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Neue Bundesregierung um Friedrich MerzNormal schlägt Zeitenwende

Merz' Regierungsprogramm zeigt, dass er und die Union ganz Grundsätzliches nicht verstanden haben – die Klimakrise zum Beispiel.

Erster Kanzlerkandidat, der im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit erhielt: Friedrich Merz Foto: Michael Kappeler/dpa

E s ist dieser fassungslose Blick von Friedrich Merz, der mir im Kopf bleibt. Als ich am Dienstag am Fernseher das Konklave im Bundestag verfolge, fängt die Kamera von Phoenix ein paar dieser Szenen ein: Die großen Augen des späteren Bundeskanzlers, seine sichtbare Erschütterung. Betroffenheit, Unverständnis, in welche Gesichter die Kamera auch schaut: Carsten Linnemann, Jens Spahn, Alexander Dobrindt, Lars Klingbeil, Julia Klöckner.

Aber auch die Opposition versteht die Welt nicht mehr an diesem 6. Mai morgens kurz vor zehn Uhr. Sie gucken alle ganz schön bedröppelt aus der Wäsche. Und: Keiner weiß erst mal, was zu tun ist. Dass ein Kanzler bei seiner Wahl im ersten Wahlgang scheitert, ist in den Systemeinstellungen der Bundesrepublik Deutschland nicht vorgesehen.

Den Spott und die Häme darüber überlasse ich gern den blauen Trollen im Parlament und allen anderen im Netz. Für mich zeigt die Fassungslosigkeit der politisch Verantwortlichen im Land (von den Unverantwortlichen reden wir hier mal nicht), wie sehr sich niemand vorstellen kann, dass hier wirklich mal was schiefläuft.

80 Jahre nach Kriegsende gehen wir immer und grundsätzlich davon aus, dass irgendwie alles funktioniert. Dass die Post kommt, dass das Wasser aus dem Hahn fließt, dass sogar in Berlin irgendwann der Müll abgeholt wird.

Selbstunzufriedenheit und Selbstfokussierung

Die Betroffenheit im Bundestag und „draußen im Land“ zeigt: Mit externen Schocks rechnet hier niemand. Sie werden ignoriert, auch wenn sie draußen im Land permanent passieren und nicht mehr rückgängig zu machen sind: Der heißeste Februar/März/April seit Aufzeichnungen; die weltweite Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze; das Aussterben von Pflanzen und Tieren; die Zerstörung der globalen Wälder; die Versauerung und Aufheizung der Meere; der Plastikmüll noch am letzten Südseestrand.

Aber auch die Schuldenkrise in den Entwicklungsländern, das Elend in den Kriegsgebieten und die Bedrohung vor allem der armen Menschen dieser Erde – all das wird von einer Selbstunzufriedenheit und Selbstfokussierung verdrängt, die aus Deutschland den Nabel der Welt macht.

Die Regierung Merz ist das beste Beispiel für die Selbstverständlichkeit, mit der die CDU/CSU das Land regieren und wieder in den „Normalzustand“ versetzen will. Normal heißt für sie: Die Union regiert, die Wirtschaft brummt, Deutschland gewinnt beim Fußball. So hat Friedrich Merz seine Regierung aufgestellt und ausgerichtet: Zeitenwende gibt es bei ihm nur fürs Militär, vielleicht noch ein bisschen Digitalisierung mit Robotern und Raumfahrt.

Kein zweiter Wahlgang für die Bewältigung anderer Zeitenwenden

Die anderen Zeitenwenden werden ignoriert und abgewickelt: Die globale Mi­gra­tions­be­we­gung, die eskalierende Klimakrise, der Kontrollverlust über die Lebensgrundlagen, Lieferketten und unseren Wohlstand – alles keine Themen, die ernsthaft angepackt werden. Die Regierung Merz stutzt die zuständigen Ministerien, kürzt die Entwicklungshilfe und schafft die Beauftragten für woken Klimbim wie Klimapolitik, Meeresschutz oder Radverkehr als erste Amtshandlung gleich mal ab.

Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit werden in allen anderen Ministerien eingedampft und wieder „wie normal“ im Streichelzoo des Umweltministeriums geparkt. „Wer so was macht, hat nicht verstanden, worum es geht“, sagt die neue Bildungsministerin Karin Prien zum Wahldebakel von Merz – aber es passt auf sein ganzes Regierungsprogramm.

Am Nachmittag des 6. Mai ist Friedrich Merz die Erleichterung anzusehen. Mit den Stimmen all der Spinner, die in seiner Welt nicht alle Tassen im Schrank haben, ist ein CDU-Politiker der zehnte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das Land ist also zurück auf normal. Das Problem ist nur: Für die Bewältigung all der anderen Zeitenwenden gibt es keinen zweiten Wahlgang.

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Bernhard Pötter
Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).
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2 Kommentare

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  • AFD i(Migration) st ein Problem für die nächsten 5 Jahre. Massenarbeitslosigkeit für die nächsten 10 Jahre. Klimakatastrophe für die nächsten 50 Jahre. Alle die über 25 sind interessiert das am Rande. Auf jeden Fall nicht so sehr das sie dafür ihren Lebensstil aufgeben würden. Und damit ist auch das grüne Akademikerpärchen gemeint mit drei Kinder und Wohnmobil.

  • Nett. Und doch greift es nicht.



    Deutschland ist nicht der Nabel der Welt, aber wenn man alle Krisen der Welt im Blick behalten möchte, hat man nach wenigen Stunden einen burnout. Und müsste mit dem Vorwurf leben, sich überall einmischen zu wollen.



    Lasst doch den eigenen Nabel ansehen: der Rhein hat im April schon Niedrigwasser, so ein "normaler" Transport nicht möglich ist. Vielerorts sind die Äcker zu trocken, weil der April eben nicht "normal" war, also ohne sprichwörtliche Wetterkapriolen. Immerhin scheint die Sonne auf immer mehr PV.