Niedergang der westlichen Demokratie: Bye-bye, Linksliberalismus
Die westliche Demokratie scheiterte nicht erst in Afghanistan. Während die Gesellschaft zerfasert, wird die Politik zum Einheitsbrei.
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W er sagt, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist? Unsere große Erzählung, in tausend Varianten, aber mit einem heißen mythischen Kern, heißt: „Der Untergang der westlichen Demokratie“. An den imperialen Rändern hat diese Erzählung einen militärischen und diplomatischen Charakter. „Das große Versagen“ ist das Mindeste, was man von beidem sagen kann, nicht erst seit Afghanistan, aber dort mit einer so schaurigen Gewissheit, dass alle Versuche des Schönredens vergeblich sind.
Im sozialen Innen wird diese Untergangserzählung von den großen Spaltungen bestimmt: Die Reichen, die immer reicher werden und nicht mehr wohin wissen mit dem Kapital, so dass es nur noch als Medium der Zerstörung wirken kann, und die Armen, die immer weniger wissen, wie leben und überleben, und dabei alle Kraft verlieren, die dringend für eine Gesellschaft und ihre Entwicklung gebraucht würde.
Hier die Bürgerinnen und Bürger, die nur noch nach Sündenböcken und Verschwörungen suchen können, um ihr (auch moralisches) Elend zu erklären, und die immer weiter vom „konservativen“ zum reaktionären, antidemokratischen und schließlich faschistoiden Impuls wechseln, und dort die ökolinksliberalen Realdemokraten, die sich immer mehr in ihre eigene Blase, ihre eigenen „Narrative“ und Begriffe zurückziehen.
Und während sich die Gesellschaft immer weiter spaltet, bildet sich als Regierung ein Einheitsbrei: Koalitionen, in denen sich die Parteien gegenseitig so in Schach halten, dass sich nichts ändert. Jedenfalls nichts zum Besseren. Der innere Widerspruch im System des Westens ist der zwischen Demokratie und Kapitalismus. Für eine historische Spanne war die Verbindung von beidem ein Erfolgsrezept, das hier und da zum Exportgut, jedenfalls aber zum vermeintlich hegemonialen Weltmodell werden konnte.
Praktischer Liberalismus
Angela Merkel hatte ihm den treffenden Namen verpasst: „Marktkonforme Demokratie“. Und nun? Was, wenn endlich nicht mehr zu verleugnen wäre, dass das Marktkonforme und die Demokratie nicht mehr zueinander passen? Die vielen Brüche in der Gesellschaft entsprechen dem einen großen Bruch, dem Bruch zwischen Kapitalismus und Demokratie. Was bleibt, wenn das Projekt Demokratie als nicht mehr (welt-)marktkonform entsorgt wird, das ist ein gewisser praktischer Liberalismus.
Subjekt-Freiheit als Mix von Selbstverwirklichung, Toleranz, Spätaufklärung und kultureller Offenheit wurde in den westlichen Demokratien von einem speziellen Segment des progressistischen Kleinbürgertums entwickelt und garantiert, dem man den Namen „linksliberal“ gab und das sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts um einen wesentlichen Bereich ökologischer Sorge erweiterte.
Das ökolinksliberale Lebensgefühl bildete ein Milieu als Humus für kritische, alternative oder dissidente Bewegungen, die sich darin gleichen, dass sie nicht den Bruch mit dem System suchen, sondern seine Verbesserung. Persönlich hieß das in aller Regel, Forderungen an ein System stellen, mit und von dem man ansonsten ziemlich gut lebte. Solange beide Seiten flexibel blieben und einen gemeinsamen, „modernen“ Begriff von Wirklichkeit hatten, konnte man das noch modisch als Win-Win-Situation ansehen.
Staat und Ökonomie ließen das linksliberale Milieu gedeihen, das beidem im Gegenzug kreative Energie und Geschmack an Innovation lieferte. Darüber hinaus ließ sich eine Balance zwischen dem linksliberalen und dem konservativ-reaktionären Segment der Mittelschicht als Beweis „lebendiger“ Demokratie ausmachen.
Das linksliberale Milieu als Fabrik des demokratischen, humanistischen und fortschrittlichen Aspekts im System der westlichen Kapital-Demokratien geriet mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in äußere wie innere Krisen.
Ausgetrocknete Gehirne
Die äußeren Umstände, Abbau und Kapitalisierung von Kunst, Wissenschaft, Pädagogik und Kommunikation, Paradigmenwechsel der einstmals verbündeten politischen Organisationen, SPD, Gewerkschaften, reformerische Gruppen in den Kirchen, Universitäten, Schulen und andere Foren verschärften die inneren Krisen, die Widersprüche zwischen Idee und Lebenspraxis, Flügelkämpfe, faule Kompromisse, Selbstbetrug.
Der Neoliberalismus hatte nämlich eine andere Option zu bieten: die totale Freiheit des Subjekts unter Preisgabe der anderen demokratischen Tugenden, der Solidarität und der Gerechtigkeit. Keine Frage: Das linksliberale Milieu wurde regelrecht ausgetrocknet von einer Allianz von Neoliberalismus, Populismus und Mainstream-Gleichgültigkeit. Doch mit dieser Austrocknung des linksliberalen Milieus schien auch eine Austrocknung etlicher Gehirne einherzugehen.
Man klammert sich an das letzte Gut des Kleinbürgertums in seiner Geschichte: die moralische Überlegenheit. So bricht man über jeden Furz, den ein anderer Linksliberaler lässt, in Empörung aus, zeigt sich fassungslos und beleidigt, wenn nicht genau das reproduziert wird, was man selbst schon immer gewusst hat.
Aus der demokratischen Win-Win-Situation ist ein semantisches und sozialpsychologisches Einigeln geworden, die persönlichen Kompromisse zwischen Idee und Lebenswirklichkeit, in der hohen Zeit des linksliberalen Milieus mit einer gewissen Selbstironie bearbeitet, führen nun zu hysterischen und fetischistischen Reaktionen, und die Lust auf Veränderung wandelt sich in Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust.
Die Austrocknung des linksliberalen Milieus wird einst ein bedeutendes Kapitel in der großen Erzählung vom Niedergang der westlichen Demokratien bilden. Und vielleicht kommt darin vor, dass es seine Bewohner*innen ihren Feinden allzu leicht gemacht haben.
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