Neue Erkenntnisse zum Attentat in Hanau: Sie hätten fliehen können
Hätte ein geöffneter Notausgang die Opfer des Hanau-Attentats retten können? Laut einer Untersuchung wäre dieser jedenfalls erreichbar gewesen.
Die Gruppe Forensic Architecture, ein Team von Wissenschaftler:innen aus Berlin und London, die Menschenrechtsverletzungen nachgehen, haben nun mithilfe der Aufnahmen von sechs Videokameras aus der Bar den Tatablauf noch einmal detailliert untersucht. Hätten die fünf Männer fliehen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre? Ihre Antwort: Sie hätten.
Vor den Morden in der Arena Bar hatte Tobias R. bereits sieben Menschen mit Migrationsgeschichte in einem benachbarten Kiosk und einer Shisha Bar in der Hanauer Innenstadt erschossen. Die Bundesanwaltschaft schloss erst vor wenigen Tagen ihre Ermittlungen dazu ab: Das Motiv sei klar rassistisch gewesen, Tobias R. ein Einzeltäter.
Erst nach Anzeige der Familien wurde ermittelt
Die Angehörigen aber fragen sich bis heute, ob der Anschlag nicht hätte verhindert werden oder weniger Opfer haben können. Die Frage des verschlossenen Notausgangs gehört dazu. Ermittelt wurde hierzu erst nach einer Strafanzeige von Opferanwälten. Die Staatsanwaltschaft Hanau hatte die Ermittlungen im August jedoch eingestellt: Es sei weder sicher, ob der Notausgang tatsächlich verschlossen war, noch ob die Getöteten überhaupt die Chance hatten, zu dem Ausgang zu gelangen.
Forensic Architecture sieht nun zumindest Letzteres belegt. Beauftragt wurde die Gruppe von der Opferanwältin Seda Başay-Yıldız und der Initiative 19. Februar, in der Betroffene und Unterstützer:innen aktiv sind. Anhand der Bilder der Überwachungskameras erfassten und simulierten sie die Bewegungen der damals fünf Anwesenden – vom Moment, in dem diese erstmals den Attentäter wahrnehmen bis zu dessen Betreten der Bar.
Das Ergebnis: Wären sie nicht in die hintere Ecke gelaufen, sondern zum Notausgang und wäre dieser offen gewesen, hätten es alle Fünf rechtzeitig aus der Bar geschafft. Nach der Berechnung hätten sie dafür neun Sekunden Zeit gehabt – das hätte gereicht. Einzig der letzte der Fünf wäre dann noch für einen Sekundenbruchteil im Blickfeld des Täters gewesen, aber auch er bereits acht Meter entfernt. Es sei daher „extrem unwahrscheinlich“, dass er noch getroffen worden wäre, so die Forscher:innen.
Die Staatsanwaltschaft verweist in ihrer Einstellungsverfügung dagegen darauf, dass der Notausgang nahe des Bareingangs lag und die Flüchtenden somit erstmal in Richtung des nahenden Täters hätten rennen müssen – alle aber hätten sich „von der Gefahrenquelle weg“ bewegt. Die Behörde sah auch nur ein Zeitfenster von fünf bis sechs Sekunden für die Flucht – was Forensic Architecture nun widerlegt sieht.
Für die Staatsanwaltschaft ist ungeklärt, ob die Tür zu war
Für die Staatsanwaltschaft ist zudem ungeklärt, ob der Notausgang tatsächlich überhaupt verschlossen war. Zeugen hätten sich dazu widersprüchlich geäußert. So hatten Stammgäste der Bar ausgesagt, dass der Notausgang seit Jahren fast immer verschlossen war, was allseits bekannt gewesen sei. Einige behaupteten gar, dies sei im Einvernehmen mit der Polizei geschehen, um Fluchtversuche bei Drogenrazzien zu verhindern. Auch ein Polizist hatte in einem Protokoll festgehalten, dass der Notausgang „bei der Tatortaufnahme verschlossen“ war. Und in einem Polizeivideo war zu sehen, wie ein Beamter versuchte, die Tür zu öffnen – was nicht gelang.
Andere Zeugen hatten dagegen den Ermittlern berichtet, dass die Tür durchaus gelegentlich oder dauerhaft offen gewesen sei. Auch der Barbetreiber erklärte, dass diese nur manchmal klemme. Vor Polizeibeamt:innen hatte er sie mit kräftigem Anlehnen geöffnet bekommen. Auch das Bauamt habe der Bar zuletzt keine baurechtlichen Mängel attestiert, so die Staatsanwaltschaft. Und für eine Anweisung der Polizei, den Notausgang zu verschließen, gebe es keine Belege. Die Staatsanwaltschaft hielt darauf fest, dass „nicht mit letzter Gewissheit geklärt“ sei, ob die Tür in der Tatnacht nun verschlossen war.
Bruder des Toten erhebt Vorwürfe in Ausschuss
Am Montag betonte dagegen auch Said Etris Hashemi, der Bruder des erschossenen Said Nesar Hashemi, im hessischen Untersuchungsausschuss zu dem Anschlag, es sei allen bekannt gewesen, dass der Notausgang verschlossen war. Wäre er offen gewesen, hätte man eine Chance aufs Entkommen gehabt. Hashemi war damals selbst in der Bar und wurde schwer am Hals verletzt. Er übergab dem Ausschuss den Bericht von Forensic Architecture und forderte, der Sache weiter nachzugehen.
Im Ausschuss schilderte er auch, wie er nach der Tat auf einer Rettungsliege von Sanitätern als „Schutzschild“ benutzt worden sei, als es fälschlich hieß, der Täter sei wieder da. Auch habe die Polizei den Krankenwagen erstmal nicht zum Krankenhaus fahren lassen. Warum, wisse er nicht, so der 25-Jährige. Zudem habe er später eine Art Gefährderansprache von der Polizei erhalten, sich vom Vater das Attentäters fernzuhalten, der weiter in Tatortnähe wohnt – während ausgerechnet dieser Schreiben an Behörden verschickte, in denen er die Opfer rassistisch beleidigte. Da habe er sich gefragt, wer hier eigentlich wen schütze, sagte Hashemi.
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