Debatte Grüne nach der Hessenwahl: Auf dem Weg zur Großpartei
Nach ihren Triumphen in Bayern und Hessen können die Grünen auf Dauer erfolgreich sein – wenn sie mutiger als bisher die offene Gesellschaft vertreten.
N ach den jüngsten Erfolgen haben die Grünen eine große Chance und viel Verantwortung zu tragen. Es gibt drei Voraussetzungen, unter denen sie auch dauerhaft Erfolg haben und die Bundesrepublik vor dem Schicksal anderer liberaler Demokratien bewahren können, in denen autoritäre Nationalisten auf dem Vormarsch oder schon an der Regierung sind:
Sie gewinnen, wenn ihre Wahlerfolge nicht nur per Umverteilung im linken Lager auf dem Feld der ehedem starken SPD zustande kommen. Davon sind sie noch ein Stück entfernt, denn die Reichweite der Brandt- und auch Schröder-SPD hat sich erst einmal nur auf drei Parteien verteilt, die insgesamt keine Mehrheit „links von der Union“ ergeben. Die aktuellen Wählerwanderungen zeigen, dass die Grünen vor allem in den Großstädten wie im westlichen Hinterland auch von der Union Stimmen beziehen – von Wählern, denen die Anbiederung an die Rechte zu weit gegangen und die CSU ein permanentes Ärgernis ist. Hier kommt ein kultureller Wandel zum Ausdruck, der aus dem „rot-grünen Lager“ herausführt und Koalitionen mit der CDU endgültig enttabuisiert. Was ihre menschen- und bürgerrechtlichen und auch ihre egalitären und wohlfahrtsstaatlichen Positionen betrifft, bleiben die Grünen links. Doch beim Umwelt- und Klimaschutz können sie das überkommene Rechts-links-Schema überschreiten.
Die Grünen gewinnen also auf Dauer, wenn sie nicht bloß die Verschrottungsprämie einer absehbaren Havarie der Großparteien kassieren, sondern deren Rückwärtsgewandtheit mit einem attraktiven Programm der Gegenwartsbewältigung und Zukunftssicherung begegnen und dieses auch mit wechselnden Koalitionspartnern auf den Weg bringen. Im Zentrum muss dabei die Abwendung von Klimawandel und Artensterben stehen, nicht als single issue einer Ökopartei, sondern als überzeugendes Transformationsvorhaben, das auf die Ursprungsideen der neuen sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren zurückführt: auf konkrete Utopien einer anderen Arbeit und eines besseren Lebens im Einklang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, wobei die Gleichstellung der Geschlechter und die Generationengerechtigkeit noch weiter nach vorn gerückt sind.
Bei Frauen und unter 35-Jährigen haben die Grünen eine Mehrheit. Da können sie in der Regierungsverantwortung auch erheblich mutiger agieren als zuletzt in Baden-Württemberg und Hessen. Das gilt für die Eindämmung des Flugverkehrs ebenso wie für eine entschiedene Verkehrswende und eine soziale Wohnungsbauinitiative. Und ihren Rückstand in den östlichen Bundesländern könnte die Partei ein Stück wettmachen, wenn sie sich als Anwältin der vernachlässigten Regionen erweist, von deren Problemen sich die AfD nährt.
Daniel Cohn-Bendit ist Publizist und war lange Politiker von Bündnis 90/Die Grünen und Europe Écologie - Les Verts.
Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg.
Nachhaltige Gesellschaft
Am Ende gewinnen die Grünen nur, wenn sie eine glaubhafte Alternative in und für Europa darstellen. Die Vereinten Nationen haben die genannten Aufgaben mit der Agenda 2030 in einen globalen Gesellschaftsvertrag gegossen, und die einzelnen Kapitel dieser Agenda, die soziale Solidarität ebenso umfassen wie kulturelle Pluralität, sind nicht nur im reichen Norden mehrheitsfähig. Sticheleien, wonach die Grünen nur ein „cremiges“ Privilegiertenmilieu, die Latte macchiato schlürfenden SUV-Mütter bedienen, fallen auf die Urheber dieser Vorurteile zurück.
Wenn gefragt wird, worin die „Utopie“ der grünen Bewegung bestehe und was man der Neuen Rechten entgegensetzen kann, dann ist es genau diese in der Agenda umrissene Idee einer nachhaltigen und offenen Gesellschaft. Dabei behindert der Klimaschutz die wirtschaftliche Entwicklung nicht, wie oft behauptet, er kann sie sogar neu begründen. Das kann die Grünen endlich auch für Gewerkschaften interessant machen und für Unternehmen, welche die Vorzüge einer „grünen Wirtschaft“ erkannt haben. Nur mit den Grünen sind andere Arbeits(zeit)verhältnisse, eine soziale Grundsicherung und damit die Verhinderung von Kinder- und Altersarmut im Einklang mit den Umweltnotwendigkeiten zu erreichen.
Die Grünen gewinnen also, wenn sie nicht nur ein vom Tageserfolg leicht besoffenes Milieu repräsentieren, sondern sich als machtvolle politische Alternative erweisen. Wenn sie nicht die alten Volksparteien imitieren, sondern das diffuse Bewegungsmilieu an politische Verantwortung heranführen. Wenn die Merkel-Union (unter wem auch immer) nach rechts rückt, ergeben sich neue Wählerschichten, die Grün auch auf Bundesebene an Schwarz heranreichen lassen.
Die Grünen sind linksliberal und ökologisch, und sie müssen noch sehr viel europäischer werden. Dazu besteht jetzt das berühmte „Gelegenheitsfenster“. Denn auch wenn die Apparate der Großparteien schon auf die nächstes Jahr anstehenden Wahlen in ostdeutschen Ländern justiert werden, ist erst einmal eine Pause in der permanenten Kampagne, womit die AfD an Aufmerksamkeit verlieren wird und sich ganz auf ihre anstehende Zerreißprobe konzentrieren kann. Nur so kann auch in den Medien der Wechsel von deren Lieblingsthemen „Flüchtlinge-Islam-Kriminalität“ zu wirklich wichtigen Problemen erfolgen. Die Grünen können ihre humanistische Position in der Frage der Einwanderung untermauern, die nicht einfach „offene Grenzen für alle“ will, sondern durch multilaterale Kooperation und Friedenspolitik Massenflucht eindämmt und rationale Kriterien für Asylsuchende und Einwanderer definiert.
Das ist ebenso wenig nationalstaatlich zu bewältigen wie Klimaschutz und sozialer Zusammenhalt, sondern nur in europäischer Gemeinsamkeit. Ob die Grünen darauf bereits hinreichend vorbereitet sind, müssen sie jetzt beweisen – mit einer stärkeren Europäisierung ihrer Politik, mit gleichgesinnten Bündnispartnern in allen EU-Staaten und auch mit attraktiven Spitzenkandidaten. Dafür müssten jetzt die beiden Parteivorsitzenden eintreten und zur Verfügung stehen.
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