Großbritanniens Noch-Premier Johnson: Lahme Ente von Downing Street

Boris Johnson nahm es mit Fakten nie so genau – lange mit Erfolg. Mit seinem Vermächtnis könnte Großbritannien noch lange zu kämpfen haben.

Boris Johnson mit wehenden Haaren im Wind

Die verwuschelten Haare gehören zu ihm: Großbritanniens Noch-Premierminister Boris Johnson Foto: Toby Melville/reuters

Er will vorerst weitermachen. Der britische Pre­mierminister Boris Johnson ist zwar am Donnerstag zurückgetreten, aber gegangen ist er noch nicht. Zunächst soll sich die Partei um einen Nachfolger kümmern. Doch das kann dauern. Bis dahin soll das Vereinigte Königreich von einer „lame duck“, einer lahmen Ente, regiert werden.

Manche Tories fürchten, dass Johnson in dieser Zeit weiteren Schaden anrichten könnte. Labour-Chef Keir Starmer hat angekündigt, einen Misstrauens­antrag zu stellen, falls Johnson nicht sofort geht.

Johnsons Rücktritt ist das vorläufige Karriereende eines großen Illusionskünstlers. Er hat sein politisches Rüstzeug in der Eton-Oxford-Kaderschmiede erhalten, die auch sein Vor-Vorgänger David Cameron und viele seiner Weggefährten durchlaufen haben. Simon Kuper, Journalist der Financial Times, studierte zur selben Zeit wie jene Herren in Oxford und hat ein Buch darüber geschrieben: „Chums“ – Kumpane. Kuper war bereits viel in der Welt herumgekommen, bevor er nach Oxford ging. Sein größter Kulturschock, schreibt er, war die Obsession der Briten mit der Klasse und ihrem Rang in der Hierarchie.

Großbritannien hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich zu einem Land entwickelt, in dem mehr Gleichheit als je zuvor herrschte. Doch dann kam Margaret Thatcher an die Macht, und die Oberschicht witterte Morgenluft. In Oxford manifestierte sich das im Debattierzirkel „Oxford Union“ und im „Bullingdon Club“, einer Vereinigung von Sprösslingen der Oberschicht, bei der allein die Uniform mehrere tausend Pfund kostete.

Der Stil der Debatten sei von Charme, Witz und Leichtigkeit geprägt gewesen statt von Fakten und Zahlen, schreibt Kuper. „Letzteres galt als langweilig.“ Man kam besser an, wenn man einen komödiantischen Auftritt hinlegte. Deshalb seien viele später zunächst Zeitungskolumnisten geworden, denn sie haben das „faktenfreie Getöse“ in Oxford gelernt, wo die Essays in der Art von Zeitungskolumnen ohne viel Recherche geschrieben wurden, behauptet Kuper.

Lancierte Anekdoten

Auch Boris Johnson ging zur Presse. Er war nie ein analytischer oder faktentreuer Journalist, er war immer ein Entertainer, ein Geschichtenerzähler. Bei der Times kostete es ihn den Job, weil er Zitate gefälscht hatte, beim Daily Telegraph arbeitete er als Brüsseler Korrespondent und erfand absurde EU-Regeln­, die er dann geißeln konnte.

Als Politiker hat er diesen Stil beibehalten, und damit war er erfolgreich – obwohl ihn manche als Politclown abtaten. Johnson arbeitete mit Selbstironie und Witz, mit sorgfältig verstrubbelten Haaren und einem Hemd, das immer aus der Hose rutschte. Und er lancierte Anekdoten in eigener Sache. So habe er sich für die Hochzeit mit der Kommilitonin Allegra Mostyn-Owen einen Anzug leihen müssen und den Ehering binnen weniger Stunden verloren. Die Ehe hielt nicht lange.

Vor seiner Ernennung zum Premier machten Fotos von seinem zugemüllten Auto die Runde. Johnson erschien vielen als ein Mensch wie du und ich, dessen elitäre Erziehung in den Hintergrund trat.

Kühl berechnend

Tatsächlich aber ist er ein kühl berechnender Politiker. Nach anfänglichem Zögern schwang er sich zum Wortführer der Kampagne für den Austritt aus der EU auf, weil ihm das förderlich für seine Karriere erschien – zu Recht, wie sich herausstellte.

Der Brexit war sein Meisterstück. Sein Versprechen, das Land wirtschaftlich neu zu beleben und den abgehängten industriellen Gebieten im Norden Englands durch Investitionen zu mehr Wohlstand zu verhelfen, zog auch in bisher von Labour dominierten Wahlkreisen. Deshalb fuhr Johnson im Jahr 2019 einen so deutlichen Wahlsieg ein, wie ihn die Tories seit Margaret Thatcher nicht erlebt hatten.

Am Ende musste Johnson nicht wegen Inkompetenz oder wegen der zahlreichen Skandale gehen. Die hätte man ihm verziehen, wenn er sich dafür artig entschuldigt hätte, was ja auch eine Weile funktioniert hat. Was ihm das Genick brach, waren die Lügen. Die Wählerinnen und Wähler, die geduldig die Anti-Corona-Maßnahmen ertragen hatten, während er Partys feierte, merkten, dass sie für dumm verkauft werden sollten, und wandten sich von ihm ab. Deshalb zogen die Abgeordneten die Reißleine. Sie mussten fürchten, ihre Sitze bei den nächsten Wahlen zu verlieren.

Sein Rücktritt hat in der EU Erleichterung ausgelöst. Der frühere Brexit-Chef­unterhändler Michel Barnier sagte: „Der Abgang von Boris Johnson eröffnet ein neues Kapitel in den Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Möge es konstruktiver und respektvoller gegenüber den Verpflichtungen sein, besonders was Frieden und Stabilität in Nordirland betrifft.“ Ein EU-Diplomat, der ungenannt bleiben wollte, sagte der US-amerikanischen Tageszeitung Politico wenig diplomatisch: „Jeder ist voller Schadenfreude. Es war sehr unterhaltsam.“

Schadenfreude in Moskau

Schadenfreude herrscht auch in Russland. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte: „Er mag uns nicht. Wir mögen ihn auch nicht.“ Der russische Unternehmer Oleg Deripaska frohlockte, Johnsons Rücktritt sei das „schmähliche Ende eines dummen Clowns“. Und die Sprecherin des Außenministeriums Marija Sacharowa schrieb auf Telegram: „Die Moral der Geschichte lautet: Versuche nicht, Russland zu zerstören. Du beißt dir die Zähne aus und erstickst daran.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hingegen bedauerte, einen seiner wichtigsten Verbündeten verloren zu haben. Er dankte Johnson für die Unterstützung und die Militärhilfe sowie seinen frühen Besuch in Kiew. „Er war ein wahrer Freund der Ukraine“, sagte Selenski. „Ich bin sicher, dass sich die Ukraine-Politik des Vereinigten Königreichs nicht ändern wird.“

Wie geht es jetzt weiter? Zunächst müssen die Tory-Abgeordneten in einer Reihe von Wahlen die Riege der Kandidaten, die von acht Abgeordneten nominiert werden müssen, auf zwei reduzieren. Diese beiden müssen sich dann dem Votum der Parteimitglieder stellen. Die ganze Prozedur dauert ungefähr sechs Wochen.

Als Nachfolger drängt sich niemand wirklich auf. Die Generalstaatsanwältin Suella Braverman und der führende Brexit-Verfechter Steve Baker haben zwar nicht mal Johnsons Rücktritt abgewartet, bevor sie ihre Kandidatur verkündeten. Beide haben jedoch nur Außenseiterchancen, ebenso wie die Innenministerin Priti Patel, die bis zum Schluss an Johnsons Rockzipfel hing.

Wegen ihres Lobbyismus für die Tabak- und Alkoholindustrie, ihrer früheren Befürwortung der Todesstrafe, ihrer Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe und ihrer Verschärfung des Ausländer- sowie Demonstrationsrechts ist sie selbst vielen Tories zu rechts.

Ein knapper Favorit bei den Buchmachern

Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak, der lange als Kronprinz gehandelt wurde, musste wegen Missachtung des Corona­lockdowns eine Strafe zahlen und gilt außerdem als erfindungsreich, wenn es um die Vermeidung von Steuerzahlungen geht. Letzteres trifft auch auf Sajid Javid zu, der erst als Schatzkanzler und zuletzt als Gesundheitsminister aus Johnsons Kabinett zurückgetreten ist. Er hatte früher für die Deutsche Bank ein System erfunden, das Bonuszahlungen für Bankiers in Steuerparadiese umleitet. Darüber hinaus ist er mit Ausfällen gegen den „neofaschistischen“ linken Labour-Flügel und gegen „pädophile Muslime“ aufgefallen.

Knapper Favorit bei den Buchmachern ist Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace, der bei Führungsstil und öffentlichem Auftreten das Kontrastprogramm wäre. Aber er hat bisher nicht erklärt, ob er kandidieren will. Knapp dahinter liegt in Meinungsumfragen Penny Mordaunt, die Vorgängerin von Wallace als Verteidigungsministerin und zuletzt Staatssekretärin für Handel. Ihr Vorteil ist, dass sie 2019 für Johnsons Rivalen Jeremy Hunt gestimmt hatte. Der könnte erneut kandidieren – und erneut verlieren. Als Brexit-Gegner sind seine Chancen gering.

Und schließlich rechnet sich auch Außenministerin Liz Truss Chancen aus. Sie hielt bis zum bitteren Ende loyal zu Johnson – vermutlich eine Taktik, um dessen verbliebene Anhänger unter den Abgeordneten bei der anstehenden Wahl auf ihre Seite zu ziehen. Truss hatte in einer peinlichen Aktion Margaret Thatcher imitiert, indem sie sich mit Kopftuch am Steuer eines Panzers fotografieren ließ.

Wer auch immer auf Johnson folgen wird – zunächst muss er oder sie die zerstrittene Partei wieder vereinen und sie vom Zynismus und Argwohn der Johnson-Jahre befreien. Keine leichte Aufgabe.

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