Musikethnologisches Projekt FLEE: Die nach den Tönen forschen
Das Projekt FLEE mit Sitz in Paris verfolgt beim Urbarmachen von alten Klangarchiven und Feldaufnahmen aus aller Welt neue Ansätze. Ein Porträt.
Musikethnolog*innen dürfen sich über mangelnde Sichtbarkeit gerne beschweren. Ihre Arbeit findet häufig an entlegenen Orten der Welt statt, fernab vom regen Kulturleben der Großstädte, wo sie dann längst vergessenen (oder bis dato unbekannten) Phänomenen nachhorchen und -forschen. Auch wenn sie sich in Archive begeben, in Aktenkellern unter Kunstlicht Schriftstücke sichten, damit ihre Forschungen verdichten und wochenlang an wissenschaftlichen Berichten feilen, geschieht das meist unter Ausschluss von Aufmerksamkeit.
Das Forschungsopus eines Alan Lomax (1915–2002) beweist doch, wie wichtig dessen Klangforschungen sind. Der US-Amerikaner widmete sich zeitlebens dem Aufspüren von US-Folkmusik und -Traditionen, machte in den 1930er und 1940ern Tausende Stunden Tonbandaufnahmen in den US-Südstaaten. Auf seiner Sammlung basiert unser Wissen über Spirituals der Sklaven, über die Ursprünge von Gospelsound, aber auch frühe Blues- und Folkaufnahmen von Muddy Waters und Woodie Guthrie sicherte Lomax für die Nachwelt.
Drei Nachfahren im Geiste von Alan Lomax sind Alan Marzo, Olivier Duport (beide 32) und Carl Åhnebrink (30). Ihr musikethnologisches und interdisziplinäres Projekt nennen sie FLEE und es hat seinen Hauptsitz in Paris, wenngleich sie ebenso im Rest der Welt zu Hause sind. Interessanterweise sind die drei Kuratoren keine Ethnologen von Haus aus, sondern haben Politologie und Internationale Beziehungen studiert. „Das spielt tatsächlich eine wichtige Rolle für unsere Arbeit“, erklärt der Franzose Olivier Duport.
Plattform für Kulturentwicklung
Die drei nennen ihr Projekt eine „cultural engineering platform“ – hinter dem freischwingenden Etikett, das man getrost mit Kulturentwicklungsplattform übersetzen kann, verbirgt sich ein Musiklabel, ein Buchverlag, ein Kurationsteam für Ausstellungen und Diskussionsforen, Residenzprogramme und, und, und. Alle Projekte sind miteinander verschränkt und für die Arbeit der drei FLEE-Gründer nicht voneinander zu trennen.
Nahma: „A Gulf Polyphony“. Doppelalbum und Buch mit Beiträgen von Monira al Qadiri, Talin Hazbar, Talal Matta u. a. Englisch/Arabisch. 240 Seiten, FLEE
Tarantismo: „Odyssey of an Italian Ritual“. Doppelalbum und Buch mit Beiträgen von Edoardo Winspeare, Claudia Atimonelli, Pamela Diamante u. a. Englisch/Italienisch, 160 Seiten, FLEE
Bei FLEE gibt es kein Henne-Ei-Problem, die Frage ob nun Albumveröffentlichungen oder Bücher den wichtigeren Teil darstellen, stellt sich gar nicht: „Beide Objekte sind Teil derselben Reflexion. Am Beginn jedes Projekts steht ein Klangarchiv, das wir als solches ausmachen. Von dem Punkt aus erklären wir den soziologischen, politischen, historischen und künstlerischen Kontext eines musikalischen Genres oder eines Phänomens“, sagt Duport.
Fehlende Kontexte liefern
Dies habe sowohl Marzo und Duport, die sich bei einem Auslandssemester in Helsinki kennen gelernt haben, als auch Marzos Jugendfreund Åhnebrink zu dem Entschluss gebracht, FLEE zu starten: „Die Absenz von soziologischen und politischen Kontexten, die zu einer Exotisierung und Essenzialisierung von Musik geführt haben, war der Zündfunke.“ Anders als es der Ahne Lomax vorgemacht hat, konzentriert sich die Sucharbeit von FLEE nicht auf einen bestimmten Zeitraum, widmet sich auch nicht bloß einer bestimmten Region eines Landes, sondern schaut auf verschiedene Ecken der Welt.
So haben sie 2017 etwa Klassiker der Benga in Kenia geborgen, einem Musikgenre, das in den 1970ern ausschließlich im östlichen Afrika rezipiert wurde, dann weitgehend in Vergessenheit geriet und heute als ultimatives Symbol „vergangener Zeiten“ und der Nostalgie gilt. 2019 folgte dann „Tarantismo: Odyssey of an Italian Ritual“. Eine Auseinandersetzung mit Tarantismus.
Hierbei handelt es sich um ein Phänomen aus Süditalien, genauer, aus Apulien. Die Angst vor Taranteln mündete dort in hysterischen Zuständen. Zur Gefahrenabwehr tanzten mitunter wochenlang ganze Dorfgemeinschaften manisch gegen Spinnenbisse an. Nicht nur eine Fußnote der Psychologie-Geschichte: Das Phänomen mündete unmittelbar in den Tanz (und die dazugehörige Musikform) Tarantella, die jene wahnhaften Angstzustände in trancehafte, gemeinschaftliche Tanzereignisse sublimierte.
Tarantismus ist irgendwo zwischen alljährlichem Ritual, Massenpsychose und Synkretismus angesiedelt. Klingt interessant? Ist es auch!
Fotografien, Essays, Dokfilme, Musikaufnahmen
„Unsere Arbeit beginnt immer mit einem Phänomen, einem Genre, und von da aus versuchen wir möglichst viel Kontext zu liefern“ – das sieht am Beispiel des Tarantismus folgendermaßen aus: FLEE veröffentlichten zur Musik ein Buch mit Fotografien und Essays; dazu einen Dokumentarfilm. Namhafte Personen arbeiten mit.
Der Filmemacher Edoardo Winspeare, der mit seinem Debütfilm „Pizzicata“ der süditalienischen Region Salento ein Denkmal gesetzt hat, und die Essayistin und Popkultur-Forscherin Claudia Attimonelli, die ihre erste Erfahrung mit einem solchen „Folk Rave-ival“, wie sie es nennt, beschreibt. Die veröffentlichte Musik versammelt von Ethnolog:innen in den 1950ern getätigte Originalaufnahmen.
Erweitert werden diese um Remixe der kanadischen Elektronikproduzentin LNS und des Berliners Don’t DJ; auch der italienische Editspezialist Bottin liefert einen Beitrag. Es sind spannende (Re-)Kontextualisierungen der Vorlage. Duport bestätigt: „Für unser Verständnis ist es unerlässlich, musikalische Phänomene und Rituale neben ihrem künstlerischen Wert auch auf ihren sozialen Nutzen und ihre Funktion hin zu untersuchen.“
Lieder von Perlentauchern am Persischen Golf
Auch die Musik des aktuellen Projekts wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Es heißt „Nahma: A Gulf Polyphony“ und handelt von der Musik von Perlentauchern aus der Region am Persischen Golf. „Nahma zielt darauf ab, die Erinnerung an diese Freitaucher zu ehren, die monatelang in der Golfregion auf Expeditionen unter harten Bedingungen verbrachten“ – um Perlen für den Westen zu sammeln. Hier steht ihre eigene Kultur und ihre Musik erstmalig im Fokus.
„Wir haben in Dänemark die allerersten Aufnahmen des Musikethnologen Poul Rovsing Olsen aufgespürt.“ Diese sind in den späten 1950er Jahren entstanden und verewigten die Arbeitsgesänge, die ursprünglich auf den Perlenfischerbooten von den Besatzungen vorgetragen wurden. Duport erzählt: „Dann übergaben wir einige dieser Auszüge an zeitgenössische Künstler:innen. Wir forderten sie auf, nicht bloß Remixe zu produzieren, sondern beeinflusst von den Aufnahmen neue Originalmusik zu kreieren.“
Das kontrovers diskutierte Thema kulturelle Aneignung spricht Duport im Interview mit der taz offen an: „Wir denken immer mit, dass wir Fremde und Außenstehende im jeweiligen Forschungsfeld sind. Es muss mit dem nötigen Respekt aber möglich sein, über musikkulturelle Phänomene zu reden, selbst wenn man aus nichtmusikalischen Feldern und anderen Weltgegenden stammt.“
Positive Resonanz
Die Resonanz aus den erforschten Gemeinschaften sei zumindest bisher positiv: „Die Menschen akzeptieren, dass wir sie mit unserer Arbeit nicht verdrängen‚ sondern, dass wir ihnen eine Bühne für ihre Stimmen bieten. FLEE will Debatten mit den Projekten lostreten, die innerhalb traditioneller Kanäle schwieriger umzusetzen wären.“
Ganz wichtig ist den drei Machern die enge Zusammenarbeit mit ortsansässigen Musikszenen und Künstler:innen. Daher ist das Buch zum Projekt „Nahma“ nicht nur in Englischer Sprache gehalten, sondern bilingual: Rechtsherum ist die englische Fassung, von hinten nach vorne die arabische.
Die Musik ist das Bindeglied. Remixe kommen folgerichtig nicht nur von der Wiener Künstlerin Conny Frischauf und dem US-amerikanischen House-DJ Hieroglyphic Being, die hierzulande fast unbekannte ägyptische Musikerin Aya Metwalli aus Kairo ist ebenfalls mit im Boot. Bei solch langwierigen und ehrgeizigen internationalen Projekten stellt sich natürlich die Frage der Finanzierung.
Unabhängig von staatlichen Kulturinstitutionen
FLEE agiert nach eigenen Angaben unabhängig von großen Institutionen, hat eine feste Fanbase – Gewinn werfen die aufwendig gestalteten Bücher und Alben dennoch nicht ab. Man generiert mit wechselnden öffentlichen Partnern projekt-basierte Förderungen – ein passendes Beispiel ist das Residenzprogramm, das für kommendes Jahr ansteht.
Nach mehrwöchigen Forschungsaufenthalten in Kenia und in Italien, wo einheimische Musiker*innen zusammen mit Gästen Songs aufgenommen haben, folgt nun eine Kooperation mit dem Museum für Völkerkunde im schweizerischen Genf. Neu für das Projekt „Extra Muros“ ist, dass es diesmal nicht um Musik aus einer bestimmten Region geht, sondern acht Musiker*innen aus aller Welt eingeladen sind, wie Alan Lomax musikethnologisch die Museumsbestände zu durchkämmen.
Im Schallarchiv warten 120.000 Feldaufnahmen aus den letzten 100 Jahren, zudem darf – fröhliche Wissenschaft! – auch die Sammlung mit Musikinstrumenten aus der ganzen Welt benutzt werden.
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