Moshe Zimmermann über Israel-Kritik: „Nicht jeder Boykott ist antisemitisch“
Der israelische Historiker verteidigt den Verein „Jüdische Stimme“ – trotz dessen Unterstützung für die Boykottbewegung BDS.
taz: Herr Zimmermann, gemeinsam mit mehr als hundert jüdischen Intellektuellen wehren Sie sich gegen den Versuch, den Berliner Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zum Schweigen zu bringen. Warum soll diese Stimme weiterhin zu hören sein?
Moshe Zimmermann: Wir leben in einer Zeit, in der die Meinungsfreiheit immer weiter eingeschränkt wird. Beim Thema Israel spürt man das besonders stark. Stimmen, die sich gegen die israelische Regierung und ihre Unterstützer erheben, werden marginalisiert und unterdrückt. Es ist Zeit, dass wir als israelische Intellektuelle uns wehren.
Wer steht hinter diesem Versuch, kritische Stimmen zu unterdrücken?
Vor allem die israelische Regierung, die die jüdischen Gemeinden im Ausland mit einbezieht. In diesen wie auch in der israelischen Gesellschaft gibt es selbstverständlich eine besondere Empfindlichkeit für Antisemitismus, die sich aktivieren lässt. Weil – wie auch im Fall der „Jüdischen Stimme“ – die Kritik von israelischer und jüdischer Seite kommt, schließen sich auch die nichtjüdischen „Gutmenschen“ an.
Die „Jüdische Stimme“ bezeichnet die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu als „rechtsextrem“. Würden Sie auch so weit gehen?
Die derzeitigen Koalitionsparteien gehören auf jeden Fall nicht zur alten, konservativen Rechten Israels. Sie sind streng nationalistisch und benutzen religiöse Argumente, um die Rechte von Palästinensern zu beschneiden. Wenn das nicht rechtspopulistisch bis rechtsextrem ist, wüsste ich nicht, was rechtsextrem sein soll.
Kürzlich berichtete die taz über ein Schreiben, in dem Israel versucht, die Finanzierung von besatzungskritischen NGOs in Israel und Palästina durch Deutschland einzuschränken. Das Jüdische Museum in Berlin wurde als „antiisraelisch“ kritisiert, weil es in einer aktuellen Ausstellung über Jerusalem auch „die muslimisch-palästinensische Sichtweise“ berücksichtigt.
Die israelische Regierung ist auf der Hut vor jeder Art von Kritik. Sie versucht, jegliche Kritik als Teil der Bewegung „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ darzustellen, der Boykott-Kampagne gegen Israel.
Das ist auch der Hauptkritikpunkt an der „Jüdischen Stimme“. Die Gruppe unterstützt die BDS-Kampagne offen, die in Deutschland als klar antisemitisch gilt.
Sie sagen es: „gilt“. Das muss man nachweisen. BDS ruft zum Boykott Israels auf. Das ist nicht automatisch antisemitisch.
Islamistische Organisationen wie die Hamas unterstützen BDS. Und Teile der BDS-Bewegung stellen das Existenzrecht Israels infrage. Anders als im ursprünglichen BDS-Aufruf aus dem Jahr 2005 unterscheiden einige BDS-Aktivisten heute nicht, ob es ihnen um die Räumung der besetzten palästinensischen Gebiete geht oder um ganz Israel.
Es gibt in der BDS-Bewegung viele Leute, die antisemitisch argumentieren. Aber nicht jeder BDS-Unterstützer ist zwangsläufig Antisemit. Auf der anderen Seite ist nicht jeder, der einen Boykott der Siedlungen im palästinensischen Westjordanland unterstützt, automatisch BDS-Mitglied. Diese Behauptung ist eine Technik des Mundtotmachens: In einem ersten Schritt wird jemand als BDS-Unterstützer bezeichnet, in einem zweiten Schritt wird BDS mit Antisemitismus identifiziert.
Bekennt sich die „Jüdische Stimme“ ihrer Auffassung nach deutlich genug zum Existenzrecht Israels?
Soweit mir bekannt ist, wird der Gruppe nichts Gegenteiliges vorgeworfen. Sie kritisieren die Politik der israelischen Regierung und sind für BDS, was ich persönlich nicht unterstütze, weil ich zwischen einem Israel-Boykott und einem Boykott des israelischen Siedlungsunternehmens unterscheide. Ich kann aber verstehen, dass andere diesen Standpunkt vertreten. Man kann die Unterstützung für BDS nicht einfach als Antisemitismus bezeichnen, um so die Meinungsfreiheit zu beschneiden.
ist ein israelischer Historiker und Professor emeritus für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.
In ihrem Aufruf kritisieren sie auch die Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken, kurz IHRA. Diese wurde auch von der Bundesregierung übernommen. Ihr Kern ist, dass Antisemitismus nicht bei einer Äußerung oder Straftat beginnt, sondern vorher: bei „einer bestimmten Wahrnehmung von Juden“.
Das ist nicht das Problem, sondern dass das, was als „israelbezogener Antisemitismus“ bezeichnet wird, Elemente beinhaltet, die nicht zum Phänomen des Antisemitismus gehören. Die allzu flexible Anwendung der IHRA-Definition führt dazu, dass beinahe jede Art von Kritik an Israel demnach als antisemitisch betrachtet werden kann.
Sie reden vom Zusatz der IHRA-Definition, der explizit betont, dass „auch der Staat Israel (…) Ziel solcher Angriffe sein kann“.
Auch dagegen lässt sich erst einmal nichts sagen. Das Problem ist die Schwammigkeit der IHRA-Definition. Jeder Bezug auf Israel oder israelische Politik steht unter dem Verdacht des Antisemitismus. Die inflationäre Benutzung des Begriffs ist gefährlich. Denn dort, wo Antisemitismus wirklich zu finden ist, wird er möglicherweise nicht erkannt. Das, was vielen Kritikern der israelischen Politik vorgeworfen wird, ist kein Antisemitismus. Deswegen rufen wir auch die deutsche Gesellschaft auf, hier klar zu unterscheiden zwischen Kritik mit Antisemitismus und Kritik ohne Antisemitismus. Diese Unterscheidung steht hinter unserer Unterstützung für die „Jüdische Stimme“.
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