueller einsetzte – wenn er nicht gerade im Knast saß.
Nur eine Straße weiter, auch das steht im Bericht, hatten Pädosexuelle Wohnungen zum Zweck des Missbrauchs angemietet. Sozialarbeiterinnen, die Opfer zu Prozessen begleiteten, fiel irgendwann auf, dass die Täter immer bei der selben Adresse gemeldet waren.
Als Sozialpädagoge kümmerte er sich im Berlin der Achtziger um sexuell missbrauchte Jungen. Heute gerät ein Gespräch mit Christian Spoden zur Zeitreise – in ein Kreuzberg, von dem bis heute viele zu wenig wissen wollen. Das Titelgeschichte „Kreuzberg war ein Jagdrevier“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. August 2015. Außerdem: Das Binnen-I stört. Und jetzt machen ihm auch noch Sternchen, Unterstrich und x Konkurrenz. JournalistInnen, Feminist_innen und Expertx streiten über die neuen Versuche, gendergerecht zu schreiben. Und: Viele empören sich über den Vorwurf des „Landesverrats“ gegen die Blogger von Netzpolitik.org. Wofür würden Sie ihr Land verraten? Die Streitfrage – mit einem Gastbeitrag des Netzaktivisten Jacob Appelbaum. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Pädosexualität war ein Nischenthema
Lange habe ich mitten im ehemaligen „Pädo-Kiez“ gewohnt, ohne es zu wissen. Wrangel- Ecke Falckensteinstraße. Heute ein lebendiges Viertel in Spree-Nähe mit unzähligen Bars, Restaurants, Galerien. Ich lebte gegenüber des Stadtteilladens, der zeitweise als „Kinderbörse“ gedient haben soll. Spazierte über den Kinderbauernhof, wo ein halbnackter Pädosexueller sich so offensiv an Kinder rangemacht hatte, dass er zum Problem fürs Kollektiv wurde. Und ich schrieb Radiobeiträge über die Eberhard-Klein-Oberschule, ohne je den „Hausaufgabenbus“ auf der anderen Straßenseite gesehen zu haben, in den Täter nachmittags Kinder gelockt hatten.
Wie kann es sein, dass sich Menschen, die Kinder missbraucht haben, als Pädagogen ausgeben? Dass sich hartgesottene Pädokriminelle in Parteistrukturen einnisten und unverhohlen für „einvernehmlichen Sex“ zwischen Erwachsenen und Kindern werben? Was war da bloß los in Kreuzberg? Und wo war eigentlich die Polizei?
Vielleicht muss man dabei gewesen sein, damals, um Antworten zu finden. Muss die von Kohlenstaub und Ostindustrie verseuchte Luft geatmet, das Elend der Hinterhöfe gesehen, den Aufbruch in den besetzten Häusern gespürt haben. Vielleicht aber hilft auch das nicht. Selbst in den Achtzigerjahren waren Kindesmissbrauch und Pädosexualität Nischenthemen, für die sich nur ein sehr kleiner Kreis interessierte. An den anderen ging das, was in Kinderfreizeiteinrichtungen, Wohnungen oder Gruppen der Alternativen Liste passierte, vorbei.
Es braucht deshalb jemanden wie Christian Spoden, um die Schattentopografie des „Pädo-Bezirks“ Kreuzberg zu deuten. Der Sozialpädagoge kam Mitte der Achtzigerjahre aus den USA nach Kreuzberg. Im Auftrag des Bezirksamts sollte er an einer Schule missbrauchten Kindern zur Seite stehen. Im Interview mit der taz.am wochenende vom 8./9. August erzählt Spoden Geschichten, die entsetzen. Von skrupellosen Tätern, verrohten Kindern, naiven Pädo-Propagandisten. Aber auch von Zwängen und Verstrickungen, die bis heute die Aufklärung behindern. Spoden wünscht sich, dass die Kinder von damals reden. Er fühlt sich immer noch als ihr Anwalt. Sie sollen erzählen, was damals keiner wissen durfte. Und bis heute viel zu wenige wissen.
Was meinen Sie? Ist ein Gespräch in der Zeitung der richtige Weg, Gewaltbetroffene anzusprechen? Sollte man das Stochern in der Vergangenheit lieber einstellen und es den Kindern von damals überlassen, ob sie weitere Aufklärung wünschen?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Kreuzberg war ein Jagdrevier“ lesen Sie in der taz. am wochenende vom 8./9. August 2015.
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