Neues Innenministerium: Nach dem Horst-Case-Szenario
Die Seehofer-Jahre waren geprägt von Untätigkeit. Das neue Innenministerium muss Antworten auf Rechtsextremismus und Polizeigewalt finden.
Als er 2018 sein Amt antrat, machte schnell das Wort vom „Horst-Case-Szenario“ die Runde. Das Wortspiel war lustig, die dahinter stehende Befürchtung war es nicht. Horst Seehofer (CSU) galt vielen als Scharfmacher. Im Gedächtnis geblieben war, wie er 2011 angekündigt hatte, sich „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren zu wollen, dass wir „eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“.
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Rhetorisch ging es so weiter: Kurz nach Amtsantritt fand Seehofer es witzig, dass „ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag“ 69 Personen nach Afghanistan abgeschoben wurden, obwohl er das, harhar, ja gar nicht so bestellt hatte. Nicht nur geschmacklos, sondern schon gefährlich war dann, dass er kurz darauf Migration die „Mutter aller Probleme“ nannte.
Und auch gegen Ende ließ er nicht nach: Die verbale Aufrüstung der Polen gegen die Flüchtlinge aus Richtung Belarus machte er mit, als er dies als „eine Form der hybriden Bedrohung, indem man Migranten als politische Waffe einsetzt“ bezeichnete.
Der Subtext ist klar: Eine Waffe ist gefährlich, eine Bedrohung verdient keine Empathie, sondern Gegenwehr. Der polnischen Regierung, die sich jedenfalls im „hybriden Krieg“ gegen die Flüchtlinge zur maximalen Härte legitimiert fühlt, dankte Seehofer kürzlich in einem Brief „für den Schutz unserer gemeinsamen Außengrenze“ ganz ausdrücklich. Zu all dem passte, dass er seinen Ressortzuschnitt bei Amtsantritt um die Zuständigkeit für „Heimat“ ergänzte.
Aus Bekenntnissen folgte: nichts
Was das bedeuten sollte, vermochte er 2018 nicht zu erklären, und es ist in der Rückschau bis heute unklar. Die Umbenennung war ein Versuch, die zunehmende Orientierungslosigkeit des Konservatismus mit einem semantischen Knicks nach rechts zu kaschieren.
Seehofers Innenministerjahre fielen dabei in die Zeit einer Serie rechter Terroranschläge, zu denen dem Konservatismus lange nichts einfiel. Selbst der Mord an dem Kasseler CDU-Landrat Walter Lübcke vermochte das Dogma nicht zu erschüttern, dass die Gefahr „links“ liege. Erst die folgenden Anschläge von Halle und Hanau änderten dies langsam. Auch führende Konservative, darunter Seehofer selbst, räumten danach ein, dass die extreme Rechte die größte Gefahr darstelle. Doch aus diesem Bekenntnis folgte nicht viel.
So blieben viele schmerzhafte Leerstellen bei der Aufklärung rechter Gewalt. Sie sind mitnichten bloß das Ergebnis von Ermittlungspannen, sondern Folge eines vollkommen unzureichenden Opferschutzes und mangelnden Aufklärungswillens. „Unsere Frage an die Politik und die Behörden lautet: Worauf wartet ihr eigentlich, wenn nicht auf den nächsten Anschlag?“, fragt etwa die Angehörigen-Initiative „19. Februar Hanau“.
Das Vorgehen gegen rechten Terror hat Seehofer nie zur Chefsache gemacht. Der Täter von Hanau war einschlägig bekannt und durfte gleich zwei „Waffenbesitzkarten“ behalten. Nach einer Recherche der Welt von letzter Woche haben bis heute bundesweit mehr als 1.000 Extremisten eine „waffenrechtliche Erlaubnis“. Diese Zahl ist nur eine Facette einer staatlichen Untätigkeit gegen rechte Gewalt, die in irritierendem Gegensatz zu Seehofers Hyperaktivismus in Sachen Flüchtlingsabwehr steht. Auch dass bis heute kein Versuch unternommen wurde, den Fall Oury Jalloh außerhalb der sachsen-anhaltischen Justiz aufzuklären, gehört zur Bilanz dieser Untätigkeit.
„Heimat“ raus, „wehrhafte Demokratie“ rein
Die neue Ampelregierung könnte da auch institutionell ein neues Kapitel aufschlagen. Wie Seehofer könnte sie das Ministerium umbenennen – den nutzlosen und völlig amorph gebliebenen „Heimat“-Begriff aus dem Namen tilgen und dem Ministerium stattdessen die Zuständigkeit für „wehrhafte Demokratie“ einschreiben. Zu tun in dem Bereich ist wahrlich genug.
Statt wie Seehofer dabei bloß auf den Verfassungsschutz zu setzen, sollten – neben konsequenter Strafverfolgung – auch Akteur:innen aus der Zivilgesellschaft hier beteiligt werden. Denn letztlich sind es sehr oft diese, denen die Gesellschaft ihr Wissen um die Umtriebe der Feinde der Demokratie wie Nazis, Reichsbürger:innen oder radikalisierten Querdenker:innen verdankt.
In den Blick genommen werden sollten viel stärker als in der Vergangenheit auch jene Demokratie-Feinde, die beim Staat selbst arbeiten. Die immer neuen Enthüllungen über rechte Chatgruppen in der Polizei oder Reichsbürger-Sympathisant:innen im Staatsdienst geht auch auf eine gesteigerte Bereitschaft ihrer Kolleg_innen zurück, solche anzuzeigen. Diese Bereitschaft muss ein neuer Innenminister gezielt fördern.
Dazu gehört, sicherzustellen, dass Anzeigen Folgen für die Täter:innen – und nicht für die Whistleblower:innen haben. Das ist auch eine Frage der inneren Kultur der Polizei und Sicherheitsbehörden. Die kann nicht von heute auf morgen verändert werden. Ganz sicher ändert sie sich aber nicht, wenn schon der Versuch, das Ausmaß des Problems wissenschaftlich untersuchen zu lassen, abgebügelt wird – so wie Seehofer es mit den Forderungen nach einer Studie zu rassistischen Einstellungen im der Polizei getan hat.
Flüchtlingsschutz stärken
Die Empörung darüber war groß, zu Recht. Sie verdeckte aber eine noch viel wichtigere Forderung, die hierzulande nach der Welle von Protesten gegen rassistische Polizeigewalt im Sommer 2020 auf den Tisch kam: Unabhängige Polizeibeschwerdestellen. Sie böten mehr Sicherheit, dass Anzeigen – etwa gegen zu Unrecht gewalttätige Polizist:innen – nicht von Kolleg:innen in der Versenkung verschwinden gelassen werden. Polizei-Lobbyorganisationen liefen Sturm gegen entsprechende Vorstöße – und Seehofer zeigte keinerlei Neigung, sich des Themas anzunehmen. Ein Ampel-Innenminister könnte dies leicht korrigieren.
Dass die Regierung der Hauptstadt einen Innenminister verklagt, hat Seltenheitswert. Berlin tat dies im vergangen November, als Teil einer immer größer gewordenen Gruppe von Städten und Bundesländern, die auf die Möglichkeit der eigenständigen Aufnahme von Geflüchteten gepocht hatten.
Berlin etwa hatte angeboten, 300 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge im Rahmen eines eigenen Landesprogramms aus Griechenland nach Deutschland zu holen. Seehofer lehnte das jedoch ebenso ab wie ähnliche Vorstöße anderer Bundesländer und Kommunen. Grüne und SPD verlangten deshalb immer wieder eine Streichung dieses Vetorechts im Aufenthaltsgesetz.
Ein Ampel-Innenministerium könnte dem sehr leicht entgegenkommen, in dem es von sich aus auf die Ausübung des Vetorechts verzichtet – und den Passus hernach per Gesetzentwurf streicht. Gerade mit Blick auf die aktuelle Lage der vielen noch immer festsitzenden Ortskräfte aus Afghanistan oder die Lage an der Grenze von Polen und Belarus würde dies die Handlungsmöglichkeiten in Sachen Flüchtlingsschutz gleichsam über Nacht vergrößern.
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