Nach dem Bayern-Wahlerfolg der Grünen: Alles ist etwas too much
Die Grünen sind im Höhenflug. Aber was fangen sie damit an? Die taz begleitet Katharina Schulze und Annalena Baerbock.
Die Spitzenkandidatin der bayerischen Grünen empfängt in ihrem Büro im Südblock des Landtags, fünfter Stock. Schulze trägt eine Brille, ist ungeschminkt und wirkt etwas entspannter als in den irren Tagen Anfang der Woche. Heute hat sie die neuen Mitglieder ihrer Fraktion zum ersten Mal durch den Landtag geführt. Die bayerischen Grünen haben wegen des Wahlsiegs doppelt so viele Abgeordnete. Sie geht zum Fenster, schaut zum gegenüberliegenden Gebäude. „Da drüben hat die SPD gerade eine Sitzung“, sie dreht sich um, „die tun mir schon leid.“
Was bleibt? Die Grünen, das ist fast sicher, werden in Bayern nicht mitregieren. Söder wird mit den Freien Wählern über eine Koalition verhandeln. Dennoch wird die Wahl in Bayern bei den Grünen als Zeitenwende gefeiert. Schulze selbst spricht von einem „historischen“ Ergebnis („Das ist echt der Hammer!“). Erstmals seit Jahren habe der progressive Teil der Gesellschaft damit begonnen, „den Rechtsdrift zurückzukämpfen“, sagt Fraktionschef Anton Hofreiter.
Auch international wurde die weiß-grüne Sensation registriert. Während die Volksparteien damit kämpften, die rechte Herausforderung zu verstehen, lieferten die Grünen eine Antwort für liberal gesinnte BürgerInnen, schrieb der britische Guardian. „Greens cut rise of German right“, titelte The Age, eine liberale Tageszeitung aus Australien.
Stoppen die Grünen tatsächlich den Rechtstrend? Oder sind das überschwängliche Thesen von JournalistInnen und PolitikerInnen? Und welche Schlüsse zieht die Bundespartei daraus?
„Es gibt keinen Planet B“
Annalena Baerbock, die Grünen-Chefin, bittet ihre Mitarbeiterin am Mittwochmorgen in ihrem Berliner Bundestagsbüro um einen Ingwertee mit Honig. Eine Zimmerpalme am bodentiefen Fenster, Kritzelcollagen ihrer Kinder an der Wand, außerdem ein Poster mit der Erdkugel: „Es gibt keinen Planet B.“ Baerbock nimmt die Tasse entgegen und lehnt sich zurück. „Das ist unser aller Erfolg.“ Und er basiere auf lang Gewachsenem. Dann erinnert sie an Sepp Daxenberger.
Daxenberger, der einstige Grünen-Chef, der 2010 an einer Krebserkrankung starb, verstand die bayerische Seele wie kein zweiter. Katholischer Bauer, Lederhosenträger, Goaßlschnalzer – Daxenberger räumte schon vor Jahren mit dem Klischee auf, die Grünen seien strickende Vegetarier aus der Großstadt. Schulze und ihr Kospitzenkandidat Ludwig Hartmann haben seine Mission, die Versöhnung der Bayern mit den Grünen, erfolgreich fortgeführt. 17,5 Prozent, sechs Direktmandate, das war vorher undenkbar im konservativsten aller Bundesländer.
Baerbock weiß natürlich auch, wie wichtig diese Wahl für die Bundesspitze war, die erste, seitdem sie im Januar ins Amt gewählt wurde. Sie und Robert Habeck sind gestartet mit dem Versprechen, die Grünen aus ihrer gesellschaftspolitischen Nische herauszuführen. Bisher kann man sagen: Läuft für die beiden. Die Bundesgrünen liegen in einer aktuellen Umfrage bei 20 Prozent, weit vor der SPD. Die Presse lobt die geglückte Erneuerung an der Spitze. Bayern ist auch Baerbocks Erfolg.
Für sie ähneln sich die Ansätze im Bund und in Bayern. Sie wollten „ganz normale Menschen auf der Straße zum politischen Gespräch einladen“. Mehr mit Leuten reden, die anderer Meinung seien. „Wir predigen nicht, dass unsere Lösungen die einzig richtigen seien – sondern hören Zweiflern zu.“ Baerbock sitzt gerade und spricht schnell. „Gerade, wenn man sich auch mit den Gegenargumenten auseinandersetzt, wird unsere Politik besser.“
Schulze wurde zu einer Art Shootingstar
Nun ist es ja so, dass Menschen auf der Straße oft bessere Dinge zu tun haben, als sich von Politikern auf ein Gespräch einladen zu lassen. Aber bei Baerbock und Schulze, den grünen Spitzenfrauen, wird das Floskelhafte dieses Satzes durch die Realität gebrochen. Wo sie auch hingehen, beide gehen locker auf die Leute zu – und umgekehrt.
Schulze wurde im Wahlkampf zu einer Art Shootingstar. Sie vereint das Professionelle mit dem Flapsigen. Mal wirkt sie kämpferisch und streng, aber nie kühl, dann wieder wie die Frohnatur vom Land, gesund, mit geröteten Wangen.
Am Sonntagabend, drei Sekunden nach 18 Uhr, regnet es grünen Glitzer im Saal 1 des bayerischen Landtags. Robert Habeck hat ein paar Kinder in der Mitte des Raums versammelt, Anton Hofreiter ist auch da, der Raum ist voll, der Sauerstoff knapp. Der Balken der Grünen auf dem Bildschirm schießt auf 18,6 Prozent, die erste Hochrechnung. „Don’t stop me now“ von Queen, das ist das Lied, das sie sich für diesen Moment ausgesucht haben. Nach den Balken kommen die Torten, sehr schnell ist klar: Es reicht für eine Koalition der CSU mit den Freien Wählern. Doch so richtig scheint das hier niemanden zu interessieren. „Tonight I’m gonna have myself a real good time, I feel alive and the world I’ll turn it inside out – yeah.“
Schulze bedankt sich auf der Bühne, legt die Hand auf die Brust, schließt auch mal die Augen. „Mein Herz ist gehüpft, ich freue mich so.“ Bayern habe sich schon jetzt verändert, die Wahl zeige, dass die Menschen eine Politik wollten, die Probleme löse und nicht neue Probleme produziere.
Bis zur Wahlparty in der Muffathalle, einem ehemaligen Elektrizitätswerk, gibt Schulze Interviews, eins nach dem anderen. Mut statt Angst, Herz statt Hetze, Europe united, nicht Bavaria first. Schulze redet gern, man glaubt ihr die Sätze auch noch beim hundertsten Mal.
Sie ist immer noch nicht müde
Vorn, auf der Bühne, dreht Schulze noch mal richtig auf. Sie schreit, ihre Stimme ist heiser. „Wo sind die Feministinnen und Feministen?“ Jubel im Saal, an den Tischen mit den grün-weiß karierten Tischdecken. „2018 gehört die Hälfte der Macht den Frauen!“ Und noch einmal: „Liebe ist stärker als Hass!“ Kurz darauf lassen sich Robert Habeck und Ludwig Hartmann von der Bühne auf die Hände des Publikums fallen.
Zwei Spitzenpolitiker machen Stagediving. Gänsehaut, aber auch ein bisschen Fremdscham. Die Grünen wirken in ihrer Euphorie ein wenig überdreht, alles ist etwas too much. Ministerpräsident Markus Söder signalisiert bereits am Wahlabend, dass er eine bürgerliche Variante – sprich: ein Bündnis mit den Freien Wählern – präferiert. Bei den Grünen kommt das mit Zeitverzögerung an.
Noch am Montag erklären einem Spitzengrüne hinter vorgehaltener Hand, dass sie zu stark seien, als dass Söder an ihnen vorbeikomme. Bei der Pressekonferenz in der Geschäftsstelle in der Sendlinger Straße schwingt bei Hartmann und Schulze schon ein Hauch Wehmut mit. Immer wieder fallen die Worte „bürgerliche Mitte“. Hartmann fragt: „Wäre es nicht eine spannende Aufgabe gewesen? Ökologie und Ökonomie zusammenzudenken?“ Das Beste aus beiden Welten, so nennt Hartmann das. Schulze spricht die Demut an, mit der Markus Söder am Abend vorher das Wahlergebnis noch verstehen wollte. Könnte es mit einem demütigen Söder nicht doch noch klappen?
Katharina Schulze
Im lila Kleid und mit einer Sonnenbrille, klar, geht Schulze vom Büro der Grünen am Sendlinger Tor zum Eine-Welt-Haus im Bahnhofsviertel. Die Sprecherin schiebt das Fahrrad, schließt den Reißverschluss von Schulzes Tasche, die im Korb liegt. „Ich hasse es, wenn sie die auf lässt.“ Schulze geht wieder voraus, das Handy in der Hand, die Arme schwingen. Sie ist immer noch nicht müde.
Glaubt sie noch an eine Koalition mit der CSU? „Die CSU ist stärkste Kraft geworden, aber dass sie die zweitstärkste zumindest inhaltlich nicht übergehen kann, ist doch hoffentlich klar. Die Leute haben doch ein klares Signal gesendet.“ Die Inhalte haben überzeugt, glaubt Schulze – Umweltschutz, Feminismus, eine proeuropäische Haltung. „Ich sag’s mal ganz basic level: Menschen möchten wieder eine menschliche Politik. Und die CSU wurde diesbezüglich krachend abgewählt.“
Eigentlich ändert sich nichts in Bayern
Das ist zu diesem Zeitpunkt, vorsichtig gesagt, eine verschobene Realitätswahrnehmung. Der Zug fährt los, und die Grünen stehen hilflos an der Bahnsteigkante. Die Freien Wähler dienen sich der CSU an, beide Parteien sind sich inhaltlich nah, sie ticken ähnlich. Für Söder sind sie die bequemere Variante als ein risikoreiches Bündnis mit der Ökopartei. Eigentlich ist schon am Montag klar, dass er auf ein „Weiter so!“ setzt.
Ein Schweizer Radiosender ruft an, Schulze geht die belebte Sonnenstraße entlang. „Geh in den Hauseingang, des ist viel zu laut“, sagt die Sprecherin. Schulze geht weiter. Sagt ihre Sätze. Mut statt Angst. Herz, nicht Hetze. Europe united, nicht Bavaria first. Sie lacht. „Mei, die Schweizer, ich liebe diesen Dialekt. Ich hätte noch ewig mit dem quatschen können“, sagt sie nach dem Interview. Die Sprecherin erzählt, dass sie sich bei der AfD sehr über den Erfolg der Grünen geärgert haben. „Geschieht ihnen recht“, sagt Schulze, sperrt das Fahrrad ab und geht zur nächsten Sitzung.
Bei den Grünen gibt es, grob gesagt, zwei Deutungen dieser Wahl, eine helle, freundliche und eine düstere. Die düstere veröffentlicht Jürgen Trittin, der einflussreiche Parteilinke, am Dienstag auf seiner Homepage. „Tatsächlich ist die Mehrheit rechts der Mitte in Bayern größer geworden“, schreibt Trittin. Im Jahr 2013 hätten die Parteien rechts der Mitte noch eine Zweidrittelmehrheit gehabt. 2018 stehe es fast 70:30, wenn man die Stimmen für CSU, Freie Wähler, AfD und FDP zusammenzähle. Trittins Fazit: „Damit mindern sich die Machtperspektiven zur Umsetzung von mehr Klimaschutz, Gerechtigkeit und einer offenen Gesellschaft.“
Im Kern heißt das: Eigentlich ändert sich nichts in Bayern. Die Chancen für ein Bündnis links der Mitte sind sogar schlechter geworden.
Ach, Trittin. Baerbock runzelt in ihrem Büro die Stirn. Es sei offensichtlich, dass die CSU verloren habe, weil sie den Rechten hinterhergelaufen sei, sagt sie. Und dass die Grünen gewonnen hätten, weil sie eine klar proeuropäische, an Werten orientierte Politik verträten. Überhaupt, von ideologischen Blöcken könne keine Rede sein, es sei falsch, CSU, Freie Wähler und FDP mit der rechtsextremen AfD in einen Topf zu werfen. „Es geht hier nicht einfach nur um links gegen rechts, sondern vor allem um Bürgersinn, Liberalität und Rechtsstaat gegen Nationalismus und Extremismus.“
Also: irgendwie doch Zeitenwende. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit dazwischen. Jedenfalls sind die Grünen ihrem Ziel, „führende Kraft der linken Mitte“ zu werden, einen guten Schritt nähergekommen. Und auch in Hessen, wo in einer Woche gewählt wird, sieht es gut aus. In einer aktuellen Umfrage liegen sie bei 22 Prozent, vor der SPD (20 Prozent) und nur knapp hinter der CDU (26 Prozent). Auch hier könnten die Grünen die alte Tante SPD überholen.
Stagediving hätte Baerbock eher nicht gemacht
Wenn man mit führenden Grünen spricht, äußern sie sich über die Erosion der Sozialdemokratie nicht hämisch, sondern besorgt. Ihnen ist klar, dass etwa Rot-Rot-Grün ohne eine stabile SPD unmöglich wird. Baerbock sagt: „Dass die Bindekraft der SPD nicht mehr reicht, ist ein Problem.“ Aber was ist die Alternative? „Ich kann doch nicht sagen, weil die SPD gerade bei Wahlen verliert, wollen wir auch verlieren.“
Wenn man sie auf die Euphorie ihrer eigenen Partei anspricht, überlegt sie kurz, wie sie ihre Meinung zeitungskompatibel ausdrückt. „Als Trampolinspringerin weiß ich: Wer Salti schlagen will, muss auf dem Boden landen – und zwar mit beiden Füßen.“
Sagen wir es so: Stagediving hätte Baerbock eher nicht gemacht. Wenn etwas während eines Höhenfluges gefährlich ist, dann Hochmut. Und die Grünen sind nicht frei von solchen Neigungen.
Vor ihnen liegen in Bayern ja in Wirklichkeit fünf zähe Jahre Opposition. Die Koalition mit den Freien Wählern, auf die Söder seit Donnerstag offiziell zusteuert, wird nicht viel anders machen als eine schwarze Alleinregierung. Was Grüne aus dem erfolglosen Sondierungsgespräch mit Söders Leuten berichten, klingt nüchtern. Die Atmosphäre sei erstaunlich gut gewesen, „auf Augenhöhe“. Aber bei harten Punkten habe sich die CSU quergestellt – besonders in der Ökologie. So sei sie etwa nicht bereit gewesen, die harte Abstandsregelung für Windkraftanlagen, die den weiteren Ausbau faktisch stoppt, zu ändern.
Bei den Grünen ist die Stimmung ambivalent. Die einen trauern der vertanen Chance aufs Regieren hinterher. Landeschefin Sigi Hagl glaubt wie Schulze, dass etwas Gutes hätte entstehen können: „Wenn die CSU den Mut gehabt hätte, das Wahlergebnis und den Veränderungswunsch in der Bevölkerung ernst zu nehmen.“
Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Aber es gibt auch diejenigen, die sich freuen, dass das Bündnis mit dem Feind ausfällt. Für die Grünen im Bund und in anderen Landesverbänden wäre Schwarz-Grün in Bayern ein großes Risiko gewesen. Wie lässt sich ein Bündnis mit der CSU rechtfertigen, der Robert Habeck vor nicht allzu langer Zeit vorgeworfen hat, an einer „fundamentalen Richtungsverschiebung hin zu einer illiberalen Demokratie“ zu arbeiten? Wie umgehen mit den zu erwartenden Ausfällen in der Migrationspolitik?
Gerade im linken Flügel ist die Erleichterung groß. Ricarda Lang, Sprecherin der Grünen Jugend, formuliert es so: Es sei „eine große Chance“, dass die Grünen nun als Oppositionsführer an der Seite der Zivilgesellschaft für eine ökologische Wende und humanitäre Politik streiten würden.
Katharina Schulze formuliert es am Donnerstag in ihrem Fraktionsbüro so: Die Grünen hätten einen klaren Wählerauftrag bekommen, ihre Themen nach vorne zu stellen. Das Ausbalancieren von Freiheit und Sicherheit, das Kämpfen für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen: „Dafür stehen nur wir Grüne, den anderen ist das egal!“
Ordentliche Opposition also. Den Grünen bleibt in Bayern auch nichts anderes übrig.
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