Notizen aus dem Krieg: Ohne Hoffnung geht's nicht

Was hilft gegen die Allgegenwärtigkeit des Krieges? Unsere Autorin zeichnet, schreibt und spaziert durch ihre neue Heimatstadt Lwiw.

Zwei Personen sitzen an einem Tisch.

Seit Kriegsbeginn sorgt sich Polina (links) öfter um ihre Kommilitonin Mariia Foto: privat

Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem Informatikstudium. Sie will zur Soziologie wechseln. Fedorenko kommt aus Kyjiw. Inzwischen lebt sie in Lwiw, arbeitet als Mathe-Nachhilfelehrerin für Kinder und bestückt im Rahmen eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus dem Krieg.

Gewitter

Ich saß im Flur. Es gab Luftalarm, danach war es still. Ich habe etwas auf meinem Tablet gezeichnet und Musik gehört. Da donnerte es, ich fing an zu zittern. Der Klang des Donners ähnelt dem einer Explosion. Ich war alleine in der Wohnung. Es war niemand da, der mir hätte sagen können, dass es nur Donner war und keine echte Gefahr.

Ich habe bei Twitter geschaut. Dort wurden die Bürger von Lwiw beruhigt, selbst der Bürgermeister schrieb, man solle sich keine Sorgen machen, es sei nur ein Gewitter. Aber ich habe schon so eine Erwartungshaltung entwickelt. Wenn eine Sirene ertönt, muss danach ­etwas kommen. Und dieses Etwas ist normalerweise kein Gewitter.

Sicherheit

Mich sicher zu fühlen war noch nie einfach für mich. Jetzt ist es hundert Mal schwieriger geworden. Vor allem, seit die Russen das Kernkraftwerk in Saporischschja attackieren und die Welt dem Dritten Weltkrieg einen Schritt näher gekommen ist.

Inzwischen habe ich dieses Unsicherheits­gefühl auch in ­Bezug auf meine Freunde. Früher wähnte ich sie meist in Sicherheit. Nur wenn sie nachts alleine nach Hause gingen, bat ich sie, mir eine Nachricht zu schicken, ob sie gut angekommen sind. Jetzt ist die Gefahr der Normalzustand.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Vergangene Woche ist eine Freundin nach Mykolajiw gefahren, wo sie herkommt. Die Front ist inzwischen fast an die Stadt herangerückt, es passiert dort öfters, dass man erst die Explosionen hört und spürt und dann der Luftalarm ausgelöst wird. Ihre Universität wurde diese Woche zwei Mal bombardiert. Sie lief ­alleine über Flure mit zerbrochenen Scheiben und umgeworfenen Blumentöpfen, ohne eine ­Decke über ihrem Kopf. Es ist nichts ­Außergewöhnliches mehr. Seit sechs Monaten­ erleben wir terroristische Attacken wie an einem einzigen endlos langen Tag.

Tod

Ich kenne sie. Wir haben uns früher nicht mal gegrüßt, wenn wir uns begegnet sind, aber jetzt sind wir Freunde. Vor ihr sind alle Menschen gleich, aber sie ist für jeden anders. Ich mag es, dass sie manchmal gnädiger ist als das Leben. Denn im Leben müssen Menschen auch mit Folter rechnen, aber der Tod ist das Ende des Schmerzes.

Ich habe Markus Zusaks Beschreibung des Todes in „Die Bücherdiebin“ nie verstanden, aber jetzt ­ergibt sie Sinn (Anm. der Red.: Der Autor schildert in dem Buch die Geschichte aus Sicht des Todes, der als Erzähler sehr menschlich erscheint). In einem Punkt bin ich aber anderer Meinung. Ich glaube, dass der Tod eine Frau ist. Wenn der Tod überhaupt so beschrieben werden kann.

Fotos

Mir scheint, ich bin in eine Zeit zurück gesprungen, in der die Leute nur eine begrenzte Menge an Filmrollen hatten und deshalb jedes Bild etwas Wichtigem widmeten. Seit einem Monat lösche ich jeden Sonntag Teile meines Fotoarchivs. Ich lösche Bilder, Screenshots und alles, was mein 26-jähriges Ich in fünf Jahren höchstwahrscheinlich nicht sehen möchte. Vorausgesetzt, es lebt dann noch, fünf Jahre sind eine lange Zeit.

Während ich durch alte Bilder blätterte, bin ich selbst überrascht. Als ich 17 war, dachte ich, mein Pessimismus sei ein Problem, um das ich mich kümmern müsste. Dann kam die Pandemie, die Depression, der Krebs meiner Mutter, der Rückfall, die Invasion. Und hier bin ich nun, sitze in meinem Flur und fühle mich hoffnungsvoll.

Mein Lieblingsbuch war in den vergangenen zehn Jahren „Die Tribute von Panem“. Ich dachte, ich hätte die Botschaft von Präsident Snow verstanden, dass das Wichtigste sei, die Hoffnung zu töten. Denn ohne Hoffnung ist es einfacher, die Menschen in eine Menge Nichts zu verwandeln.

Wir Ukrainer haben Hoffnung. Dass wir gewinnen werden. Dass all die Verwundeten weiterleben werden, mit Prothesen statt mit Gliedmaßen. Dass die, die für die Freiheit starben, nicht vergessen werden. Dass all jene, die bei den russischen Angriffen auf friedliche Städte ums Leben kamen, uns immer daran erinnern werden, welchen Preis wir für die Freiheit unseres Landes gezahlt haben.

Und die Städte. Unsere Städte werden wieder schön werden. Ökologischer, menschlicher. Die Straßen werden unsere Namen tragen und nicht die Namen aus der aufgezwungenen, gesichtslosen sowjetischen Vergangenheit. Ich werde eine Kamera nehmen und durch all die Städte laufen, die mir wichtig sind, in die ich mich jetzt nicht traue. Und ich werde ein ganzes Album haben mit ausgedruckten Fotos von schönen, starken, ukrainischen Städten nach dem Krieg. Mit meinen Freunden werde ich auf die Krim fahren, und ich werde anfangen, Krimtatarisch zu lernen!

Schuhe und ein Schlafsack in einem Flur.

Der sicherste Ort der Wohnung bei Luftalarm für Polina und ihre Mutter: Der Flur Foto: privat

Meine kleinen Ausflüchte von der Wirklichkeit.

Zeichnen

Ich habe ein kleines quadratisches Notizbuch, das ich mir im April gekauft habe und in das ich jeden Tag ein wenig zeichne. Ich habe es überall hin mitgenommen, es sind einige Skizzen darin von Momenten, die mir wichtig waren.

Die letzte Skizze zeigt meine Freundinnen in der Küche, wo wir drei gerade frühstücken. Obwohl, das ist der vorletzte Eintrag, der letzte ist das Bild einer Tasche, das ich mit Acrylfarben gemalt und auf Pappe auf dem Boden getrocknet habe. Auf die Tasche selbst ist der Wahnsinn gemalt: ein seltsames Tier, das aussieht wie ein Igel, eine Stadt, rote Wolken und Feuer. Ich glaube, so würde die Welt aussehen, wenn das Atomkraftwerk Saporischschja explodieren würde.

Schreiben

Drei Jahre habe ich die Idee für einen Text in meinem Kopf herumgetragen. Früher waren die Charaktere darin losgelöst von der Realität. Ich habe versucht, sie möglichst anders zu beschreiben als mich selbst. In den schlechten Zeiten meines Lebens waren sie mein Licht, ich konnte an sie denken und sagen „Ich möchte so sein wie sie.“ Inzwischen haben sich die Handlung und die Charaktere entwickelt und vertieft. Ich verleugne nicht mehr meinen Wunsch, so viele eigene Erfahrungen wie möglich in sie zu legen. Deshalb wird einer der Protagonisten ein Kämpfer im Azovstal-Werk sein. Ich weiß nicht, wie seine Geschichte enden wird, denn in der Realität schreibt sich diese Geschichte noch selbst.

Gärtnern

Bevor ich ausgezogen bin, war ich kein Fan von Pflanzen. Mich um meine Katze Sarah zu kümmern, reichte mir: sie zu füttern, ihren Napf zu reinigen, ihr Fell zu bürsten, bei ihr zu sein, wenn sie krank war. Aber Sarah habe ich nicht mehr bei mir, und der Wunsch, mich um jemanden zu kümmern, der diesen Wunsch nicht zurückweisen kann, bleibt. Deshalb hatte ich drei Tomatenpflanzen, einige Blumen und drei Vasen. Die Tomaten starben in den zwei Juliwochen, in denen ich nach Hause gefahren bin. Einige Blütenknospen vertrockneten in der Sonne. Aber ein Spross überlebte, alle meine Blumen in den Töpfen überlebten, und ich bin froh, wenn ich ihre neuen hellgrünen Blätter sehe.

Abendspaziergänge

Ich glaube, ich kenne alle Straßen in meiner Gegend. Ich weiß, wo es bergauf geht, wo es eine gute Stelle gibt, um den Sonnenuntergang zu sehen, wo Leute mit Hunden sein könnten, und wo ich besser nicht hingehe, wenn ich niemanden treffen möchte, den ich kenne.

Manchmal gehe ich in einen anderen Teil der Stadt, dann sitze ich lange in einem Café, um mich auszuruhen und Kräfte zu sammeln für den Rückweg.

Letzte Woche bin ich in ein Viertel namens Lychakivskyi gelaufen, es ist nicht weit vom Zentrum von Lwiw, und alle Straßen dort sind sehr eng. Ich wusste nicht, dass es in dem Viertel nicht nur einen bekannten Friedhof gibt, auf dem viele prominente Ukrainer beerdigt sind, sondern auch den Campus der Medizinischen Universität. Ich wurde dort ganz ruhig.

Meine kleine Schwester will sich an der Medizinischen Universität in Kyjiw bewerben. Mein kleiner Bruder geht in die erste Klasse der Grundschule. Und ich lebe jetzt in Lwiw. Das sind Veränderungen im Leben, mit denen ich nie gerechnet hätte.

Aus dem Englischen übersetzt von Antje Lang-Lendorff

An dieser Stelle veröffentlichen wir regelmäßig Berichte aus dem Alltag in der Ukraine. Die Texte geben die subjektive Sicht der Au­to­r:in­nen auf die Ereignisse ungefiltert wieder.

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