Nachfolge von britischem Premier Johnson: Identität vor Inhalten
Die Tories zeigen mit ihren Nachfolgekandidaten die Fähigkeit zur Selbsterneuerung. Das Problem: Es geht mehr um die Person, weniger um das Programm.
D er Favorit stammt aus Indien. Seine Konkurrenz ist fast komplett weiblich. Wer in Großbritannien Diversität sucht, findet sie im aktuellen Rennen um die Nachfolge Boris Johnsons als Parteichef der regierenden Konservativen und damit als Premierminister. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die nächste Regierungschefin des Vereinigten Königreichs eine Schwarze mit Dreadlocks wird.
Das ist die positive Seite des aktuellen Auswahlprozesses um die Führung Großbritanniens. Die Tories zelebrieren die Vielfalt der britischen Gesellschaft, ein Erbe der Kolonialzeit und der postkolonialen Migration: Die Labour-Partei hat hingegen bis heute immer nur weiße Männer zum Chef gewählt.
Die britische Politik ist gezwungen, mit dem rasanten gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten, denn das Land verlangt von seiner politischen Klasse eine in der Welt seltene Fähigkeit zur Selbsterneuerung. Wer ein Amt ausübt, setzt sich permanenter Kritik aus. Wenn der aktuelle Wechsel vollzogen ist, werden drei der vier letzten Premierminister nach drei Jahren aus dem Amt gefegt worden sein.
Und Gordon Brown, Theresa May und Boris Johnson waren keine politischen Leichtgewichte, im Gegenteil. Sie haben es nur nicht vermocht und wahrscheinlich auch nicht gewollt, ihr politisches Umfeld in eine so vollendete Lähmung zu versetzen, dass nur sie selbst als bewegliche Akteure übrigbleiben, so wie in jüngster Zeit in gewissen anderen westlichen Demokratien mit Amtszeiten von bis zu sechzehn Jahren.
Die Kehrseite davon ist die Gefahr, dass Personalwechsel an die Stelle eines Politikwechsels tritt und dass der persönliche Charakter wichtiger wird als der politische Inhalt. Boris Johnson zog einen teilweise irren Hass auf sich, der sich nahezu ausschließlich an seiner Persönlichkeit festmachte. Dass jemand nicht Boris Johnson ist, reicht aber nicht, um zu entscheiden, wer in 10 Downing Street einziehen soll. Das bunte Feld, in dem niemand Boris Johnson ähnelt, steht. Jetzt kommt die politische Überzeugungsarbeit.
Personalwechsel an die Stelle eines Politikwechsels tritt und dass der persönliche Charakter wichtiger wird als der politische Inhalt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?