Migrationspolitik in der EU: Europas Wartesaal
Das Flüchtlingslager auf der Insel Kos gilt als Blaupause für die neue europäische Migrationspolitik. Die zeigt: Das Konzept ist zum Scheitern verdammt.
R afah hat blutige Stellen an ihren Füßen, denn sie läuft seit einer Woche jeden Tag acht Kilometer in ihren weißen Schlappen zu dem gigantischen Flüchtlingslager, in dem sie Asyl beantragt hat. Jetzt hofft sie, dort endlich ihre Papiere zu erhalten, damit sie das Leben in der Illegalität hinter sich lassen kann.
Sie steht vor einem meterhohen Nato-Zaun, der zusätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. Dahinter erstreckt sich auf einer Fläche von 90 Hektar, gespickt mit Wachtürmen und Masten mit Kameras, das „Closed Controlled Access Center“. Es ist ein Lager für Migranten und Flüchtlinge auf der griechischen Insel Kos.
Das Flüchtlingslager gilt als Blaupause für die neue europäische Migrationspolitik. Ein Blick hinter den Stacheldraht zeigt: Es fehlt an Schatten, Nahrung und medizinischer Versorgung. Wer Asyl bekommt, wird trotzdem in die Illegalität gedrängt. Wer keines erhält, kann in der Regel dennoch nicht abgeschoben werden.
Rafah kommt aus Syrien. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern setzte sie im Schlauchboot von der türkischen Küste über und erreichte mit der Insel Kos europäischen Boden. Zweieinhalb Monate verbrachte sie mit ihren Kindern in dem Lager. Wie war das Leben hinter dem Zaun? „Es war sehr schlimm, eine Mahlzeit am Tag, und die Behandlung durch die Sicherheitskräfte war sehr schlecht“, erklärt Rafah. Sie spricht die Worte auf Arabisch in das Handy vor sich, eine App übersetzt sie.
Entlassen ohne Papiere
Rafah gehört zu den Glücklichen hier: Ihr Asylantrag und der ihrer Kinder wurde angenommen. Nun wartet sie außerhalb des Lagers auf ihre Papiere. 30 Tage nach der positiven Entscheidung musste sie das Lager verlassen, so sind die Vorschriften. In der Regel landen die Betroffenen zunächst in der Obdachlosigkeit. Ohne Papiere haben sie keine Aussicht auf legale Arbeit oder eine Wohnung.
„Sie werden damit systematisch in die Illegalität gedrängt“, sagt die Juristin Anne Pertsch von der deutsch-griechischen Organisation „Equal Rights Beyond Borders“. Das sei die Gelegenheit für Menschenhändler. Oft folgten illegale Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft, im Tourismus, in der Sexarbeit.
Rafah arbeitet derzeit schwarz in einem Hotel, putzt und schläft dort, mit ihren Kindern. Jetzt hält sie dem Wachmann vor dem Lager ihr Handy hin und zeigt die Mail, die sie erhalten hat: „Ihr Ausweis ist fertig. Sie müssen an diesem Montag zur Asylbehörde auf Kos kommen“, steht dort. Der Wachmann spricht in sein Funkgerät und schüttelt den Kopf, läuft über den Vorplatz zwischen der griechischen und der europäischen Flagge hindurch zu einem der hellgrauen Container für den Sicherheitscheck.
Rafahs Oberkörper sackt ein, sie greift sich mit der rechten Hand an die Brust. Der Wachmann kommt zurück und sagt, die Ausweise ihrer beiden Kinder seien zwar da, aber der ihre nicht. Sie müsse auf die nächste Mail warten. Rafah versteht nicht recht. Der Wachmann dreht die Hand mit seinem ausgestreckten Zeigefinger und signalisiert „next mail“. „Next mail“, wiederholt Rafah und kämpft mit den Tränen.
Weiterreise nach Deutschland
Sobald sie ihre Papiere hat, will sie weg aus Griechenland, wo Flüchtlinge keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. Und wohin? „Deutschland“, sagt sie. In Berlin und Hamburg leben Familienangehörige. Viele Menschen würden von hier aus weiterreisen, um erneut Asyl in einem anderen EU-Land zu beantragen, erklärt Robert Nestler von „Equal Rights Beyond Borders“. „Deutschland versucht dann in der Regel, die Person wieder abzuschieben, weil ein anderes EU-Land bereits den Schutz zuerkannt hat.“
Die Rücküberstellung nach Griechenland scheitert in der Regel, weil die Situation für die Betroffenen so schlecht ist, dass sie Menschenrechte verletzt. Dann bekommt die Person ein neues Asylverfahren in Deutschland. Dies ist jedoch mit einem enormen Risiko für die Betroffenen verbunden. Denn der Antrag auf Asyl kann erneut scheitern.
Griechenland hat eine Schlüsselposition in der europäischen Migrationspolitik. Die Insel Kos liegt nur fünf Kilometer vor der türkischen Küste. Wer hier am Strand steht, sieht ohne Fernglas das Festland der Türkei. So wagen viele Migrantinnen und Flüchtlinge die Überfahrt. Am Strand von Kos, unweit entfernt von den badenden Urlaubern, liegen die Spuren dieser Reisen noch im Sand: kaputte Schlauchboote, Kinderkleidung.
Fast 33.000 Menschen sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in diesem Jahr nach Griechenland geflohen. Knapp 90 Prozent der Menschen nahmen den Weg über die Ägäis auf die griechischen Inseln. Allein auf Kos kamen 2024 so bislang mehr als 2.500 Menschen an. Mindestens 60 verloren dabei laut dem UNHCR ihr Leben.
Das teure Pilotprojekt
Seit Jahren gibt es an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende. Griechenland zwingt Flüchtende demnach zurück ins Meer, anstatt sie zu retten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland 2024 erneut deswegen verurteilt.
Wer die Reise geschafft hat, der kommt in das Lager, vor dem Rafah steht. Was hinter dem Nato-Zaun passiert, ist die Zukunft der EU-Migrationspolitik. Die EU hat das Lager für mehr als 34 Millionen Euro errichtet. Es gilt als Pilotprojekt: Im Zuge der EU-Asylreform entstehen andernorts baugleiche Lager mit denselben Verfahrensabläufen.
Zugang zu einem der Lager zu bekommen, ist schwierig. Journalistinnen und Journalisten bekommen in der Regel keinen. Immer wieder werden sie auf den Ägäischen Inseln aufgegriffen, verhört und im schlimmsten Fall der Spionage angeklagt. Im Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Griechenland in diesem Jahr Platz 88.
An diesem Tag sind Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) angereist, um sich einen Eindruck von der Lage für die Menschen zu verschaffen. Die Reporterin wird als Teil der Delegation wahrgenommen. Dann öffnet sich das Tor.
Asylbewerber kommen zunächst in einen geschlossenen Bereich des gigantischen Geländes, zum sogenannten Screening. Hier werden sie registriert, samt Fingerabdrücken. In der europäischen Datenbank „Eurodac“ prüfen Mitarbeitende, ob die Person schon einmal nach Europa eingereist ist.
Dann könnten die Behörden sie in das jeweilige Land der ersten Einreise zurückschicken. Doch das zuständige Land ist demnach in vielen Fällen Griechenland. Manche Migranten sehen die Mitarbeitenden mehrfach über die Jahre, wie ein Mitarbeiter bestätigt.
Ist das Screening abgeschlossen, erhalten die Schutzsuchenden einen roten Ausweis. Er zeigt an, dass sie nun auf die persönliche Anhörung warten – den entscheidenden Termin innerhalb ihres Asylverfahrens. Sie dürfen sich nun frei im Lager bewegen und dieses tagsüber verlassen.
An diesem Tag sitzen Männer und Frauen mit den roten Ausweisen um den Hals in der Sommerhitze. Sie drängen sich in den schmalen Streifen Schatten, den die Container werfen.
Architektur der Gewalt
Dass es in einem für 2.500 Menschen errichteten Camp nicht einmal Sonnensegel gibt, schockiert Anna-Nicole Heinrich, wie die Präses der EKD später erzählen wird. „Wenn die EU für rund 34 Millionen Euro ein Lager errichtet, dann braucht es ein Monitoring. Werden Missstände festgestellt, müssen sie behoben werden“, fordert Heinrich.
Warum es keinen Schutz vor der Sonne gibt, beantwortet hier niemand. Die ehrliche Antwort müsste wohl lauten: Nichts an diesem Ort ist Zufall, der fehlende Schatten ist Teil einer Architektur der Gewalt. Auch sonst mangelt es im Lager an vielem, wie lokale Organisationen berichten und das UNHCR bestätigt: Die Nahrungsmittel decken den Bedarf nicht.
Für die medizinische Versorgung fehlen Ärzte. Anwältinnen wird der Zugang für die Rechtsberatung erschwert. Den Betroffenen ist oft nicht klar, wie die Prozesse ablaufen, weil Übersetzer fehlen. Es gibt Berichte über kaputte Klimaanlagen in den Wohncontainern, defekte Klospülungen, Kakerlaken.
Wie genau es in den Wohncontainern aussieht, wissen nur wenige. Die Delegation darf sie nicht betreten. Selbst die Anwältinnen der Asylsuchenden haben noch nie einen von innen gesehen. Auch Fotos gibt es keine, weil die Bewohner ihre Handys nur behalten dürfen, wenn sie die Kamera zerstören.
Kein Ort zum Verbleiben
Die Lager sind als erste Anlaufstellen für die Verfahren konzipiert, keine Orte, an denen die Schutzsuchenden lange bleiben sollen. Die Menschen dürfen hier nicht kochen, es gibt keine Gemeinschaftsräume. Spiele, Sport, Sprachen lernen, das ist hier nicht vorgesehen. Familien sollen gemeinsam untergebracht werden, alleinreisende Männer und Frauen getrennt.
Ob das klappt, hängt von der Belegung ab, erzählt ein Mitarbeiter. Einmal, als eine Bewohnerin schwer krank war, hätten ihr die Männer in ihrem Wohncontainer diesen überlassen, bis es ihr besser ging, erzählt er, als wäre das ein besonders positives Beispiel.
Zum Zeitpunkt des Besuches im Sommer 2024 befinden sich rund 1.200 Menschen hinter dem Stacheldraht, wie das UNHCR festhält. Das Lager kann fast doppelt so viele Menschen aufnehmen. Mehr als die Hälfte sind momentan Syrer, rund ein Viertel Kinder.
Das Schicksal der jüngeren Geflüchteten berührt Gabriele Hoerschelmann. Die Direktorin des bayerischen Partnerschafts- und Entwicklungszentrums „Mission EineWelt“ ist ebenfalls nach Kos gereist. Das Lager, das in der Gluthitze der Insel liegt, empfindet sie als ein „in Beton gegossenes Monument der Abschreckung“.
Ein Jahr im Lager
Derzeit laufen die Prozesse im Lager zügig ab, wie das UNHCR bescheinigt. Aber die lokalen Organisationen berichten, dass es nicht immer so klappt, dass Asylsuchende dort teilweise mehrere Monate bleiben. In regelmäßigen Abständen kommt das System an seine Grenzen. Etwa im vergangenen Winter, als hier rund 4.000 Menschen ausharrten, wie ein Mitarbeiter des Lagers zugibt.
Rund eine Stunde zuvor, als die Delegation der EKD noch vor dem Lager wartet und trotz Anmeldung mit den Wachleuten über den Einlass feilschen muss, verlassen drei Männer und ein Junge das Lager. „Good bye“, rufen sie. Die vier kommen aus Syrien, erreichten gemeinsam mit dem Boot die Insel Kos. So lernten der Vater und sein heute neunjähriger Sohn die beiden anderen Männer kennen.
Die Männer sprechen kein Englisch, der Neunjährige übersetzt: Sie hätten ein Jahr in dem Lager verbracht und ein weiteres Jahr in der Nähe des Lagers auf ihre Papiere gewartet. Jeweils ein Jahr? Der Vater des Jungen nickt und zeigt eine Eins mit dem Finger und dann auf das Lager, wieder eine Eins mit dem Finger und in Richtung der Hügel vor dem Lager, wo sie übernachtet hätten. Jetzt können sie die Insel endlich verlassen. Sie wollen nach Athen.
In einem Teil des Lagers hat es ohnehin niemand eilig. Im „Detention Centre“, der Abschiebehaft, sind jene untergebracht, deren Asylantrag abgelehnt wurde oder deren Antrag gar nicht zulässig ist. So ergeht es vielen Menschen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan oder Somalia. Der Grund: der EU-Türkei-Deal. Die Menschen seien über die Türkei und damit einen „sicheren Drittstaat“ eingereist und müssten dorthin zurück, besagt dieser.
Kein Weg zurück
Auf dem Papier warten die Menschen hier auf ihre Rückführung in die Türkei. Doch praktisch hat es seit März 2020 keine mehr gegeben, weil Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Deal aufgekündigt hat.
Fünf Monate verbringen die abgelehnten Asylbewerber hier in Haft. „Sie sind ja schließlich illegal“, betont ein Mitarbeiter des „Detention Centres“. Doch alle Beteiligten wissen, dass die Abschiebungen nicht erfolgen können. Die Juristen von „Equal Rights Beyond Borders“ sprechen von einem „kafkaesken System“.
Jeder Knast hat ein Fitnessstudio, auch zum Abbau von Aggression. Hier gibt es nichts außer hellgrauen Wohncontainern. „Würde man ein Schwarzweißfoto machen, würde dieser Ort an Nazideutschland erinnern“, sagt ein Mitglied der EKD-Delegation. Wer das nicht aushält, kann die „freiwillige Ausreise“ antreten.
Nach den fünf Monaten werden die Menschen aus der Einrichtung entlassen. Dann haben sie 25 Tage Zeit, um die EU zu verlassen. In der Regel tauchen sie nun unter. Werden sie gefasst, werden sie erneut zurück nach Griechenland gebracht, das als Land der ersten Einreise zuständig ist. Manche Menschen sind über Jahre in diesem juristischen Limbo gefangen, die Haftbeamten sehen sie immer wieder.
Griechenland ist für die Mehrheit der Migranten und Flüchtlinge nur ein Transitland, die Lager an der Außengrenze eine Station von vielen auf ihrer oft Jahre dauernden Reise. Die Lager können Migranten nicht aufhalten. Aber sie können Menschen verändern. Man fragt sich an diesem Ort unweigerlich, wann sich der Traum von Europa hier in einen Albtraum verwandeln wird und die Hoffnung der Menschen in Wut.
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