Migrationsgeschichte und Wahlkampf: Unterschätzt und vernachlässigt
Nah am Menschen sind die Parteien im Wahlkampf, wenn es um Ängste vor Migration geht. Um Menschen mit Migrationsgeschichte kümmern sie sich kaum.
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B erlin-Kreuzberg an einem Dienstagnachmittag Ende Januar: „Die anderen sind doch auch nicht besser, die machen doch auch nichts“, antwortet ein türkeistämmiger Familienvater Mitte dreißig auf die Frage von Ayşe Demir, ob er am 23. Februar wählen gehe. Er steht vor einem Bäcker, trinkt einen Kaffee, und auf den Hinweis, dass es bei dieser Wahl doch darum gehe, den Rechtsextremen etwas entgegenzusetzen, antwortet er: „Ja, ich verstehe Sie. Aber ich verstehe auch die AfD in manchen Punkten.“ Demir diskutiert kurz, geht dann weiter.
Die Vorstandssprecherin des Türkischen Bunds in Berlin-Brandenburg zieht in diesen Tagen immer wieder mit Kollegen los, um Türkeistämmige zum Wählen zu ermutigen. Immer wieder spricht die Gruppe an diesem Nachmittag mit Menschen, die versichern, dass sie eine demokratische Partei wählen werden. Aber der Familienvater vor dem Bäcker ist auch nicht der Einzige, der irgendwo zwischen „Kein Interesse“ und „Warum nicht die AfD?“ steht.
Ein paar Wochen später, an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Saal der Alevitischen Gemeinde zu Berlin: Sechs Bundestagskandidat:innen sind zu einer Podiumsdiskussion geladen, viele sind gekommen, um ihnen zuzuhören, aber etwa die Hälfte der Plätze ist auch noch frei. Es geht um soziale Gerechtigkeit und Klimawandel, um Krieg und Waffenlieferungen und um das dominierende Wahlkampfthema Migration.
Ferat Koçak von den Linken bekommt viel Applaus, als er über steigende Lebenshaltungskosten spricht und fordert, Reiche höher zu besteuern. Der SPD-Politiker Hakan Demir bekommt auch viel Applaus, als er verspricht, das liberalisierte Staatsangehörigkeitsrecht gegen die Vorstöße der CDU zu verteidigen. Am meisten Beifall bekommt aber Sevim Dağdelen vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), als sie sich gegen Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine ausspricht und fordert, dass Deutschland wieder Gas von Russland kaufen solle.
Das BSW probiert es mit dem Nahostkonflikt
Am 23. Februar können auch knapp sieben Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte bei der Bundestagswahl ihre Stimmen abgeben. Das sind 12 Prozent aller Wahlberechtigten. Von den etwa drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland sind knapp eine Million wahlberechtigt. Diese wählten traditionell zwar sozialdemokratisch, da die meisten Türkeistämmigen oder ihre Vorfahren einst als Arbeiter:innen nach Deutschland gekommen waren. Mit den Lebensrealitäten differenzierten sich aber auch die Präferenzen weiter aus.
Seit die ersten türkischen Gastarbeiter:innen in den 1960ern angekommen sind, hat sich aber auch die politische Landschaft in Deutschland fundamental verändert. Die rechtsextreme AfD steht in aktuellen Umfragen bei 20 Prozent, das populistische BSW könnte die Fünfprozenthürde überwinden. Diese Veränderungen gehen auch an Menschen mit Migrationsgeschichte nicht vorbei.
Eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zeigt, dass sich knapp ein Fünftel der Menschen mit Wurzeln in der Türkei, in Nahost oder Nordafrika vorstellen kann, die AfD zu wählen. Zudem hat das BSW unter Menschen mit Migrationsgeschichte ein höheres Wählerpotenzial als bei Menschen ohne. Auch Menschen mit Migrationsgeschichte sind also zugänglich für rassistische Ressentiments der AfD. Das BSW – das fällt etwa bei Wahlkampfveranstaltungen in den Communitys auf – versucht zusätzlich mit dem Thema Nahostkonflikt, mit antiisraelischen und antiwestlichen Erzählungen zu punkten.
Was diese Studie auch zeigt: Menschen mit Migrationshintergrund betrachten ihre materielle Situation, ihre Altersversorgung und Kriminalität „deutlich sorgenvoller“ als Menschen ohne Migrationshintergrund. Menschen mit Migrationshintergrund geben zudem häufiger an, keine Partei als kompetent wahrzunehmen. Sie glauben seltener, dass Parteien die wichtigsten Probleme lösen können.
Woran liegt das?
„Parteien der demokratischen Mitte haben es absolut versäumt, eine professionelle Ansprache für migrantische Communitys zu entwickeln“, sagt Özgür Özvatan, Migrationsforscher und Politikberater. In letzter Zeit hat Özvatan sich vor allem mit der digitalen Kommunikation der Parteien beschäftigt. Dabei hätten Wahlberechtigte mit Migrationsgeschichte schon bei der letzten Bundestagswahl 2021 das Potenzial gehabt, einen wichtigen Unterschied zu machen.
Teil der eigenen Biographie als Wahlkampfschlager
Über die Attraktivität des BSW und der AfD für Menschen mit Migrationsgeschichte sagt er: „Der Vertrauensverlust gegenüber den demokratischen Parteien ist groß. Viele haben das Gefühl: Es macht keinen Unterschied, wen ich wähle.“ Die Wahlbeteiligung unter Menschen mit Migrationsgeschichte ist deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung.
Tatsächlich fällt auf: Die Parteien wenden sich im Wahlkampf kaum explizit an Menschen mit Migrationsgeschichte, weder inhaltlich, noch in deren Herkunftssprachen. In den USA werben Republikaner und Demokraten ganz selbstverständlich auf Spanisch. Auch was Repräsentation angeht, scheinen sich diese Parteien nicht wirklich zu kümmern. Divers sind sie höchstens ansatzweise und in den hinteren Reihen.
Im BSW hingegen, sagt Migrationsforscher Özvatan, seien Politiker:innen mit Migrationsgeschichte überrepräsentiert. In demokratischen Parteien besetzten sie oft keine mächtigen Positionen und sähen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, Klientelpolitik für ihre Herkunftsmilieus zu betreiben.
Dass jetzt auch noch Migration das dominierende Wahlkampfthema ist, das stößt vielleicht auch unter manchen Menschen mit Migrationsgeschichte auf Zustimmung. Viel mehr von ihnen dürfte es weiter von den demokratischen Parteien entfremden, dass ein wichtiger Teil ihrer Biografie vor allem als Problem diskutiert wird. Und das noch lange über den aktuellen Bundestagswahlkampf hinaus.
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