Krieg in der Ukraine: Nachschub aus Minsk

Längst werden von Belarus aus Raketen auf die Ukraine abgefeuert. Anzeichen deuten darauf hin, dass Moskau Belarus in den Krieg hineinziehen könnte.

Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko während ihres Treffens am Samstag in St. Petersburg Foto: Mikhail Metzel/ap

Russlands Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine könnte demnächst in eine neue Phase treten – zumindest wenn man dem ukrainischen Präsidenten glaubt. Am Sonntag wandte sich Wolodimir Selenski in einer Videobotschaft an die Belaruss*innen. Der Kreml habe seine Entscheidung bereits getroffen. Er sei dabei, das Nachbarland in den Krieg hineinzuziehen, sagte Selenski und beschrieb damit ein Szenario, das dieser Tage nicht nur zahlreiche ukrai­nische Fachleute voraussehen.

Dass Ex­per­t*in­nen irren können, zeigt zugegebenermaßen die Einschätzung vom Februar, wonach russische Truppen nur wenige Tage bräuchten, um die Hauptstadt Kiew einzunehmen. Auch im Osten läuft die „Spezialoperation“ von Wladimir Putin nicht ganz nach Plan, wenngleich so manche/r schon einer Niederlage der Ukraine das Wort redet.

Zwar haben die russischen Truppen mittlerweile im Gebiet Luhansk bedeutende Gebietsgewinne zu verzeichnen, doch von ihrem Minimalziel, den ganzen Donbass unter ihre Kontrolle zu bekommen, sind sie immer noch um einiges entfernt. Der Durchmarsch im Süden der Ukraine lässt ebenfalls auf sich warten.

Auch wenn es keine nachprüfbaren Informationen über die tatsächlichen Verluste in den Reihen der russischen Armee gibt, was genauso auch für die ukrainische Seite gilt, scheinen die menschlichen Ressourcen knapp zu werden. Ein Indiz dafür ist eine Änderung des Wehrdienstgesetzes, das der Duma in dieser Woche zur zweiten Lesung vorliegt.

Ohne Grundausbildung an die Front

Danach könnten junge Männer gleich nach Erreichen der Volljährigkeit oder des Schulabschlusses, das heißt unter Umgehung des Grundwehrdienstes, für die Armee rekrutiert und in den Krieg geschickt werden. Wie viele dabei auf der Strecke bleiben werden, tut nichts zur Sache, denn ein einzelnes Leben zählt in Russland nichts. Genau deshalb spricht einiges dafür, dass sich die Ukraine schon bald mit einer zweiten Front im Norden konfrontiert sehen könnte.

Selenskis Appell an Belarus ist eine direkte Reaktion auf Dutzende Angriffe, die in der Nacht zum vergangenen Sonntag Kiew und die Zentralukraine trafen. Einen Teil der Raketen feuerten russische Kampfbomber vom Luftraum über Belarus ab. Damit wurde einmal mehr offensichtlich, dass Minsk dem großen Bruder längst Schützenhilfe leistet. Derzeit schieben in Belarus schätzungsweise 1.500 russische Soldaten Dienst. Sie nutzen mehrere Flughäfen, Logistik und Infrastruktur.

Im Februar überquerten russische Panzer auch von Belarus aus die Grenze zur Ukraine. In der belarussischen Armee stehen 45.000 bis 48.000 Männer unter Waffen, von den 260.000 Reservisten könnten im Bedarfsfall bis zu 100.000 reanimiert werden. Aktuell sind belarussische Truppen mit einer Mannstärke von bis zu 4.000 an die Grenze zur Ukraine abkommandiert. Zu einer „Übung“, so lautet die offizielle Version, wobei es ein offenes Geheimnis ist, dass es sich um eine Mobilmachung handelt. Klingelt da was? Eben.

Auch bis zum 24. Februar glaubten viele irrtümlicherweise, Russland würde es mit seinem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine bei einer Drohgebärde belassen. Dennoch behauptet der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko, der sich bei der Präsidentenwahl am 9. August 2020 mittels einer dreisten Fälschung eine sechste Amtszeit verschaffte, beharrlich, sein Land werde nicht in den Krieg gegen die Ukraine ziehen.

In Putins Schraubstock

Doch die Zeiten, wo Lukaschenko Russland gegen den Westen ausspielen und dem Kreml Zugeständnisse abtrotzen konnte, sind Vergangenheit. Oder wie es der ukrainische Journalist Sergej Wysozki in einem Beitrag für das ukrainische Nachrichtenportal focus.ua etwas salopp formulierte: Nicht die belarussische Zivilgesellschaft, sondern Wladimir Putin habe Lukaschenkos Eier in einen Schraubstock gespannt.

Der Zusammenschluss beider Länder auf der Grundlage des Unionsvertrages von 1999 schreitet stetig voran. Dabei diktiert Moskau die Preise – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Bei ihrem Tête-à-Tête in St. Petersburg am vergangenen Samstag sagte Putin Lukaschenko die Lieferung des Raketensystems Iskander-M zu, das auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden kann.

Passenderweise ist das Verbot für die Stationierung von Atomwaffen in Belarus seit der Annahme eines sogenannten Referendums im Februar dieses Jahres aus der belarussischen Verfassung gestrichen. Derweil rüstet Lukaschenko zumindest schon einmal verbal auf. So bezeichnete er, ebenfalls in St. Petersburg, die litauische Blockade des Transits von russischem Stahl und Metallen nach Kaliningrad als eine Art Kriegserklärung. Diese steht bekanntlich im Einklang mit den EU-Sanktionen.

Der vermeintliche Schulterschluss mit Wladimir Putin dürfte das Dilemma Lukaschenkos nicht auflösen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn dem Autokraten, der Putin ausgeliefert ist, droht auch Ungemach an der Heimatfront. Dort herrscht nach monatelangen Protesten infolge der Präsidentenwahl 2020 wieder Friedhofsruhe. Aber die ist trügerisch und um den Preis schwerster Repressionen gegen Andersdenkende erkauft.

Doch auch der Terror gegen die eigene Bevölkerung kann nichts daran ändern, dass eine große Mehrheit der Be­la­rus­s*in­nen gegen diesen Krieg ist. Und wozu die belarussische Zivilgesellschaft in der Lage ist, hat Lukaschenko schon einmal zu spüren bekommen. Auf dem G7-Gipfel, der gerade zu Ende gegangen ist, war wieder einmal viel von einer umfassenden Unterstützung der Ukraine die Rede.

Putin dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, so die Position. Deshalb ist Warten, jetzt da die Möglichkeit eines Marschbefehls des Kreml an die Adresse Lukaschenkos im Raum steht, keine Option. Ausflüchte, diese Entwicklung habe man nicht voraussehen können, gelten jetzt nicht mehr. Denn genau das hätte man.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist Jahrgang 1964 und seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz. Seit 2011 leitet sie als Co-Chefin die Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt (Oder) und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von Amnesty International. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch, warum.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.