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Neue Virusvariante in GroßbritannienCorona schlägt Brexit

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Immer mehr Länder schotten sich von Großbritannien ab. Besser, als einen schnellen Brexit-Deal zu erzwingen, wäre jetzt eine gemeinsame Virusbekämpfung.

Lonely Christmas: verlassener Stand in Cardiff, Wales Foto: AP/Ben Birchal

W as für ein Finale. Die Niederlande, Belgien, eventuell Frankreich und auch Deutschland kappen ihre Reiseverbindungen nach Großbritannien – weil eine gefährliche Mutation des Sars-CoV-2-Virus für die neue, dramatische Zunahme von Infektionen im Großraum London verantwortlich ist. Gleichzeitig treten die Handelsgespräche zwischen Großbritannien und der EU auf der Stelle, und mit jedem Tag rückt ein harter Bruch am 1. Januar näher.

Es ist – noch – kein neuer Eiserner Vorhang, der sich über dem Ärmelkanal schließt. Aber die neuen Corona-Abschottungsmaßnahmen gegen Großbritannien gehen schon über die Worst-Case-Szenarien des „No Deal“ hinaus: Einstellung der Flugverbindungen, Reiseverbote, Ende der Bewegungsfreiheit. Isolation ist das Gebot der Stunde, nicht nur auf der Insel, auch auf dem Kontinent.

Für Boris Johnson ist die gleichzeitige Eskalation der Corona- und Brexit-Krisen die bisher schwerste Stunde seiner Amtszeit. Dass er für 16 Millionen Menschen in und um London „Weihnachten abgesagt“ hat, nur wenige Tage nachdem er einen solchen Schritt kategorisch ausschloss, bringt für weite Teile der regierenden Konservativen das Fass der Enttäuschung über ihren Premierminister und seinen Schlingerkurs in allen wesentlichen Fragen zum Überlaufen. Eine Parlamentsabstimmung über die neuen Corona-Einschränkungen würde er wohl verlieren, so wie er die letzte nur dank der Enthaltung der Labour-Opposition gewann. Eine Abstimmung über ein Brexit-Handelsabkommen mit der EU wäre noch unsicherer.

Es wäre schlicht unsinnig, die noch offenen Brexit-Probleme mit heißer Nadel lösen zu wollen, während alle Entscheidungsträger durch Corona abgelenkt sind. Coronamaßnahmen kann man jederzeit ändern; Brexit-Verträge müssen für Jahrzehnte halten. Die noch offenen Fragen – das Ende der EU-Fischereirechte in britischen Gewässern und die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen – können nicht im Handumdrehen gelöst werden. Es geht um grundsätzliche Differenzen, und die sind ungeeignet für faule Kompromisse und auch für Videokonferenzen. Die aktuelle Einstellung jeglichen Reiseverkehrs zwischen London und Brüssel macht aber die vertieften Verhandlungen unmöglich, die nötig wären, um Gemeinsamkeiten und Kompromisslinien herauszuarbeiten. Selbst wenn ein oberflächlicher Deal doch noch irgendwie zustande käme, müssten die Parlamente beider Seiten ihn vor dem 1. Januar im Schnelldurchlauf abnicken. Demokratisch legitimiert wäre er nicht.

Ein Brexit-Deal könnte also das erste Opfer der neuen Coronabeschränkungen werden. Ein „No Deal“ verliert aber viel von seinem Schrecken, wenn seine schlimmsten Folgen ohnehin im Namen der Virusbekämpfung eintreten. No-Deal-Notmaßnahmen beider Seiten liegen längst in den Schubladen. Europa und Großbritannien sollten sie jetzt in Kraft setzen und sich dann mit voller Konzentration der Pandemie widmen – gemeinsam. Sonst gibt es bald keine Wirtschaft mehr, die vor Handelsbeschränkungen zu retten wäre.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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22 Kommentare

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  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Für Boris Johnson ist die gleichzeitige Eskalation der Corona- und Brexit-Krisen die bisher schwerste Stunde seiner Amtszeit. ""



    ==



    Während die Schlange der LKW`s vor Dover (Grafschaft Kent) auf 25 km gewachsen ist (1500 trucks) versucht die britische Regierung den Schaden weg zu lügen.

    Prti Patel (home secretary) meint man könne jetzt mehr Flugzeuge einsetzen - und der Transportminister Grant Shapps treibt ein Verwirrspiel mit Zahlen indem er behauptet, das 80% der importierten Waren nicht betroffen seien - weil es sich um nicht begleitete Container handeln würde.

    Brexit ist ein Gebilde aus Lügen und irren Verdrehungen von Tatsachen - und diese Lügen müssen aufrecht erhalten werden - sonst stürzt das Brexitkartenhaus zusammen.

    Sicher ist das der ""Übergangszeitraum"" nicht verlängert wird und nicht verlängert werden kann - defakto wird UK am 31.12.-- 23 Uhr den Zustand der Übergangsfase verlassen.

    Die Rechtspopulisten der englischen Regierung üben schon mal wie sich die harten Konsequenzen als Drittland weglügen lassen - da sich die harten Konsequenzen wegen der Pandemie sich hervorragend eignen, die beinharten und lang andauernden Konsequenzen des Brexits zu verstecken.

    Was bedeutet das für die Chancen



    ob es zu einer Vereinbarung EU - UK kommen wird?

    Garnichts - weil die Brexiteers jetzt Stärke und Unverwundbarkeit in den Vertragsverhandlungen a la Margret Thatcher demonstrieren wollen.

    Bringt aber nichts - weil die EU momentan Ihre Sanktionshaltung auch hinter den unbefristeten Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung der Länder am Channel versteckt .

    Die Chancen, das das Brexitdisaster weiterhin ungeklärt in das neue Jahr rutschen wird ist also mindestens genau so wahrscheinlich wie eine Einigung zum 31.12.

    Aber das weiterhin ernsthaft verhandelt wird daran besteht kein Zweifel.

  • "Besser, als einen schnellen Brexit-Deal zu erzwingen, wäre jetzt eine gemeinsame Virusbekämpfung."

    Tja, wem sagen Sie das, Herrn Johnson. Ihr Namensvetter und die anderen Hardliner halten davon nichts. Für mich ist BJ, der ein Land regiert, das bereits mit der Pandemie zu kämpfen hat, und der sich als Versager in Sachen Pandemie-Bekämpfung erwiesen hat, obendrein ein verantwortungsloser Politiker, wenn er sein gebeuteltes Land obendrein in eine No-Deal-Krise schickt. Und dass das Volk sich das gefallen lässt, wundert mich auch - zumindest von denen, die gegen einen Brexit waren.

    • @Jossi Blum:

      Wenn jetzt die Schotten UK verlassen, dann kann BJ stolz auf sich sein, 300 Jahre UK zu einem Ende gebracht zu haben.

  • england forced to taste brexit ...

    already for christmas !

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Covid 19 ist ein nicht korrumpierbarer hardline Brexiteer

    ==



    Johnson:""Es geht um grundsätzliche Differenzen, und die sind ungeeignet für faule Kompromisse und auch für Videokonferenzen.""



    ==



    Scheinbar grundsätzliche thematische Differenzen sind nicht der Punkt - beim Brexit geht es im Kern um ein Lebensgefühl der Engländer welches in NI, Wales und Schottland nicht geteilt wird.

    Statement von Barnier

    ""The EU remains committed to a fair, reciprocal & balanced agreement. We respect the sovereignty of the UK. ....."

    Den Engländern geht es also um ein Gefühl der beschädigten Souveränität. Brexiteers hassen EU Regeln und Vorschriften - das ist die Grundhaltung die eher an jugendliche Adoleszenz erinnert als an ein werte- und interessenbestimmtes rationales Handeln. Brexiteers sind neben dieser spezifischen Ver-rückt-heit getrieben von einem nicht mehr nachvollzieh-baren Ehrgeiz - sie wollen haupt-sächlich gewinnen - das ist das Ziel entsprechend der englischen Mentalität.

    Der Impfstoff von Biontech aus Mainz, gefertigt in Belgien und erfunden in Tübingen (mRNA Technik) wurde von den Brexiteers als totaler Sieg verkauft (Matt Hancock) als die ersten Impfdosen in England eintrafen.

    Wie kann es sein das ein Produkt aus der "dictatorship EU" als nationaler Sieg der Brexiteers gefeiert wird?

    Sieg und Niederlage sind die einzigen Bewertungskategorien - ""Der Sieg wird uns gehören"" - das ist das einzig entscheidende englische Kriterium. Wie dieser Sieg zustande kommt interessiert nicht weiter.

    Eine spanische Ministerin hat es auf den Punkt gebracht:

    Handeslverträge erfordern interessengeleitetes Denken worin sich die Souveränität eines Landes ausdrückt. Brexiteers verhandeln bei den Brexitgesprächen ihre eigene Souveränität - exactamente an diesem Punkt liegt der Sprung in der Schüssel.







    Der Erziehungsbevollmächtigte Barnier mit Nerven aus Stahl hat die Aufgabe etwas Brauchbares zu verhandeln.

    Er wird gewinnen. So viel ist sicher.

  • Kann mir jemand mal erklären wieso die EU auf diese mir vollkomen unverständlich hohen Fangquoten besteht ? Besonders bei der hohen Übersfischung. Und jetzt ist es ja aus für die EU bzgl. fischen in GB-Gewässern.

    • @Algernoon:

      Ich weiss es auch nicht aber es ist ein einziger Schlamassel. Die Briten haben immer propagiert, dass die See offen ist, und vor Island gefischt. Bis die Isländer sich in den siebziger Jahren gewehrt haben, Stichwort Cod wars.

      Dazu kommt, dass man sich unter Fischerei vielleicht romantisch so ein paar Kutter im Hafen von Neuharlingersiel vorstellt - und die spielen in UK und auch Frankreich auch soziokulturell und symbolisch noch eine Rolle - aber wirtschaftlich relevant sind höchstens die Fabrikschiffe, die internationalen Firmen gehören. Denen haben die Briten ihre Quoten verkauft. Und die ganze Fischerei macht nur Bruchteile von Prozenten des BSP.

      Schon kompliziert genug? Halt nochwas: Die Briten essen gerne Fish and Chips, nämlich Cod und Hake = Dorsch, Kabeljau, Seehecht. Der kommt zum größten Teil nicht aus britischen Gewässern (deswegen die oben erwähnten Cod Wars). Anderen Fisch essen sie eigentlich nicht. Gefangen werden in britischen Gewässern eher Hering und Makrele, wie Deutsche finden, eine feine Sache. Die müßten dann nach einem harten Brexit als Lebensmittelimport kontrolliert, deklariert und verzollt werden.

      Ihnen dreht sich langsam der Kopf? Alles aber auch alles, was mit Brexit zu tun hat ist mindestens gleichermassen bescheuert. Es macht hinten und vorn keinen Sinn.

  • Tja. Get. Brexit. Done.

    Und was macht Farage derzeit? Derjenige, der die Stimmung angeheizt hat und erst den Weg für den Opportunisten Johnson freigefegt hat?

    Der übt sich in "Lockdown ist scheisse und sperren wir lieber die Alten ein" [1]. Kommt einem bekannt vor?

    Das Geschäftsmodell dieser Leute ist immer wieder dasselbe.

    [1] en.wikipedia.org/w..._career_since_2020

    • 0G
      06438 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      ""Und was macht Farage derzeit?""



      ==



      Fromage bildet derzeit eine Koaltion mit dem einzig richtigen und wahren Brexiteer - nämlich mit dem Virus der neuen Covid 19 Variante - der es in Windeseile geschafft hat die Trennung zum Rest der EU gnadenlos umzusetzen.

      Selbst der Eurotunnel ist gesperrt - das hätte Fromage nie alleine geschafft.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Gibt es halt keine polnische Weihnachtsgans für die Briten und nur schales Bier.



    Das ist auch ein bissel Rache der EU, die ich unterstütze.

  • Stand heute, Montag: Fog in the channel, continent cut off.



    Ich stimme dem Kommentar im Grundsatz zu. Die EU hatte von Anfang an wegen der Komplexität der zu verhandelnden Themen auf eine längere Übergangsperiode gedrungen, Johnson dagegen sogar ein Gesetz im Unterhaus eingebracht (also kurze transition bis 31.12. oder no deal).



    Ich rechne unter den Umständen mit einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen, da es keinen Grund mehr gibt, sich gegenseitig die Schuld zu zuschieben, denn das No-Deal-Chaos ist ja jetzt pandemiebedingt und wird es für eine Weile bleiben. Bis donnerstag etwa werden wir wissen, ob die neue Mutation wirklich soviel Panik benötigt (Drosten denkt das eher nicht).

  • "Besser, als ..., wäre jetzt eine ..."



    Das nenne ich mal einen vornehm ausgedrückten Populismus.



    Es geht vermutlich beides, gleichzeitig!

  • Die Chance auf einen Brexit-Vertrag ist schon lange tot und das dürfte allen Beteiligten auch klar sein. Dass man dennoch weiter 'verhandet' dient einzig dem Zweck die Schuld für das Scheitern von sich weisen zu können.

  • "Die noch offenen Fragen – das Ende der EU-Fischereirechte in britischen Gewässern und die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen – können nicht im Handumdrehen gelöst werden."

    Das Brexit-Referendum fand statt am 23.6.2016, also vor gut 4 1/2 Jahren.



    Da hätte man ... ja da hätten die Briten die Themen doch mal ab und zu ein Auge auf die strittigen Themen werfen können (die von der EU meines Wissens schon länger benannt wurden).

    Aber ich will mal nicht so sein, ist schon recht so - gut Handumdrehen will schließlich Weile haben.

  • Für die taz ein reichlich ungewöhnlicher Artikel. Den Ausführungen kann ich überwiegend nicht zustimmen ("eiserner Vorhang", komplett daneben, von Geschichte 0 Ahnung). Es bleibt zu hoffen, dass Sturgeon sich durchsetzen kann und der unsägliche, kaum jemand nützende Brexit wenigstens in Schottland rückgängig gemacht wird, nach einem Austritt aus GB.

    • @Sarg Kuss Möder:

      > Es bleibt zu hoffen, dass Sturgeon sich durchsetzen kann und der unsägliche, kaum jemand nützende Brexit wenigstens in Schottland rückgängig gemacht wird, nach einem Austritt aus GB.

      Das möchte Nicola Sturgeon und viele Einwohner Schottlands sicher gern. Aber das ist ein Generationenprojekt, denn zunächst mal müsste Schottland unabhängig werden, bräuchte eine eigene Zentralbank, eine Währung, Handelsverträge, ein Sozialsystem und vieles mehr.

  • "Besser, als einen schnellen Brexit-Deal zu erzwingen..." hahaha, made my day

    • @Vroni M.:

      Ich glaube die Brexit Verhandlungen können warten^^

      • @Bartolli:

        Sicherlich können die warten. Die Verhandlungen könnten auch einfach Mut "No Deal" beendet werden. Das wollte der britische Premier doch von Anfang an.

        Aber darum ging es mir gar nicht. Im Zusammenhang mit dem Brexit gab es schon mehrfache Verlängerungen und neue Fristen. Wer da ernsthaft von "schnell erzwingen" spricht hat meiner Ansicht nach eine besondere Wahrnehmung von Zeit

      • @Bartolli:

        "Besser, als einen SCHNELLEN Brexit-Deal zu erzwingen..."



        Der Zug für einen SCHNELLEN Brexit-Deal ist seit vielen Monaten raus.

  • Dass es zum No-Deal kommen muss, war klar - schließlich hat Johnson das wiederholt als sein Ziel erklärt. Er suchte halt nur den besten Weg um einen Sündenbock präsentieren zu können. Daher der Schlingerkurs.



    Und die Probleme, die bis zum Schluss als Vorwand herhalten müssen, sind die selben, die schon ganz am Anfang von der EU als die wichtigsten und zuerst zu klärenden Punkte benannt wurden. Inklusive der Grenze zu Irland.



    Was in so vielen Jahren nicht klärbar war, lässt sich jetzt auch nicht in wenigen Tagen hinschustern - es sei denn man geht davon ausgehen, dass beide Seiten Beamtenmikado gespielt haben, das nun in "Chicken" übergeht...