Offene Briefe zum Krieg in der Ukraine: Reden ist Gold
Angesichts des Ukrainekriegs üben sich deutsche Intellektuelle im Verfassen offener Briefe. Schlecht ist das nicht, im Gegenteil.
H er mit den offenen Briefen! Offene Briefe sind toll, offene Briefe sind wichtig, offene Briefe können wir aktuell gut brauchen.
Ich meine das vollkommen ernst. Auch Sie haben dieser Tage bestimmt ein paar hämische Bemerkungen gehört oder gelesen, wonach sich irgendwelche Hanselinnen und Hanseln für keine Unterschrift unter ein hingerotztes Pamphlet zu schade seien. Fix-fix hätten sie sich beim Überfliegen der Briefe zum Angriff Russlands auf die Ukraine eine Meinung gebildet und sich namentlich druntersetzen lassen. Zur Belohnung dürften sie fortan in Talkshows über Panzer, Atombomben und Embargos mitreden. Aber mit welcher Qualifikation eigentlich?
Es qualifiziert sie eben dies: dass sie ihren Namen unter ein Papier gesetzt haben. Doch, das reicht. Mit ihrer Unterschrift haben sie sich für eine Diskussion beworben. Wenn eine Bundesregierung angesichts eines Kriegs in Europa erklärt, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht“ und nun müssten alle bei allem umdenken, dann ist es wirklich sinnvoll, darüber auch mit Leuten ohne Expertise-Hintergrund in Panzer-, Atombomben- oder Embargo-Dingen zu diskutieren.
Mag sein, dass einem Schauspieler dann argumentativ schnell die Puste ausgeht. Oder dass ein Professor so mies rüberkommt, dass er niemanden überzeugt. Doch diese Öffentlichkeit, von der wir hier reden, ist ein reizbares und wankelmütiges Ding, vielen macht sie Angst. Es ist nicht selbstverständlich, als Gast eine Talkshow souverän zu überstehen. Die wenigsten Menschen werden geboren, um adrett frisiert und ohne sichtbaren Schweißausbruch die eigenen Argumente fehlerfrei, korrekt artikuliert und pointiert auf einer Strecke von 60 oder 90 Minuten vorzubringen. Womit die Liste der Voraussetzungen für einen erfolgreichen Auftritt noch nicht einmal komplett wäre.
Deutungsmuster aus Kenntnisgebieten
Wenn sich nun aber Leute – nennen wir sie „Intellektuelle“ – finden, deren Selbstbewusstsein und Zeit ausreichen, sich den Talkshows und Radiointerviews, Podien und Streitgesprächen für Qualitätszeitungen zur Verfügung zu stellen, dann ist das gut. Neben den natürlich sowieso notwendigen ExpertInnen für Panzer et cetera haben sie die Funktion, Deutungsmuster aus ihren je eigenen Kenntnisgebieten beizutragen, um das noch Unverstandene verstehbarer zu machen.
Denn dies ist ja die Leistung, die wir von Intellektuellen erwarten: dass sie Ideen, Bilder und Metaphern liefern, um schwierige Gegenstände auf eine politische Gesprächsebene zu hieven. Ein Krieg mit wirklich gar nicht berechenbaren Folgen bietet sich hierfür übrigens wesentlich mehr an als, sagen wir, ein Virus, das zwar ebenfalls überwältigend wirkt – dies aber immerhin nach naturwissenschaftlichen, also berechenbaren Gesetzen.
Es ist noch nicht so lange her, da bestand ein Gutteil der Feuilletons daraus zu beklagen, dass es keine hör- und sichtbaren Intellektuellen mehr gebe. Die Zeit fragte gefühlt alle acht Wochen, wo denn bitte der nächste „J’accuse“-Rufer sei – der politisch anprangernde Schriftsteller, der es versteht, dramatische Entwicklungen so zu schildern, dass sie das große Publikum auch bewegen. Jetzt haben wir einen ganzen Schwung solcher Leute, die etwas riskieren – und zwar in einer wesentlich unnachsichtigeren Öffentlichkeit als zuvor. Ist doch super.
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