Netflix-Serie „Acht Menschen in Istanbul“: Quer durch alle Schichten
„Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ ist das Psychogramm einer Gesellschaft. Darin konkurriert der Hodscha mit der Psychiaterin.
Wie kann eine türkische Serie, die gänzlich auf Action und melodramatische Szenen verzichtet, zum Politikum werden? Eine achtteilige Serie, die lange Dialoge enthält und eher eine Low-Budget-Produktion für ein Arthouse-Publikum ist? Doch die Netflix-Serie „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“, die Mitte November angelaufen ist, hat genau dies geschafft.
Erbittert wird in den sozialen Netzwerken gestritten. Die Netflix-Produktion wird mit überwältigendem Zuspruch, aber auch extremer Missgunst bedacht. Erstaunlich ist dabei, dass Gefallen und Missfallen quer durch alle politischen Lager verläuft. Linke und Feministinnen, konservative Moslems und Säkulare, sie sind sich auch untereinander uneins.
Berkun Oya (Regie): „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“, Netflix, Nov. 2020. Mit:Öykü Karayel, Fatih Artman, Funda Eryiğit. Drehbuch: Berkun Oya und Ali Farkhonde.
„Eine große Niederträchtigkeit“, titelt die islamistische Zeitung Yeni Akit. Sie verurteilt den Angriff auf die „nationalen und geistigen Werte“ und fordert die türkische Zensurbehörde auf, einzugreifen. Eine angedeutete Masturbation mit Kopftuch sowie lesbische Beziehungen waren wohl zu viel des Guten. Andere wiederum loben die Netflix-Produktion, weil sie gegen die Islamophobie Partei ergreife.
Ein „Anti-Feminismus reloaded“, resumiert jedoch eine andere Autorin. Während eine andere feministische Momente zu erkennen glaubt. Die Säkularen würden verspottet, kritisieren die einen, während andere Säkulare meinen, die Serie bringe das Thema Islam und Kopftuch auf den Punkt. Da gibt es Linke, die sagen, die soziale Frage und Klassenzugehörigkeit würde zugunsten eines Kulturalismus ausgeblendet. Während andere gerade den sozialen „Realismus“ dieser Serie preisen.
Offene Wunden
Die hitzige Debatte offenbart, dass die Netflix-Produktion den Finger auf die offenen Wunden der Gesellschaft legt. Und dies gilt offenbar nicht nur für die Türkei. Auch in Ägypten, Jordanien, Libanon, Saudi-Arabien, Katar, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Marokko ist die Serie unter den Netflix-Top-10 und somit auch ein kommerzieller Massenerfolg.
Berkun Oya, Drehbuchautor und Regisseur, porträtiert Istanbuler quer durch alle sozialen und kulturellen Schichten in ihrem Zusammenspiel im Lebensalltag. Da ist die Putzfrau Meryem, die aus der konservativen, dörflichen Peripherie zur Arbeit in die Haushalte der Reichen in der City aufbricht. Sie lebt bei ihrem älteren Bruder Yasin (verheiratet mit der depressiven Rukiye, zwei Kinder). Er hat einst in einem Sonderkommando der türkischen Armee gedient und arbeitet nun als Wachmann in einem Nachtclub.
Mit Müh und Not bestreiten Yasin und Meryem ihre Existenz. Die moralischen Richtlinien, um ihr Leben zu gestalten, holen sie beim Dorfgeistlichen Ali Sadi ein, dem Hodscha, dem Imam der Moschee. Und da ist Peri, die Psychiatierin aus dem reichen, säkularen Elternhaus. Sie ist stark, solo und sie könnte auch mühelos den Charakter eines CEO bei einem Großkonzernes ausfüllen.
Da sind die verfeindeten kurdischen Geschwister Gülbin und Gülan, deren Familie aus Kurdistan nach Istanbul gezogen ist. Gülbin hat Medizin studiert, ist Psychiatierin, während Gülan sich ihren sozialen Aufstieg durch eine gute Heirat und Anpassung an die herrschenden politischen Verhältnisse gesichert hat.
Hayrinüsa hört Electro
Da ist Melisa, Schauspielerin einer türkischen Soap im Fernsehen. Sowie Sinan, der reiche Playboy, der in einer Residenz wohnt und bei dem Meryem putzen geht. Und da ist der Nachwuchsgeistliche Hilmi, der ganz mitgenommen von Carl Gustav Jung ist und auf Hayrinüsa, die Tochter des islamischen Hodscha, steht, die heimlich Electro-Musik hört.
Die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft, die politischen Konfliktlinien – der kurdische Konflikt, die Rolle des Islam, das Kopftuch als Symbol politischer Identität, die extreme soziale Ungleichheit: Regisseur Oya hat wagemutig vieles in Therapiesitzungen verlegt. Putzfrau Meryem ist mehrfach in Ohnmacht gefallen. Sie wird im Krankenhaus untersucht und wird schließlich in die Psychiatrie überwiesen. Sie sitzt nun auf der Couch der Pychiaterin Peri gegenüber.
Gegensätzlichere Charaktere hätte man sich kaum ausdenken können. „Was machen wir nun?“ fragt Meryem. „Vielleicht können wir uns ja ein wenig unterhalten“, sagt Therapeutin Peri. Sprachlosigkeit angesichts völlig gegensätzlicher Lebenswelten. Doch der Versuch, miteinander ins Gespräch zu kommen, markiert vielleicht den roten Faden dieser Serie.
Die fromme Meryem („ein schöner Name, Meryem/Maria war die Mutter von Jesus“) erzählt, man sage im Dorf, der Hodscha stamme vom Geschlecht des Propheten Mohammed ab. Vom Hodscha muss sie sich auch die Erlaubnis holen, um weiter zur Therapie kommen zu dürfen.
Wie ein Alien
Auf der anderen Seite zeigt die Serie eine Peri, die ihrerseits in der Supervision mit Therapeutin Gülbin eingesteht, dass ihre Patientin Meryem sie zur Weißglut treibt. Kopftuchträgerinnen sind für Peri Gestalten, die einem UFO entstiegen sein könnten. Sie war im Urlaub in Peru. Selbst mit den fernen Peruaner:innen habe sie leichter kommunizieren können als mit diesen Kopftuchfrauen.
In der Serie wird nicht nur die Therapeutin der Patientin helfen, sondern auch die Patientin wird die Therapeutin zu ihren unverarbeiteten Kindheitstraumata führen. Die Naivität ebenso wie die Intelligenz Meryems wird in einer schauspielerischen Glanzleistung von Öykü Karayel in Szene gesetzt.
Die kluge Meryem schafft es immer wieder, einigen Fragen der Therapeutin auszuweichen. Und irgendwann fragt sie, wie lange man studieren müsse, um Ärztin zu werden. Und stellt fest: „Du hast wirklich nicht umsonst studiert. Du schaffst es, alles zurechtzubiegen und auf den Punkt zu bringen.“
Bei der Thematisierung des kurdischen Konfliktes setzt Regisseur Oya zwei kurdische Geschwister in ihrem Elternhaus in Szene. Wegen der Behandlung ihres querschnittsgelähmten Bruders gehen Gülbin und Gülan aufeinander los. Beiläufig erfährt das Publikum von Vertreibung und Leid dieser kurdischen Familie.
Geh doch zur PKK!
Gülbin scheint mit der kurdischen Opposition zu sympathisieren, sodass ihre Schwester sie anschreit: „Geh doch zu deinen Freunden in den Bergen!“ Andere Szenen legen nahe, dass Gülan, die einen teuren SUV fährt und ständig demonstrativ irgendwelche Gebete murmelt, sich mit dem politischen Regime arrangiert hat. Sie scheint in das lukrative Islam-Business eingestiegen zu sein und hat mit irgendwelchen islamischen Stiftungs- und Moscheeprojekten zu tun.
Der Publikumserfolg der Serie ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Charaktere nicht wie irreale Figuren wirken. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, denen wir überall in Istanbul begegnen. Die Furore, die die Serie entfacht hat, zeigt, dass die Leute sich in den Charakteren wiedererkennen. Ebenso der Missmut, den sie bei manchen hervorruft, die sich meinen, darin wiederzuerkennen, aber in ihrer Darstellung nach außen selber sich ganz anders sehen.
Doch Didaktik und den erhobenen Zeigefinger wird man in „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ vergebens suchen. Moralische Urteile sind dem Drehbuchautor und Regisseur fremd. Stattdessen wird langsam erzählt. Und man fragt sich am Ende: Ist das, was wir in der Türkei Gesellschaft nennen, vor allem eine Ansammlung marginalisierter und von Traumata geplagter Menschen? Tragikomische Figuren, die einfach nicht klarkommen mit den gewaltigen politischen und kulturellen Umbrüchen in dem Konglomerat von Orient und Okzident?
Vielleicht. Doch vielleicht gibt es noch einen Weg, miteinander ins Gespräch zu kommen und die eigene Geschichte zu verarbeiten.
Mit Konzertauftritten des Sängers Ferdi Özbegen klingen die ersten Folgen aus. Eine blasse Erinnerung an die „schönen, guten alten Zeiten“ der siebziger und achtiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Özbegen war ein Phänomen. Seine Schnulzen gefielen sowohl den Binnenmigranten, die aus Anatolien in die Stadt strömten, als auch den Eliten.
Dabei war er auch ein Marginalisierter. Sohn einer armenischen Mutter und eines moslemischen Vertriebenen aus Kreta. Bevor er zu Ferdi wurde, wuchs Ferdinand christlich auf. Ferdi Özbegen war schwul. Um sein Erbe dem Mann zu vermachen, den er so sehr liebte, adoptierte er ihn.
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