Notizen aus dem Krieg: Ich habe keine Angst vor dem Tod
Nach dem Coronavirus der Krieg. Die 21-jährige Ukrainerin Polina Fedorenko über die Zeit, die eigentlich die beste ihres Lebens sein sollte.
Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem Informatikstudium. Sie will zur Soziologie wechseln. Fedorenko kommt aus Kyjiw, diese Schreibweise der Stadt ist ihr wichtig, sie entspricht dem ukrainischen Namen, nicht dem russischen. Inzwischen lebt Fedorenko in Lwiw, arbeitet auch als Mathe-Nachhilfelehrerin für Kinder und bestückt im Rahmen eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus dem Krieg.
Der Krieg
Mein Morgen beginnt mit Nachrichten an meine zwei wichtigsten Menschen: meine Mutter und meinen Freund. Dann gehe ich zu Instagram. Neben der Nachricht, dass die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten hat, gibt es eine Menge Posts über den Tod eines Absolventen der Akademie. Semen. Er war ein Jahr älter als ich.
Im Juni gab es viele Berichte über getötete Helden. Der ukrainische Aktivist Roman Ratuschnyj ist einer von ihnen. Er war dagegen, dass der Kyjiwer Skipark Protasiw Jar mit Hochhäusern bebaut wird. Nachdem er von den Russen getötet wurde, hat der Kyjiwer Bürgermeister versprochen, Protasiw Jarnicht zu zerstören. Warum sollte jemand sein Leben für die Ukraine geben, damit solche Entscheidungen getroffen werden können?
Im Alltag
Ein kleiner Einblick in meinen typischen Tag: Der Wecker klingelt um 7 Uhr, ich snooze bis 8 Uhr. Ich frühstücke sehr schnell und setze mich für meine Nachrichtenschicht hin.
Es gibt schon eine gewisse Routine, welche Art von Nachrichten ich zur Veröffentlichung erwarte. Berichte der Streitkräfte der Ukraine, Berichte des britischen Geheimdienstes, Informationen über die Zahl der von den Russen getöteten Kinder, Informationen über nächtlichen und morgendlichen Beschuss, Informationen über die Kämpfe im Osten und Süden. Daneben variiert die Nachrichtenlage von Tag zu Tag. Manchmal gibt es Nachrichten über den Ausbruch der Cholera in Mariupol, manchmal über die Lieferung neuer Waffen, manchmal über ein Treffen mit jemandem im Ausland. In Momenten, in denen es keine Nachrichten gibt, schaue ich mir Videos auf Youtube über Menschenrechte an oder zeichne.
Dann Mittagessen oder nicht. Das hängt von meiner Laune ab. Normalerweise beginnt gegen 15 Uhr mein Unterricht mit den Schülern. Mathe und Unterrichten sind zwei Dinge, die mir nach meiner Nachrichtenschicht Kraft geben. Wenn ich danach noch Energie habe, bereite ich mich auf die Prüfungen vor, die ich bestehen muss, damit ich zum Soziologiestudium wechseln kann.
Obligatorischer Spaziergang.
Lesen am Abend.
Schlafen.
Und dann geht alles wieder von vorne los.
Meine Mutter
Ich wache im Haus meiner Eltern in Kyjiw auf. Die Sonne scheint durch die Balkontür, meine Katze Sarah schaut mich an. Ich möchte noch schlafen, aber die Frühschicht beginnt um 8 Uhr, und vorher muss ich noch duschen und frühstücken.
Mama backt Käsekuchen. Ihr Haar sieht jetzt aus wie eine Pusteblume: Kleine Locken stehen in alle Richtungen ab. Ich erinnere mich, dass meine Mutter früher, als ihre Haare noch schulterlang waren, ihre Frisur „eine Nudelfabrik-Explosion“ nannte. Jetzt kann sie es kaum erwarten, dass ihre Haare wieder wachsen.
Meine Mutter hat immer noch Krebs, und ich habe immer noch mit Depressionen zu kämpfen. Sowohl sie als auch ich hätten die Behandlung bereits abschließen sollen: Sie im Oktober, als ihr Arzt sagte, sie sei bereits in Remission, und ich im Juni, als mein Zustand schon so lange normal sein sollte, dass man sagen kann, dass er sich nicht verschlechtern wird. Meine Mutter hat noch vier Chemotherapien vor sich, ich muss noch drei Monate lang Medikamente nehmen.
Manchmal weine ich über die Nachrichten. Ich kann nicht genau sagen, über welche, aber manchmal kommt ein Moment, in dem ich anfange, leise zu schluchzen und zu zittern. Vor ein paar Tagen sah ich das Foto eines kleinen Mädchens, das im Schlaf durch eine Explosion in der Region Odessa getötet wurde. Und heute waren es die Nachrichten über Menschen, die ihr Leben durch Suizid beenden, weil sie in den von den Russen besetzten Gebieten nicht die notwendigen Medikamente haben.
Ich versuche mir vorzustellen, was ich tun würde, wenn ich dort wäre. Wenn meine Mutter in Kachowka wäre, und wir kämen nicht mehr weg. Wenn meine Mutter behandelt werden müsste, es aber keine Schmerztabletten gäbe. Keine Medikamente, die die Anzahl der Blutplättchen erhöhen. Was wäre dann?
Jetzt fällt es mir schwer, mir Youtube-Videos von Gleichaltrigen aus anderen Ländern anzuschauen, die auf Partys gehen, ein Studium im Ausland planen, in Restaurants gehen, zu Ausstellungen, auf Reisen. Ich könnte diese Person sein.
Aber ich beschwere mich nicht. Es könnte viel schlimmer sein. Ich könnte in Mariupol oder Cherson sein. Ich könnte tot sein. Doch das wäre keine schlechte Option. Sie ist neutral.
Vor ein paar Monaten, als mein Freund in russischer Gefangenschaft war (er wurde gegen seinen Willen dorthin überstellt, weil er aufgrund schwerer Verletzungen bewusstlos war), habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich mich entscheiden würde: Sterben oder Leben in Russland.
Und dann erinnerte ich mich daran, wie ich Anfang Februar meinen jüngeren Bruder zum Vorbereitungsunterricht für die Schule brachte, und da war schon viel vom Krieg die Rede, es ging höchstens um ein paar Wochen, und ich erlaubte mir zum ersten Mal, diese Entwicklung der Ereignisse nicht zu leugnen. Ich stellte mir die Trikolore in Kyjiw vor, wie mein Vater und ich nach Hause fuhren, und wie die russische Flagge auf dem Hochhaus wehte statt unserer blau-gelben, und da wusste ich schon, wie meine Wahl ausfallen würde.
Es ist besser zu sterben, als in Russland zu leben. Es ist besser, sein Leben zu riskieren, indem man sich der Widerstandsbewegung anschließt, es ist besser, sich freiwillig in ein Auto zu setzen und Verwundete zu transportieren oder humanitäre Hilfe zu leisten, als in Russland zu leben. Und falls ich zur Armee eingezogen werde, wird es die größte Ehre für mich sein, meine Heimat zu verteidigen.
Deshalb habe ich auch keine Angst vor dem Tod. Ich habe Angst davor, eine russische Frau zu werden, die den Mord an anderen Menschen in einem anderen unabhängigen Staat unterstützt.
Den Kopf frei kriegen
Heute ist Sonntag. Am Morgen habe ich bereits an den Nachrichten gearbeitet, hatte eine Besprechung mit dem Team. Wir sind alle schreckliche Workaholics, und es ist an der Zeit, dass wir etwas dagegen tun, denn wir werden das so nicht mehr lange durchhalten.
Draußen regnet es. Und ich kann atmen.
Ich habe versucht, „Conversations with Friends“ zu sehen, die Verfilmung von Sally Rooneys Buch. Aber die Serie ist mir zu langsam, ich werde mittlerweile sehr nervös, wenn Menschen nicht direkt sagen, was sie wollen. Vielleicht stresst mich die Tatsache, dass sie Zeit vergeuden. Denn ich könnte morgen umgebracht werden, und wenn ich die Dinge nicht sofort sage, hören meine wichtigen Leute sie vielleicht nie. Deshalb verschiebe ich diese Serie vorerst.
Mit anderen Serien funktioniert es auch nicht. Wenn sie nicht richtig dramatisch sind, kann ich sie mir nicht ansehen, weil es mich traurig macht, dass ich dieses Leben nicht leben kann, aber wenn sie dramatisch sind, bin ich traurig wegen der Geschichte. In jedem Fall bleibe ich traurig.
Und ich bin so erschöpft. Es ist, als wäre ich dieses Zeichentrickkaninchen, das weit über den Abgrund rennt, und sobald es nach unten schaut, auch hineinfällt. Ich bin das Kaninchen. Aber im Moment stehe ich noch in der Leere.
Ich lache über Dinge, die nicht lustig sind. Wir machen viele Witze über den Tod. Alle meine Emotionen sind abgestumpft und körperlich ist es sehr schwer zu unterscheiden, was angenehm ist und was nicht.
Ich fahre auf Autopilot.
Aber wenn ich mich frage, was ich will, kann ich es nicht sagen. Weil ich es nicht weiß. Ich will, dass wir schon gewonnen haben, aber ich weiß, dass die Zeit nach dem Krieg schwierig sein wird. Denn jetzt spüren wir die Folgen noch nicht wirklich, aber sie werden allmählich spürbar werden. Die Russen werden wegen des Krieges zwar wirtschaftlich sanktioniert, aber die wirklich schlimmen Verluste erleiden wir in der Ukraine.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die besten Jahre meines Lebens sehen so aus: Nach dem Coronavirus der Krieg, jetzt muss nur noch ein Atomkrieg kommen, damit es ein kompletter Volltreffer ist.
Sorry, ich bin schon wieder pessimistisch. Gestern haben meine Freundin und ich über die demografische Krise und das Abtreibungsverbot in den Vereinigten Staaten gesprochen, und das ist alles irgendwie verrückt. Ich soll die Frau sein, die die Kinder der Nachkriegszeit zur Welt bringt. Aber es gibt einen Haken. Ich will keine Kinder. Und obwohl ich jetzt mehr denn je verstehe, warum Kinder wichtig sind, will ich sie trotzdem nicht. Adoption: Ja. Geburt: Nein.
Jetzt denke ich an all die Kinder, die durch die russische Invasion ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte geblieben sind.
Aaaaaaaaaaaa.
Ich versuche, mir etwas Gutes einfallen zu lassen, aber es gelingt mir nicht.
Ich habe eine Katze namens Sarah, und während ich in Kyjiw bin, wache ich jeden Morgen mit ihrem Schnurren auf.
Der See neben dem Haus riecht nach Sommer, obwohl man sich ihm nicht nähern darf, weil er mit ziemlicher Sicherheit vermint ist (Irpin ist nicht weit von dort).
Die Sonnenuntergänge im Sommer sind sehr schön. Ich mag es, den farbigen Himmel anzuschauen und mich nicht davor zu fürchten.
Mama bekocht mich mit leckerem Essen und ich kann sie umarmen.
Yariks Vorderzähne sind ausgefallen und er ist jetzt klein und lustig.
Sonya reißt immer noch Witze.
Mein Vater führt ernste Gespräche mit mir.
Früher habe ich diese Stabilität gehasst, aber jetzt verstecke ich mich gerne in ihr.
Der Geschmack von Metall
Ich habe heute dasselbe Gefühl wie an meinem Geburtstag, zwei Tage bevor die Invasion begann. Vier Tage ohne Sirenen sind wie die Ruhe vor dem Sturm. Belarus hat sich zu einem Verbündeten Russlands erklärt. Das heißt, dass die belarussischen Militärs jetzt Verbündete der Russen sind.
Wir haben uns am Abend zusammengesetzt und mit der Familie unseren Notfallplan besprochen. Wir sind ihn immer und immer wieder durchgegangen. Wer geht wohin, wenn dies oder jenes passiert? Und dann, mitten in unserer Diskussion darüber, wo es sicherer sein wird, ruft Yarik aus dem Zimmer: „Wenn ihr mich hören könnt, bringt mir bitte ein paar Würstchen.“
Das ist so surreal. Wie passt das alles zusammen? Der Krieg und der kleine Yarik. Der Krieg und der Schulabschluss meiner jüngeren Schwester. Der Krieg und die Behandlung meiner Mutter.
Ich dachte, dass der Krieg alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und zum Zentrum des Universums wird. Aber es stellt sich heraus, dass der Krieg mit allem verbunden werden kann. Es ist wie der metallische Geschmack von Blut in meinem Mund, wenn ich mir vor Stress auf die Lippe beiße. Er ist einfach da. Als Hintergrund, der gelegentlich zur Hauptfigur wird.
Krieg.
Aus dem Englischen von Anna Fastabend
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