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Opposition in RusslandVom Heldensockel gestoßen

Amnesty International sieht Alexei Nawalny nicht länger als „Prisoner of Conscience“. Die deutsche Sektion reagiert überrascht.

Nawalny wird bei der Rückkehr aus Deutschland am Moskauer Flughafen festgenommen Foto: Sergei Bobylev/Itar-Tass/imago

BERLIN taz | Die Nachricht vom Mittwoch hatte es in sich: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) entzieht dem inhaftierten Kremlkritiker Alexei Nawalny den Status des „Prisoner of Conscience“. Zur Begründung sagte der Sprecher des Amnesty-Büros in Moskau, Alexander Artjomow, es habe eine Flut von Anfragen „besorgter Bürger“ zu xenophoben Kommentaren Nawalnys gegeben, die dieser in der Vergangenheit gemacht, aber nie zurückgenommen habe.

Auch Nelson Mandela sei dieser Status in den 60er Jahren entzogen worden, erläutert Amnesty

Dabei geht es AI unter anderem um ein 15 Jahre altes Video, in dem Nawalny Migranten als „Kakerlaken“ verunglimpft. In einem anderen Video aus den frühen nuller Jahren ist Nawalny in die Arbeitskluft eines Zahnarztes geschlüpft, der, flankiert von Fotos mit ausländischen Arbeitskräften, dazu aufruft, „alles, was uns lästig ist, wie verrottete Zähne zu entfernen“.

„Nawalny kann kein Prisoner of Conscience sein. Denn das ist jemand, der niemals Hass oder Gewalt befürwortet oder Hasssprache verwendet“, zitiert die BBC Alexander Artjomow. Auch Nelson Mandela sei dieser Status in den 60er Jahren entzogen worden, nachdem er sich für die Anwendung von Gewalt gegen das Apartheid-Regime ausgesprochen habe.

Absolute Gewaltfreiheit ist es also, die AI als Kriterium für die Einstufung von Repressierten als Prisoner of Conscience – was mit „gewaltloser politischer Gefangener“ nur unzureichend ins Deutsche übersetzt ist – heranzieht. In einer Definition von Amnesty heißt es dazu, als gewaltlose politische Gefangene (PoC – prisoner of conscience) bezeichne Amnesty International Personen, die weder Gewalt angewendet noch dazu aufgerufen hätten und aufgrund ihrer friedlichen Aktivitäten inhaftiert seien.

Eine Frage der Definition

AI setze sich – unabhängig von der Bezeichnung – für politische und alle anderen Gefangenen ein, die aus politischen Gründen im Gefängnis säßen und deren Behandlung menschenrechtlichen Standards widerspreche, wie zum Beispiel durch unfaire Verfahren, Folter oder die Todesstrafe.

Offensichtlich scheint diese Charakterisierung Nawalnys als gewaltlosem politischen Gefangenen jetzt nicht mehr zuzutreffen. Der 44-Jährige war nach einem monatelangen Aufenthalt in Deutschland infolge einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok am 17. Januar nach Russland zurückgekehrt und unmittelbar nach seiner Ankunft festgenommen und inhaftiert worden.

Der Vorwurf lautete auf Verstoß gegen Bewährungsauflagen, die sich auf eine Verurteilung im Jahre 2014 wegen Betrugs des französischen Kosmetikherstellers Yves Rocher beziehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2019 als politisch motiviert eingestuft.

Am 2. Februar verurteilte ein Moskauer Gericht Nawalny zu drei Jahren und fünf Monaten Lagerhaft abzüglich bereits früher abgesessener Arrest- und Haftstrafen. Am vergangenen Samstag scheiterte ein Berufungsantrag Nawalnys vor Gericht. Zudem wurde er wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen zu einer Geldstrafe von umgerechnet knapp 10.000 Euro verurteilt.

Eine schillernde Persönlichkeit als Kronzeugin

Einige der „besorgten Bürger“ im Fall Nawalnys hatten sich bei ihren Anfragen unter anderem auf Tweets der freien Journalistin Katja Kazbek bezogen. Sie hatte die besagten Videos gepostet und Nawalny als „bekennenden Rassisten“ bezeichnet, dessen Anhänger ihn von seinen Nationalismus „reinwaschen wollten“. Kazbek, deren Beträge häufig auf dem Kreml-nahen Sender RT veröffentlicht werden, ist eine durchaus schillernde Persönlichkeit.

Die selbsternannte Feministin und Sozialistin, die sich auch für die Belange von Angehörigen der LGBTQ-Community interessiert, lebt in den USA und das vor allem auf Kosten ihres millionenschweren Vaters Juri Dubowitzki, wie das russische Investigativportal Insider ru schreibt.

In einem ihrer Tweets beschreibt sie Josef Stalin als jemanden, der mehr für die Menschheit getan habe als die Mehrheit bürgerlicher Politiker wie George Washington, Thomas Jefferson und John F. Kennedy. Alexei Nawalny sei von der US-Regierung kontrolliert, heißt es an anderer Stelle. Auch zu den monatelangen Protesten in Belarus hatte sie Eigentümliches beizutragen. Diese habe der Westen organisiert – mit dem Ziel, eine „farbige Revolution“ zu provozieren.

Das alles ist die wortgetreue Wiederholung der Kremlpropaganda, die jetzt, wenngleich an ungewöhnlicher Stelle, offenbar endlich auf fruchtbaren Boden fällt. So jedenfalls sieht es die russische Fernsehjournalistin und Chefredakteurin der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Segodnja (Russland heute), Margarita Simonyan, die für ihre Lobeshymnen auf Präsident Wladimir Putin legendär ist. Auf Twitter feierte sie die Entscheidung von AI als „Erfolg unserer Kolumnistin Katja Kazbek“.

Amnesty-Kampagne für Nawalny geht weiter

Bei zahlreichen AI-Aktiven hingegen, die von dem jüngsten AI-Winkelzug völlig überrascht worden waren, machten sich Unverständnis und Unbehagen breit. Die deutsche Sektion bemühte sich am Mittwoch um Schadensbegrenzung. In einer Erklärung auf der Webseite hieß es, Nawalnys Verhaftung und Inhaftierung seien willkürlich und politisch motiviert. AI fordere seine sofortige und bedingungslose Freilassung. Und: „Die Amnesty-Kampage zur Beendigung des schweren Unrechts, das Nawalny und vielen anderen in Russland angetan wurde und wird, geht weiter – unabhängig davon, ob Nawalny für Amnesty den Status eines Prisoners of Conscience trägt.“

Auch Peter Franck, Russland-Experte bei Amnesty Deutschland, wurde kalt erwischt und will jetzt erst einmal Ursachenforschung betreiben, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist. „Wir bedauern, wenn aufgrund dieser Entscheidung der Eindruck entstanden ist, dass sich an unserer Beurteilung des Falles etwas geändert hätte. Das ist nicht so: Alexei Nawalny wird politisch verfolgt, ist zu Unrecht in Haft“, sagte Franck dertaz.

Er hoffe, dass nicht die Rechnung derjenigen aufgehe, die den Disput zulasten von Navalny und derer, die für seine Freilassung eingetreten seien, propagandistisch nutzten.

Doch das dürfte wohl ein frommer Wunsch bleiben, genauso wie der Wunsch, Amnesty als Organisation werde keinen Schaden nehmen und könne schnell wieder zur Tagesordnung übergehen. Doch wie heißt das russische Sprichwort so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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15 Kommentare

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  • Ich will diese rassistischen Videos von vor 15 oder 20 Jahren nicht verharmlosen. Sie sind ganz schön krass. AI muss sich aber davon verabschieden, dass politische Gefangene, die zu Unrecht eingesperrt sind und in ihrem politischen Engagement, für das sie eingesperrt werden, fewaltlis sind, immer und zu allen Zeiten makellose Engel sind. Es sind immer Menschen. Worauf es doch ankommt ist: wofür werden sie verfolgt und haben sie bei diesem Engagement zu Gewalt aufgerufen? Navalny ist ja nicht für frühere rassistische Videos in Haft. Schön wär`s! Und wenn Menschen gewalttätig gewesen sind oder etwas Vergleichbares getan haben, dann muss man unterscheiden: wie schlimm war es? Wie weit in der Vergangenheit liegt es? Haben sie glaubhaft und seit langem eine andere Richtung eingeschlagen?

    Es geht nicht zu sagen: Jeder prisoner if conscience muss sein Leben lang Mutter Theresa gewesen sein. Damit spielt man nur den Mächtigen in die Hände, die sich selber alles Mögliche erlauben, bis hin zum Mord, aber wenn sie gewaltlos kritisiert werden, zeigen sie mit dem Finger auf den Kritiker und sagen: what about....?

  • Selbst- und Fremdernennungen

    Zitat: „Die selbsternannte Feministin und Sozialistin...“

    Bei dieser beliebten Diskursfigur stellt sich regelmäßig die Frage, von wem soll man denn sonst dazu „ernannt“ worden sein, wenn nicht von einem selbst? Das Gegenteil von „selbsternannt“ wäre „fremdernannt“. Welches wäre dann die höhere Instanz für solcherart von Ernennungen? Wer wäre von wem mit welcher Kompetenz und Legitimität dazu berufen, ihr anzugehören? Nach welchen Kriterien vergäbe sie die politischen Etiketten?

    Übrigens: Hat man jemals von dem Titel "Selbsternannter Demokrat" gehört?

    • @Reinhardt Gutsche:

      Neben „selbsternannte XYZ“ (Metapher zur Negation der Qualifizierung einer Person) wird hier noch eine weitere Metapher, gegen die über Navalny’s Kakerlaken Tiervergleich zu Recht besorgten russischen Bürger eingeführt. Ihre Sorge wird bezweifelt bzw. ihre Kompetenz als Sorgende wird negiert, durch Addition von Anführungsstrichen („“) in Form von „besorgte Bürger“. Und zwar gleich zweimal „ „besorgte Bürger“ „ im Artikel, damit erscheint es unübersehbar als wichtig. Unwichtig ob Alexander Artjomow oder der Artikel Autor das „besorgte Bürger“ zuerst als negierende Metapher verwendet hat, vielleicht kann das jemand ermitteln.



      Laut encyclopaedia.fandom.com gilt „besorgte Bürger“ als „Synonym für die Anhänger des Rechtspopulismus in Deutschland. … Besorgte Bürger sehen sich von den etablierten Parteien nicht vertreten… „. Ich bin amüsiert, dass nun diesen wegen Navalny’s Tiervergleich besorgten Bürgern in Russland dieses negative Etikett „besorgte Bürger“ aufgeklebt wird, zumal sie sich wohl durchaus von den etablierten russischen Parteien vertreten fühlen, anders als in Deutschland.

  • Amnesty international hat sich schon lange von einer politisch neutralen, nur den Menschenrechten verpflichteten Agenda verabschiedet. Viele ehemalige Mitglieder von AI verfolgen das schon seit Jahren mit Sorge und Enttäuschung. Dass AI jetzt auf eine offenkundige Kreml-Kampagne so reagiert, ist schändlich. Nawalny wird in Russland politisch verfolgt; daran ändern auch AI-Verrenkungen nichts.

  • 0G
    00842 (Profil gelöscht)

    Die Menschenrechte gelten bekanntlich ohne Ansehen der Person. Fakt ist, dass Nawalny wegen Betrugs verurteilt wurde, aber der vermeintlich Geschädigte (die Firma Yves Rocher) selbst aussagte, gar nicht geschädigt worden zu sein. Nawalny wurde somit ohne Vorliegen des Tatbestands (kein Schaden = kein Betrug) verurteilt. Das war, wie der EGMR zu Recht feststellte, ein politisches Urteil. Man muss mit den Opfern der politischen Justiz nicht sympathisieren, um sich gegen solche Willkürakte auszusprechen.

  • Anstatt sich an der Person Nawalnys abzuarbeiten wäre es vielleicht zielführender, diese Ehrembezeichnung "Prisoners of Conscience" mal (selbst)kritisch zu hinterfragen. Ist es wirklich zielführend, politisch Verfolgte in "reine" und weniger "reine Märtyrer" zu unterteilen?

    • @Amandas:

      Das ist ein sehr guter Vorschlag!

  • Lange hat es gedauert.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Ich hatte schon die ganze Zeit Zweifel an der Person Nawalny gepostet.



    Nie hat er sich zur Demokratie bekannt - mir ist das jedenfalls nicht bekannt.



    Man sieht an diesem Beispiel, was für einen merkwürdigen Außenminister wir haben.

    Darf ich daran erinnern, dass es mal einen Grünen gab, der öffentlich gesagt hat "I am not convinced". Das wäre im Fall Nawalny wohl auch angebracht.

    Ganz anders bei den Frauen in Weißrußland! Die muss man unterstützen. Und das Lukaschenko ein elender Diktator ist, der Frauen zusammenschlagen lässt wird ja wohl keiner bezweifeln. Putin hilft ihm.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Lieber Mister Nice,

      das Argument, Herr Nawalny sei kein Demokrat, weil Ihnen nichts Gegenteiliges bekannt ist, äußern Sie gefühlt in jedem zweiten einschlägigen Artikel hier.

      Ich hatte Ihnen deshalb an anderer Stelle geraten, Russisch zu lernen, weil dies Ihnen erlauben würde, sich ein differenziertes Bild zu verschaffen (sofern denn der Wille dazu vorhanden ist). Da das Sprachenlernen lange dauert, noch ein anderer Tipp: Gerade auf Englisch erschienen (Originalausgabe Russisch und Polnisch 2015):

      Alexey Navalny, Adam Michnik: Opposing Forces: Plotting the new Russia.

      Gibt es als E-book bei Amazon.

      Ihnen empfehle ich besonders das Kapitel: What is Nationalism?

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Was ändert das an der Einschätzung, dass Nawalny zu Unrecht in Haft sitzt? Mann kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er fertig gemacht werden soll, weil er den faulen Kern des Systems Putin ans Licht gezerrt hat.

      Dass Nawalnys politische Positionen eher fragwürdig sind, steht außer Zweifel. Das Problem der deutschen Außenpolitik ist aber eher das, dass man sich gern auf Symbolfiguren konzentriert und die Breite vergeichbarer Fälle ignoriert. Der Grund: Eigentlich will man Russland gegenüber schnell zur Tagesordnung übergehen.

  • Nawalnys rassistische Rülpser sind seit Jahren bekannt:



    www.mdr.de/nachric...limeniouk-100.html



    www.neues-deutschl...ug-zum-helden.html



    Die Entscheidung von AI kommt daher eher reichlich verspätet.

  • Perfektes Timing von AI.

    Genau an der Schnittstelle zwischen Prozess und Straflager.

    Statt zu protestieren, sind die Menschen jetzt erst mal verunsichert.

    Und Nawalny im Straflager wird vergessen - wenn er überhaupt überlebt.

    AI, da kriege ich ganz große Probleme.

    Ein besseres Timing hätte der russische Geheimdienst auch nicht hingekriegt.

  • Nawalny ist ein politischer Gefangener. Daher ist er unbedingt freizulassen und seine Freilassung ist auch zu fordern.



    Nawalny ist auch ein Rechtsextremist. Daher sollte man sich mit seinen politischen Positionen nicht gemein machen, wenn man sich selbst als Demokrat bezeichnen will.

    • @TeeTS:

      Nawalny hat seine abstrusen Meinungen vor mehr als zehn Jahren von sich gegeben. Seitdem hat er sie nicht wiederholt. Von einer Entschuldigung habe ich auch nichts gelesen, möglich, dass er sich davon distanziert hat -öffentlich oder nicht.



      Es ist nicht der Einzige, dem eine kritikwürdige Äußerung noch jahrelang wie ein Klotz am Bein hängt.



      Übrigens: AI Espana hat sich mit 90000 Unterschriften für den Rapper Pablo Hasel eingesetzt, obwohl dieser



      sich massiv und dummdreist, unterlegt mit terroristischen Sprüchen für Gewalt eingesetzt hat.



      Seltsam! Neun Monate Gefängnis ist heftig, dennoch ...