Österreichs Hygienekonzept: Ich halte die Luft an
In Österreich kehrt das alte Leben zurück. Während viele ihren Sekt im Café genießen, kann ich erst entspannen, wenn alle, die wollen, geimpft sind.
Während sich bei Ihnen (oder sind wir nach fast zwei Jahren schon per Du?) in Deutschland die Öffnungsschritte nach Bundesland unterscheiden, hat hier bei uns in Österreich alles – außer den Universitäten – wieder offen: Schulen, Gastronomie, Kulturveranstaltungen – das Land atmet unter Hygienekonzept wieder auf, nur ich halte die Luft an (in der Hoffnung, die Viren der Frau im Café neben mir nicht einzuatmen).
Als ich mir am Mittwoch, dem großen Öffnungstag, einen Coffee-to-go holte, spielte es um 12 Uhr mittags Partymusik, jeder bekam ein Glas Sekt serviert, das Senior*innen lachend zu ihrem Kuchen genossen.
Mein ungeimpftes Ich dagegen wollte nur noch heim. Aber auch von mir erwarten jetzt alle wieder was. Lesungen und Podiumsdiskussionen finden nicht mehr online, sondern wieder vor Publikum statt. Dafür müsste ich eigentlich dankbar sein, aber nach mehreren Stunden im vollen Zug zum Veranstaltungsort hin- und zurück fahren und bis zu 100 Menschen gegenübersitzen, von denen nicht alle die Maske über die Nase ziehen, bin ich eher erschöpft.
Ich bin eigentlich ziemlich robust, aber ich bin nach dieser ersten Öffnungswoche zwei Tage völlig kaputt im Bett gelegen. Ich habe mehrere Coronatests gemacht, weil ich dachte, ich wäre krank, aber es war wohl wirklich nur die mentale Erschöpfung, wenn das Leben von 0 auf 100 aufdreht. Ich hätte ein soft-opening in mein Leben von 2019 gebraucht, einen sanften Übergang. Nicht gleich von Lockdown 5 zur alten Normalität.
Wochen bis wir immunisiert sind
Während österreichische Epidemiologen und Simulationsforscher sagen, dass es keinen weiteren Lockdown mehr in Österreich brauchen werde und von einer Aufhebung der Maskenpflicht sprechen, hat sich in meiner Welt ja nichts geändert (außerdem kriegt mein abgergläubisches Ich immer Schnappatmung, wenn jemand so etwas prophezeit, ohne dreimal auf Holz zu klopfen). Ich bin noch nicht immunisiert, Personen aus meinem nächsten Umfeld sind nicht geimpft und selbst wenn im Sommer dann voraussichtlich alle, die wollen einen Impftermin bekommen, müssen Wochen vergehen, bis wir immunisiert sind.
Kinder und Jugendlichen unter 16 kommen überhaupt erst frühestens im Herbst dran. Eine Schülerin hat mir erzählt, sie würde sich mehr Solidarität von den Älteren und schon Geimpften wünschen. Obwohl der Präsenszunterricht für alle aufgenommen wurde, wollen sich einige ihre Lehrerinnen nicht impfen lassen. Andere glauben, weil sie ihre erste Teilimpfung haben, keine Maske mehr tragen oder Abstand halten zu müssen – dabei sind ihnen die Schüler:innen schutzlos ausgeliefert. In Österreich sind mittlerweile viele der Neuinfizierten unter 18 Jahre alt und Berichte über Long Covid bei jungen Menschen häufen sich. Die Maßnahmenlockerungen werden auf dem Rücken der Jungen ausgetragen.
Auch wenn ich selber bald meinen Impftermin habe – in Wien sind Journalist:innen mit viel Menschenkontakt dran – werde ich erst zu meinem „alten“ Leben zurückkehren, wenn alle, die wollen, geimpft werden. Die Jungen haben ihr gewohntes Leben 1,5 Jahre aufgegeben, vor allem um die jetzt Geimpften zu schützen – also lasst eure verdammten Masken an.
Leser*innenkommentare
Thomas Werner
Na dann bis zum nächsten Virus 🦠
Frank und frei
"Die Jungen haben ihr gewohntes Leben 1,5 Jahre aufgegeben, vor allem um die jetzt Geimpften zu schützen – also lasst eure verdammten Masken an."
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"vor allem um die jetzt Geimpften zu schützen", bedeutet, daß die Jungen diesen Schutz eiigentlich weniger für sich selber brauchten, was ja auch ein Blick in die Todesstatistik auf dem RKI-Dashboard bestätigt.
Wieso sollte sich daran durch die Impfung der "Vulnerablen" etwas geändert haben?
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Die größten Virenverbreiter sind doch diejenigen, welche für Covid-19 anfällig sind, und davon gibt es nach der Impfung der "Vulnerablen" kaum noch welche.
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Wo ich mich letztes Jahr noch über die mangelnde Fähigkeit zu logischem Denken bei der Benutzung von Masken wunderte, könnte ich jetzt in die Maske beißen bei den unlogischen Gedankengängen in Sachen Impfung.
Bunte Kuh
Na toll, endlich wieder das Bier zum fünffachen Preis trinken dürfen. Da dann mal viel Spaß ;-)
Mustardman
Ich habe schon immer gedacht, dass die Spaltung erst dann richtig losgeht, wenn gerade genug Leute geimpft sind, dass sich Maßnahmen politisch nicht mehr so ohne Weiteres durchsetzen lassen, aber immer noch genug Leute lange genug nicht geimpft sein werden, dass es ohne Maßnahmen immer noch sehr konkrete persönliche Gefährdungen ergeben.
Das werden ein paar schwere Monate werden. Ich bin auch noch nicht geimpft, stehe inzwischen immerhin beim Arzt auf der Liste, die aber einen ganzen Schnellhefter einnimmt. Bis zu zwei Wochen nach der zweiten Impfung werde ich mich notgedrungen noch verhalten müssen wie ich es seit einem Jahr tue. Das werden 10 Wochen nach der ersten Impfung bei BionTech sein und 14 Wochen bei AZ. Das ist noch verdammt lange, und ich weiß ja noch nicht einmal, wann ich die erste Impfung bekomme. Und so sieht das bei sehr, sehr vielen anderen auch aus.
Mal sehen, was das mit der Epidemie macht. Ob Leute sich noch zusammenreißen und ob sie brav warten. Und was passiert, wenn sie es nicht tun. Und wie der Herbst verlaufen wird, wenn das "natürliche" Absinken der Infektionszahlen sich wieder umkehren wird. Noch haben wir erheblich höhere Zahlen als vor genau 12 Monaten.
Bunte Kuh
@Mustardman Na, beten wir mal zu Gott, zu Marx, zur Kanzlerin oder zu wem auch immer, dass keine Mutante den Impfschutz wirksam bricht. Bis jetzt passierte das nicht, aber wenn - dann geht die ganze Schei*e komplett von vorn los. "Kleine" Mutationen scheinen ja zeitnah per Impfstopp-"Update" einpflegbar zu sein. Aber ist bei größeren, z.B. einem "Sars-Cov-3" mit gleicher Schadwirkung, aber vollkommen anderer Gestalt?