Mordfall Walter Lübcke: „Einer der besten Kameraden“
Stephan Ernst soll zur „völkischen Artgemeinschaft“ gehört haben. Hinweise häufen sich, dass der Mord an Lübcke nicht die Tat eines Einzelnen war.
Es ist das Mantra der Sicherheitsbehörden im Mordfall Lübcke: Der Tatverdächtige, Stephan Ernst, sei seit 2009 nicht mehr auffällig gewesen. Deshalb habe man ihn zuletzt nicht mehr auf dem Radar gehabt. Das Bild aber bekommt zunehmend Risse: Offenbar war Ernst doch länger in die rechtsextreme Szene verstrickt als bisher bekannt.
In Sicherheitskreisen heißt es nun, der 45-Jährige sei noch bis 2011 Mitglied in der rechtsextremen „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft“ gewesen. Wegen offener Mitgliedsbeiträge sei er dann rausgeworfen worden. Zuerst hatte die Welt darüber berichtet. Zudem wurden zuletzt zwei mutmaßliche Waffenbeschaffer von Ernst verhaftet – die ebenfalls der rechtsextremen Szene nahestehen.
Ernst hatte am Dienstag gestanden, Anfang Juni den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Haus erschossen zu haben – wegen einer Äußerung des CDU-Politikers 2015, als dieser sich gegen Flüchtlingsfeinde verwehrte. Ernst fiel bereits ab 1989 mit schweren rechtsextremen Straftaten auf, war Teil der Kasseler Kameradschaftsszene und kurzzeitig Mitglied der NPD. 2009 aber, nach der Teilnahme an einem Angriff von Neonazis auf eine DGB-Kundgebung in Dortmund, war Schluss. So hieß es bisher.
Offenbar aber nicht mit der „Artgemeinschaft“. Diese wurde 1951 gegründet und lange Jahre von der NPD-Ikone Jürgen Rieger angeführt. Der Verfassungsschutz geht derzeit von 170 Anhängern aus. Die Mitglieder verstehen sich als „heidnische Germanen“ und wollen eine Zukunft „im Kreise unserer Art“. Der Verfassungsschutz attestiert der Gruppe eine „rassistisch geprägte Ideologie“, sie sei ein „bedeutender Ansprechpartner für das kulturelle Leben innerhalb der nationalen Bewegung“. Gleichzeitig verhalte sie sich „äußerst konspirativ“.
Ernsts Hochphase fällt mit NSU-Morden zusammen
Und: Die Gruppe hat einen NSU-Bezug. Vor ihrem Untertauchen 1999 soll Beate Zschäpe eine Tagung der „Artgemeinschaft“ in Niedersachsen besucht haben. Jahre später soll dies auch der als NSU-Helfer verurteilte Sachse André Eminger getan haben. Und der als NSU-Waffenorganisator verurteilte Ralf Wohlleben ist mit dem derzeitigen Anführer der „Artgemeinschaft“, Jens Bauer, befreundet.
Und hier nun mischte auch Stephan Ernst mit? Das ist heikel: Seine rechtsextreme Hochphase spielte genau in der Zeit, als der NSU mordete – im April 2006 auch in Kassel. Ernsts Anwalt wollte sich am Sonntag nicht äußern. „Artgemeinschaft“-Anführer Bauer indes bestreitet eine Mitgliedschaft von Ernst: In internen Unterlagen tauche dieser nicht auf. Sicherheitskreise behaupten anderes.
Martina Renner, Linke
Dazu kommt, dass Ernst offensichtlich auch über 2009 hinaus mit dem Kasseler Rechtsextremen Markus H. Kontakt hielt. Der soll ihm 2016 die Tatwaffe für den Mord an Walter Lübcke vermittelt haben – über den Trödelhändler Elmar J. aus Nordrhein-Westfalen, der im Internet mit der NPD sympathisierte. Beide sind nun auch inhaftiert wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord.
Markus H. soll schon in den Neunzigern bei der rechtsextremen Partei FAP mitgemischt haben, später beim „Freien Widerstand Kassel“. Und: Im NSU-Komplex wurde H. 2006 von Polizisten befragt, weil er auffällig oft eine BKA-Fahndungsseite zum Kasseler NSU-Mord aufrief. Er habe das Opfer, Halit Yozgat, flüchtig gekannt und sich daher für die Tat interessiert, sagte H. damals. Die Ermittler hakten die Spur ab.
Der verharmlosende Mythos vom „rechten Schläfer“
Die Linken-Innenexpertin Martina Renner fordert nun die Ausweitungen der Ermittlungen im Fall Lübcke. „Die neuen Meldungen zeigen, wie falsch und gefährlich der Begriff ‚rechter Schläfer‘ ist“, sagte sie der taz. „Sowohl Ernst als auch Markus H. waren nie raus aus der rechten Szene. Ich erwarte, dass die Bundesanwaltschaft gegen alle Unterstützer der rechten Mordtat konsequent nicht nur wegen Beihilfe ermittelt, sondern auch wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.“
Druck lastet nun auch auf den Sicherheitsbehörden, allen voran dem hessischen Verfassungsschutz: Hätten Sie Ernst nicht doch im Blick behalten müssen? Auffällig jedenfalls ist, dass sich Kasseler Neonazis zuletzt mit Ernst solidarisierten. Einer nannte ihn „einen der besten Kameraden“. Weiter geprüft wird, ob Ernst nicht auch zum Neonazi-Netzwerk „Combat 18“ Kontakt hielt.
Zudem untersuchen die Ermittler nach taz-Informationen die Rolle von Ernsts Schwiegervater. Nachgegangen wird Hinweisen, dass sich dieser im Kreis der 2011 verbotenen „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene“ bewegt haben könnte. Er soll der Halter eines von zwei Autos sein, die ein Nachbar Lübckes am Tatort gesehen haben will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr