Milizen in Libyens Hauptstadt: Das Gewaltkartell
In Tripolis hat nicht der Staat das Sagen – Milizen haben die Stadt unter sich aufgeteilt. Sie treten auch als Partner der internationalen Diplomatie auf.
Es war der dritte tödliche Angriff des „Islamischen Staates“ (IS) in Tripolis innerhalb weniger Monate, und er kam kurz vor der für Anfang Januar geplanten vollständigen Rückkehr der Libyen-Mission der UNO (Unsmil) in die Hauptstadt. Deren Unterhändler hatten über Monate insgeheim einen Waffenstillstand zwischen den wichtigsten Hauptstadtmilizen und konkurrierenden Angreifern ausgehandelt.
Unter den Opfern im Außenministerium waren ranghohe libysche Diplomaten. Mit betretenen Mienen besichtigten Premierminister Faiez Serraj und Außenminister Taha Siala nach dem Anschlag die verkohlten Büroräume unweit des Radisson-Hotels, in dem seit Jahren internationale Geschäftsleute absteigen. Die Pressekonferenz des vor sechs Wochen eingesetzten Innenministers Fathi Bashaga geriet zur Kritik an der „Sicherheitsarchitektur“ für Tripolis. „Das Innenministerium hat kein Budget“, so Bashaga, „wir verfügen über keine eigenen Truppen oder Ausrüstung.“
Innenminister Bashaga befehligt offiziell 23.000 Mann, doch Befehle kann er ihnen nicht erteilen. Die wahren Herrscher von Tripolis sind Milizen: „Rada“ des Salafistenführers Abdulrauf Kara, die „Revolutionäre Brigade“ des wie ein Geschäftsmann gekleideten Haithem Tajouri, die „Nawasi-Brigade“ der Kaddur-Familie, die „Abu-Salim-Revolutionäre“ des Warlords Abdelgaghani Kikli, genannt „Die Kuh“ – einer der vielen Spitznamen, über die man in Tripolis mit Ehrfurcht spricht.
Die im Straßenbild allgegenwärtigen Bewaffneten haben Stadtteile und Aufgaben unter sich aufgeteilt, auch Banken, Tankstellen und Ministerien. Tajouris Miliz bewacht das Außenministerium. Die Büros der Ministerien sind oft schon am Mittag verwaist. Dass viele Mitarbeiter gar nicht mehr zur Arbeit erscheinen, hat im Außenministerium sicherlich Leben gerettet.
Milizen funktionieren als Wirtschaftsunternehmen
Es sind die Milizenführer, die mit Verhaftung von Schwarzmarkt-Geldhändlern und illegalen Migranten und mit einmalig befohlenen Auszahlungsaktionen der Banken der Bevölkerung zeigen, wer in Tripolis das Sagen hat. Wer entführte Verwandte oder seinen gestohlenen Wagen sucht, geht in Tripolis nicht zur Polizei, sondern zur jeweiligen Miliz. Während kleinere Gruppen dunkelhäutige Migranten von der Straße weg verhaften, um die Bevölkerung vor „Krankheiten und Kriminalität“ zu schützen und die Familien der Migranten zu erpressen, haben sich Tajouris „Revolutionäre Brigade“ und die Rada-Truppe auf den Kampf gegen den IS und Banden spezialisiert.
„Man weiß an den Kontrollpunkten in der Stadt häufig nicht, zu welcher Gruppe die Uniformierten gehören, die vor einem stehen. Die offiziellen Abzeichen sagen ja nur, auf wessen Lohnliste die Männer stehen, aber nicht, wem gegenüber sie loyal sind“, so Ali Araishi, ein Familienvater in einem Café am Algerien-Platz im Zentrum.
Den Glauben an die in Tripolis amtierende Einheitsregierung unter Serraj, die in weiten Teilen Libyens nicht anerkannt wird, haben viele Menschen in der Zweimillionenstadt schon lange verloren. Tagtäglich stehen Bankkunden stundenlang Schlange, um monatlich umgerechnet 40 Euro von ihren Konten abheben zu können. Die von Milizen bewachten Banken zahlen aufgrund der Liquiditätskrise nur einen Bruchteil der Guthaben ihrer Kunden aus. Die um ein Vielfaches gestiegenen Preise für Nahrungsmittel und der Absturz des libyschen Dinars haben viele Familien an den Rand des Ruins getrieben.
Trotz des auf Nachkriegsrekord gestiegenen Ölexports und des trotz des Staatszerfalls funktionierenden Bankensystems reichen die Budgets der Einheitsregierung nur für die Löhne der eigenen Angestellten. Der Rest geht an die Milizen, vermuten die Männer im Café. „Milizenkommandeure setzen ihre Leute auf die Lohnlisten des Innen- oder Verteidigungsministeriums, Parlaments- und Regierungsmitglieder nutzen die anderen Ministerien“, beklagt Ali Araishi.
Solange die bewaffneten Verbände die Politik bestimmen, seien Neuwahlen bedeutungslos, glaubt er. Die Milizen funktionierten als Wirtschaftsunternehmen und böten soziale Aufstiegschancen für diejenigen, die vor 2011 unter dem Gaddafi-Regime am unteren Ende der Gesellschaft standen.
UN-Unterhändler verhandeln mit „Deep State“
Um auch nach dem möglichen Ende des Machtvakuums vor Strafverfolgung sicher zu sein und Legitimität genießen zu können, kooperieren Milizen wie Rada auch mit den Vereinten Nationen und den ausländischen Botschaften. Die internationalen Diplomaten haben keine andere Wahl. Karas 2.000-Mann-Truppe bewacht den Flughafen Maitiga von Tripolis, über den die noch in Tunis stationierten Diplomaten für ihre Libyen-Missionen ein und aus fliegen. UN-Unterhändler verhandeln schon lange mit diesem „Deep State“, der offiziell der Regierung Serraj untersteht, aber diese de facto kontrolliert.
Da es im Westteil Libyens, anders als im von General Haftar beherrschten, keine schlagkräftige geeinte Armee gibt, haben die Diplomaten wohl keine andere Wahl, als sich mit den Milizen zu arrangieren. Doch sollte die Regierung ihnen die Kontrolle über Banken und Ministerien wegnehmen, könnten sie mit Gewalt Widerstand leisten.
Ausgeschlossen aus diesem Milizenkartell sind ehemalige Gaddafi-Anhänger, die verjagten Islamisten aus dem ostlibyschen Bengasi sowie die lokalen Milizen aus westlibyschen Städten wie Misrata, Zintan und Tarhouna. Im Oktober verwandelte ein Angriff der „Siebten Brigade“ aus Tarhouna den Süden von Tripolis in ein Schlachtfeld. Das Milizenkartell der Hauptstadt konnte dank der Unterstützung spontaner Straßenmilizen die Angreifer vertreiben. Die Aufklärungsbilder der täglich am Himmel über Tripolis gesichteten Drohnen ausländischer Geheimdienste trugen auch zu diesem Sieg bei, vermuten der Ingenieur Ali Araishi und seine Freunde im Café am Algerien-Platz.
Der Angriff auf das Außenministerium könnte ein neuer solcher Angriff gewesen sein: eine Warnung an die Allianz zwischen internationaler Gemeinschaft und den Milizen von Tripolis, ausgeschlossenen Gruppen Zugang zu den Geldquellen des Staates zu gewähren.
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