piwik no script img

Was von der Nacht übrig bleibt: Boote von Mi­gran­t*in­nen werden regelmäßig von der Polizei aufgeschlitzt. Am Strand von Wimereux Foto: Johan Ben Azzouz/imago

Migration auf dem ÄrmelkanalEffizienz mit Todesfolge

Nie war es für Boots­­­­­migran­t*in­nen lebensgefährlicher als 2024, den Ärmelkanal zu überqueren. Ein Grund ist die massive Hochrüstung der Küsten.

E s ist eine eigenartige Prozession, die sich da gegen Mitternacht im Schritttempo den Dünenkamm entlang bewegt. Etwa 50 Personen, viele von ihnen tragen orange Schwimmwesten um den Hals oder in den Händen, die sich im Kegel der Taschenlampen deutlich gegen den Himmel abheben, umringt von den dunkelblauen Uniformen der Bereitschaftspolizei CRS. Als sie den steilen Pfad hinunter zur Straße erreichen, beginnen sie den Abstieg, Schritt für Schritt. Über den Dünen außerhalb des Dorfs Blériot-Plage kreisen surrend zwei Drohnen.

Unten, an der Straße, die von Calais nach Sangatte und weiter die Küste entlang führt, hält die Prozession an. Unschlüssig und etwas ratlos stehen die Menschen, die nun eigentlich auf einem Schlauchboot in Richtung England unterwegs sein sollten, auf dem schmalen Grünstreifen. Das Blaulicht von sechs Mannschaftswagen, am Straßenrand geparkt, gibt der Szenerie einen gespenstischen Anstrich.

Es könnte noch mehr Leichen geben. Oft hören wir nach einem Schiffbruch, dass noch jemand fehlt

Thomas Chambon von Utopia 56

Dass die Polizei diese Versuche vereitelt, wann immer es geht, wissen sie. Warum aber lässt sie die Gruppe nicht einfach gehen? Langsam setzt sich der Tross wieder in Bewegung, noch immer eingekreist von den CRS und Polizisten in schwarzen Westen.

Nach ein paar Hundert Metern entpuppt sich das Schauspiel an einem Kreisverkehr als reine Machtdemonstration. Die Be­am­t:in­nen ziehen sich unvermittelt zurück, und die Gruppe, endlich frei zu gehen, biegt in einen Feldweg ein.

Recherchefonds Ausland e.V.

Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.

➡ Erfahren Sie hier mehr dazu

Zurück in den Dschungel

Eine junge Frau in heller Winterjacke, die wie viele hier aus Syrien stammt, berichtet, die Polizei habe sie am Strand überrascht, mit Tränengas zurückgedrängt und das Boot aufgeschlitzt. Sie reibt sich die Augen, die noch immer brennen. „Wir gehen zurück in den Dschungel“, sagt sie noch – das Camp, von dem aus sie vor Stunden aufbrachen, um in dieser Nacht den Ärmelkanal zu überqueren. Dann verschwindet sie mit den anderen in der Dunkelheit.

Die Nacht auf den 1. Dezember ist die erste nach einer längeren Schlechtwetterperiode, in der von den Stränden Nordfrankreichs aus wieder Geflüchtete in Booten Richtung England abzulegen versuchen. Insgesamt 151 Personen, melden die französischen Behörden am nächsten Tag, konnten aus Seenot gerettet werden – ein Boot hatte 84 Passagiere an Bord, das zweite 67. Laut dem britischen Home Office wurden zwei weitere Boote mit insgesamt 122 Personen von der Küstenwache in den Hafen von Dover gebracht – wie es immer geschieht, wenn Mi­gran­t*in­nen­boo­te in britischen Gewässern angetroffen werden.

Abgeführt: Gescheiterter Versuch von Geflüchteten, den Ärmelkanal im November 2024 zu überqueren Foto: Tobias MüllerTobias Müller

Seit sechs Jahren gehören die Boots­passagen zum Alltag an diesem Teil der Küste . Neu ist freilich, dass 2024 so viele Menschen wie nie zuvor den Versuch mit dem Leben bezahlt haben. 72 sind es bislang – mehr als die Gesamtzahl der Opfer in den letzten fünf Jahren, und anteilig auch auffallend viele der insgesamt 474 Menschen, die seit 1999 an der anglo-­französischen Grenze starben. Vor allem seit dem Sommer ereigneten sich die Havarien fast wöchentlich, phasenweise kam es sogar täglich zu neuen Todes­opfern.

Doch selbst unter solchen Vorzeichen ist es besonders beklemmend, was die Region in diesem Spätherbst erlebt: Nach einem Unglück auf See Ende Oktober mit mehreren Vermissten wurden an verschiedenen Orten insgesamt 14 Leichen angespült, viele in stark verwestem Zustand, bei manchen ließ sich nicht einmal mehr erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Laut der Regionalzeitung La Voix du Nord trieben sie eine Woche oder länger im Meer. Die Fundstellen zogen sich von Quend südlich von Boulogne-sur-Mer knapp 100 Kilometer die Küste entlang bis Marck östlich von Calais.

Miserable Qualität der Schlauchboote

„Es könnte durchaus noch mehr Leichen geben“, befürchtet Thomas Chambon, der bei der NGO Utopia 56 als Koordinator tätig ist. „Oft hören wir nach einem Schiffbruch von Menschen, die zurück an Land kommen, dass noch jemand fehlt.“ Utopia 56 ist seit Jahren am Ärmelkanal aktiv.

Die Freiwilligen der Organisation, die durch Spenden finanziert wird, verteilen im Gebiet von Dunkerque und Calais Essen und Decken an Be­woh­ne­r*in­nen inoffizieller Geflüchteten-Camps. Sie informiert mit Faltblättern und online über die Risiken der Kanalüberquerung, betreibt ein Alarmtelefon und fährt, wenn das Wetter entsprechend ist, nachts und frühmorgens mit kleinen Teams die Küste ab, um bei Notfällen zur Stelle zu sein.

Wie ist es zu erklären, dass die Grenze in diesem Jahr derart tödlich geworden ist? Die miserable Qualität der Schlauchboote, von denen ein anonymes Mitglied einer Freiwilligen-Rettungsgesellschaft an der Küste einst sagte, er würde damit „kein Kind auf einen See fahren lassen“, ist zwar hinlänglich bekannt, aber genau darum auch keine ausreichende Erklärung.

Im Hauptquartier von Utopia 56 im Hinterland von Dunkerque skizziert Chambon die Grundzüge einer Situation, die sich in den letzten Jahren immer weiter verschärft hat. „Zunächst einmal ist das Leben unter diesen Umständen in den Camps unglaublich hart. Schon allein daher nutzen die Menschen jedes noch so kleine Zeitfenster, in dem das Wetter eine Überfahrt zulässt.“

Je mehr Repression, desto mehr Tote

Hinzu kommt die immer lückenlosere Überwachung der Küste, nicht nur um die großen Fährhäfen Calais und Dunkerque, sondern von der belgischen Grenze bis Boulogne-sur-Mer. „Je mehr Geld in Repression und Militarisierung der Grenze gesteckt wird, desto mehr Tote gibt es hier“, so Chambon.

Zustimmung bekommt er dabei von Bruno Retailleau, dem französischen Innenminister. Dieser veröffentlichte im Oktober nach einem Treffen mit seiner britischen Amtskollegin Yvette Cooper auf X den folgenden Kommentar: „Frau Cooper lobte den heldenhaften Einsatz der Ordnungskräfte, um Überfahrten in das Vereinigte Königreich zu verhindern. Wir teilten auch die Beobachtung, dass diese Effizienz schädliche Folgen mit einem Anstieg der Todesfälle hatte.“ Folgen für das Auftreten an der Küste hat diese Erkenntnis bislang nicht.

Chambon illustriert den Satz des Innenministers mit Beobachtungen aus dem Alltag der NGO. Immer häufiger wende die Polizei Gewalt an, um Schlauchboote am Ablegen zu hindern. Auch Tränengas komme an den Stränden regelmäßig zum Einsatz. „Zudem hören wir immer wieder, dass sie die Boote auch dann aufschlitzen, wenn sie bereits im Wasser sind. Das ist eigentlich verboten.“ Die Schilderung deckt sich mit jener einer anderen NGO, Osmose 62, die im Raum Boulogne-sur-Mer aktiv ist und sich ebenfalls auf entsprechende Aussagen „zahlreicher“ Mi­gran­t*in­nen beruft.

„Die Konsequenz ist, dass das Ablegen aus Angst vor der Polizei in großer Eile geschieht“, berichtet Chambon. „Manche Schlauchboote, die ohnehin übervoll sind, fahren, um Zeit zu sparen, sogar ohne Bodenplatte ab und sind dadurch noch instabiler. Die Boote wiederum, die aufs Meer gelangen, sind umso voller, je mehr andere von der Polizei abgefangen und zerstört werden. Durchschnittlich sind nun etwa 60 Menschen an Bord, gegenüber 40 im letzten Jahr und 30 im Jahr 2022. In den letzten Monaten waren es mehrfach um die 80.

Tränengaskartuschen am Strand

Die zunehmend chaotischen Umstände der Abfahrten bewirken, dass gerade ab dem Sommer mehrere Passagiere nicht ertranken, sondern erstickten oder erdrückt wurden. „Außerdem geschahen zuletzt immer mehr Havarien innerhalb von dreihundert Metern vom Strand“, so Chambon. Bis Oktober waren solche für die Hälfte der Todesopfer verantwortlich. Ein weiteres Detail macht solche Situationen zusätzlich gefährlich: „Die Rettungsboote sind für solche Notfälle nicht ausgerüstet, weil sie zu viel Tiefgang haben.“

Bei der gescheiterten Überfahrt von Blériot-Plage lassen sich einige dieser Elemente begutachten: Der Einsatz zweier Drohnen über den Dünen zeugt von der zunehmenden Überwachung der Küste mit ihren vielen einsamen, teils schwer zugänglichen Stränden. Das Schlauchboot, etwa neun mal zwei Meter lang, das sich am nächsten Morgen am Dünenrand findet, weist einen Messerschnitt auf.

Wir teilten die Beobachtung, dass die Effizienz schädliche Folgen mit einem Anstieg der Todesfälle hatte

Bruno Retailleau, Frankreichs Innenminister

Im Sand davor enden mehrere Spuren der strandtauglichen Fahrzeuge, welche die Polizei bei diesen Operationen einsetzt. Zwischen zurückgelassenen Kleidungsstücken und Essensverpackungen finden sich zwei Schubkarren-Schläuche, offenbar als Ersatz für eine Schwimmweste gedacht. Im Sand liegen mehrere abgefeuerte Tränengaskartuschen.

Die Dünen geben bei Tageslicht aber noch weitere Informationen preis: An einer Stelle liegen kleine, säuberlich zerrissene Papierschnitzel, die sich teils wieder zusammenfügen lassen. Das Puzzle enthält Informationen über SIM-Karten in Frankreich auf Somali, ein ausgedrucktes französisches Dokument für einen jungen Sudanesen, ausgestellt im August von der Präfektur Maine-et-Loire.

Tickets aus einem anderen Leben

Es könnte, muss aber nicht, zur Kopie eines Asylantrags in Frankreich gehören, von der sich ebenfalls Reste finden. Das Gleiche gilt für ein ausgedrucktes Bahn­ticket von der Pariser Gare du Nord nach Calais Ville und ein DB-Ticket zum Sparpreis Europa von München bis Paris Est, zweiter Klasse, Fensterplatz, jeweils für Ende November gültig.

Ab und an kommt ein Hund von Spa­zier­gän­ge­r*in­nen vorbei, die sich am Strand die Beine vertreten, und schnüffelt am Boot und den umliegenden Kleidungsstücken. Eine Frau, die sich als Mitglied der Hilfsorganisation Secours Catholiques vorstellt, sammelt die im Umkreis zurückgelassenen Rettungswesten ein, die sich noch benutzen lassen.

Energie tanken: Migranten laden ihre Handys in der Nähe eines Lagers bei Dünkirchen Foto: Richard Pohle/imago

Dann bleibt ein Jogger bei dem zusammengesunkenen schwarzen Schlauchboot stehen. „Seit 20 Jahren geht das hier an der Küste so“ erklärt er und weist in Richtung England. „Früher war die Grenze dort drüben. Doch seit die Kontrollen 2003 aufs Festland verlegt wurden, haben wir hier diese Zustände.“

Der Jogger heißt Benoît Landesmann, ist 45 und wohnt im benachbarten Sangatte. Ein historischer Ort gewissermaßen, denn genau dort gab es um die Jahrtausendwende eine Zeitlang ein stets überfülltes Auffanglager des Roten Kreuzes, das Calais und seine Umgebung erst auf die Landkarte der europäischen Flüchtlingskrise brachte. „Sarkozy, der damals Innenminister war, schloss das Lager. Danach entstand dort hinten“ – er weist nun den Strand entlang nach Osten, Richtung Calais – „der Dschungel. Meine Frau und ich gaben dort Sprachunterricht.“

Rivalisierende Schleuserbanden

Anwohner Landesmann erzählt die Geschichte des Ärmelkanals als Migrations-Hotspot im Schnelldurchgang. Der Dschungel wurde 2009 geräumt, entstand Jahre später erneut, wuchs sich zu einer Kleinstadt aus, welche die Behörden 2016 erneut dem Erdboden gleichmachen ließen. Jedes Mal wiederholte sich die Ankündigung, nun sei es endgültig vorbei mit der klandestinen Kanalüberquerung.

„Die Geschichte ist immer dieselbe“, sagt Landesmann, bevor er sich in Richtung Sangatte empfiehlt. Vom einstigen Lagerleiter Michael Derr ist im Übrigen ein Zitat überliefert: Solange England auf der anderen Seite des Kanals liege, würden Mi­gran­t*in­nen weiterhin probieren, dorthin zu gelangen.

Frankreichs Innenminister Bruno Retailleau (2.v.re) besucht einen Kontrollpunkt für Migranten bei Calais, Ende November 2024 Foto: Lafargue Raphael/Abaca/imago

Die Nachfrage, bei gleichzeitigem Mangel an legalen Routen, hat schließlich auch einen millionenschweren Schwarzmarkt entstehen lassen, dessen Lieferketten sich über Deutschland und Osteuropa bis nach China ziehen. Auch das Boot am Strand von Blériot ist dort hergestellt, wie ein Aufdruck auf einer der Luftkammern zeigt.

Er besagt auch, dass nicht mehr als 25 Personen darauf Platz nehmen dürfen, bei einem Gesamtgewicht von 2.125 Kilo. Darüber findet sich die Adresse eines „Bootsservice NRW“ in der Stadt Werne. Wenige Tage später veranlasst Europol an mehreren Orten in Deutschland Razzien gegen ein kurdisch-irakisches Schleuser-Netzwerk. Der Schwerpunkt liegt im Ruhrgebiet.

Wie Schleuser am Kanal vorgehen, ist seit langem bekannt. Gerade im Dschungel nahe dem Hafen von Dunkerque werden Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen seit Jahren auch mit Schusswaffen ausgetragen. Mehrfach wurden dabei Geflüchtete verletzt oder getötet – etwa im Februar dieses Jahres.

Mann über Bord

Wenige Monate zuvor hatte ein anonymer Bewohner der taz berichtet, er höre nachts bisweilen Schießereien im Camp. Anfang Dezember trifft die taz an einem geheimen Ort an der Küste auf einen Mann, der in der Nacht zuvor auf einem überladenen Schlauchboot in Richtung England unterwegs war. Weil das Boot zu sinken drohte, warfen Mitglieder des Netzwerks den Mann wie auch mehrere andere Passagiere mitten auf dem Kanal über Bord. Er wurde gerettet und an Land gebracht.

Während des Gesprächs wirkt er schwer traumatisiert. Nur mit großer Anstrengung kann er über seine Erlebnisse berichten. Mehrere NGOs bestätigen, dass dies nicht der erste vergleichbare Fall ist. Offenbar aber geschehe dies sonst eher in Ufernähe – etwa wenn Personen, die sich die Überfahrt nicht leisten könnten, aus Verstecken am Strand kommen und in der Hektik einer Abfahrt versuchen, an Bord zu springen. Der Mann sagt kurz vor dem Abschied, er sei weiterhin entschlossen, England zu erreichen.

Weil die Umstände zwischen Dunkerque und Boulogne nun also zunehmend erschwert sind, hat sich das Geschehen im letzten Jahr deutlich nach Süden verlagert. „Von Calais aus ist es fast unmöglich geworden, abzulegen. Also kommen die Mi­gran­t*in­nen hierher, um einen Versuch zu starten. Die Überfahrt dauert dann zwar viel länger als von Calais, aber dieses Risiko gehen sie ein. Bei gutem Wetter gab es in letzter Zeit fast täglich Abfahrten“, berichtet Samir Khechib, der sich als Freiwilliger der NGO Osmose 62 im Raum Boulogne-sur-Mer seit einem Jahr um Geflüchtete kümmert. Dabei hat er erlebt, wie Orte wie Équihen-Plage und Hardelot-Plage immer mehr in den Fokus rücken.

Hardelot-Plage ist ein idyllisches Dorf mit freistehenden Häusern auf großzügigen Grundstücken, eingebettet in Hügel und Küstenwald. An der verwaisten Strandpromenade steht kurz vor Einbruch der Dämmerung ein Gendarmerie-Auto geparkt. Zwei uniformierte Gestalten sind durch den Dezemberregen hinter den Scheiben zu erkennen, die trotz des schlechten Wetters hier die Lage im Auge behalten. „Sie stehen hier immer und suchen mit ihren Scheinwerfern das Meer ab“, erklärt Khechib.

Fortgeschrittene Verwesung

Was die Gegend um Hardelot prädestiniere, seien die hohen Dünen, in denen Boots­mi­gran­t*in­nen sich verstecken könnten, bis die Wetterlage günstig sei. „Permanente Niederlassungen gibt es hier nicht, aber manchmal bleiben große Gruppen dort mehrere Tage.“ Khechib weist auf die hohen Dünen hinter der Promenade. „Letzten Monat erst trafen wir dort auf Migrant*innen, deren Versuch fehlgeschlagen war. Einige erzählten mir, dass in einem Wäldchen schon mal um die 1.000 Menschen kampierten.“

Bei so viel Aktivität auf einer Kanal-Route liegt es auf der Hand, dass es auch dort inzwischen zu Opfern kam – zuletzt am 30. Oktober. „Heute Morgen spielten sich surreale und dramatische Szenen ab, da es an der gesamten Küste zu zahlreichen Abfahrten kam. Sobald es ein günstiges Wetterfenster gibt, stürzen sich Hunderte von Geflüchteten ins Wasser und sind bereit, jedes Risiko einzugehen“, schrieb Osmose 62 später auf ihrer Facebook-Seite. Ein 28-jähriger Mann aus dem Irak starb an Herz-Kreislauf-Versagen. Später am Tag wurden in der Umgebung drei Leichen angespült.

Die Aufnahmen, die Samir Khechib auf seinem Telefon zeigt, vermitteln eine Idee von dem, was dort an jenem Tag geschah. Während sich zwei übervolle Boote vom Strand entfernen, stehen etwa 40 Personen, die nicht mehr an Bord gelangen konnten, im Meer, das ihnen vom Bauch bis zu den Schultern reicht. Nicht einmal die Hälfte von ihnen trägt Schwimmwesten. „Sie waren vom Wasser eingeschlossen“, erinnert sich Khechib. Die nächste Aufnahme zeigt einen niedrig fliegenden Hubschrauber, der zu ihrer Rettung eingesetzt wurde.

Wegen des weiterhin schlechten Wetters an der Kanalküste gab es seit Mitte November nur an wenigen Tagen Überfahrten. In nächster Zeit dürften es daher umso mehr werden. Unterdessen wird am 8. Dezember im Dorf Escalle, westlich von Sangatte, die oder der 73. Tote dieses Jahres gefunden. Die Leiche treibe seit Wochen im Wasser und befinde daher sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung, so die Regionalzeitung La Voix du Nord. Eine Identifizierung sei daher nicht möglich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

32 Kommentare

 / 
  • So lange einem 5000 Euro und eine windige Überfahrt über hohe See einen sicheren Aufenthalt für immer in Europa garantieren, werden Leute sterben.

    Ist schon richtig, wir sind schuld. Aber nur, weil wir keine Grenzen setzen.

  • Ein Grund ist eher, dass sie sich in Nussschalen und überladenen Gummibooten auf hohe See begeben. Sie selbst. Sorry, soviel Kritik muss erlaubt sein.

  • Bin erst im August von Calais nach Dover geschwommen. Birgt ein Risiko. Fähigkeiten für eine Überquerung bringe ich aber mit.

    Segelnd oder rudernd ist die Strecke bei angemessener Witterung kein Problem. Verantwortungslos dagegen, Hasadeuren Kommando über mangelhafte Schiffe zu erteilen. Kann nicht gut enden.

  • Vor potenziell tödlichen Drogen wird gewarnt,

    vor offenem Feuer an Tankstellen auch, selbst wer sich erfrischen will soll „Batteriesäure nicht trinken!“ .



    Niemand warnt die Mexikaner & Co. vor den bewaffneten und drogenverseuchten USA, niemand vor dem Tod im Ärmelkanal… lieber lässt man diese selbstmörderischen ins offene Messer laufen statt diesen Artikel und viele andere auch mehrsprachig abzuwerfen, um Menschenleben zu retten.



    Wer stockbesoffen ins Auto steigt, dem nehme ich den Schlüssel weg, wer mit dem Strick um den Hals am Fenster steht… das Kind am Abgrund… all jene sollten von tödlichem Vorhaben abgehalten werden, anstatt zuzuschauen und sie nachher lauthals zu beklagen…

    • @Allesheuchler:

      "Niemand warnt die Mexikaner & Co. vor den bewaffneten und drogenverseuchten USA, niemand vor dem Tod im Ärmelkanal"



      Es gibt da noch sowas wie frei zugängliche Informationen und gesunden Menschenverstand. Man sollte meinen, dass das hier auch irgendwie greifen könnte.



      Die harte Abschottung ist zweifellos grundsätzlich fragwürdig. Aber wer derartige Risiken eingeht, sollte eigentlich auch über die Konsequenzen im Klaren sein.

  • Leider gibt es hier keine Informationen über die Motivation dafür, diese gefährliche Überfahrt uf sich zu nehmen. Offenbar ist oder erscheint vielen Menschen dass Leben im Vereinigten Königreich so viel attraktiver, als das Leben in Frankreich, dass sie dafür ihr Leben riskieren. Aber warum? Ist Frankreich so schlimm für Menschen, die Unterdrückung und Krieg erlebt haben? Ist die Lage im Post-Brexit-Britannien so viel besser? Das ist mir wirklich nicht klar.

    • @Ruediger:

      Was ich aus Reportagen raushöre: Es sind oft einfach Arbeitslosigkeit oder die Familie schickt einen regelrecht nach Europa, um Geld zu generieren. Ein Investment.

    • @Ruediger:

      >Leben in Frankreich<



      Nicht wie Gott in Frankreich sondern ohne Aufenthaltsrecht im Dschungel von Calais.

      Dass die da raus wollen kann man schon verstehen.

      • @testen:

        Ich mag mich irren, aber ein Aufenthaltsrecht bekommen die in UK auch nicht. Vermutlich liegt es an der Sprache. Und womöglich wohnen schon Verwandte dort.

        • @Peter Rabe:

          Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall!“

          Es ist die Hoffnung auf ein besseres Leben. Vielleicht gibt es in England nicht so viele Illegale, so dass es sich für diese besser leben lässt.

          • @testen:

            Familie/Community vor Ort, Sprache und bessere Chancen auf Schwarzarbeit scheinen nach meinen Recherchen die wesentlichen Gründe zu sein.

          • @testen:

            In England gibt es kein Meldesystem und sehr viel Schwarzarbeit, die stets offen für leicht ausbeutbare Migranten ist... Dazu kommen familiäre Beziehungen in die ehemalige Zentrale des Imperiums.

      • @testen:

        Die Leute haben bereits viel Geld bezahlt, um dort erstmal reinzukommen.

  • Warum genau nochmal muss jemand aus Frankreich fliehen? Illegale Einreise ist kein Menschenrecht.

    • @Sandra Becker:

      Ach soooo! Das würde alles ändern, wenn die Leute das wüssten. Gut, dass Sie so gut erklären können, wie einfach das ist. (Ironie off: Merken Sie, dass Ihr Kommentar die Personen, die dort versuchen nach England zu kommen, für absolut blöd erklärt? Was halten Sie von der Idee, dass Ihre Gedanken in dieser Einfachheit nicht der Weisheit letzter Schluss sein könnten?)

      • @T 1000:

        Was richtig konstruktives war da jetzt nicht dabei. Eher ...Gepöbel.

      • @T 1000:

        Wenn die Leute was wüssten?



        Wo ist die Für-blöd-Erklärung?

        Illegale Einreise ist kein Menschenrecht.

        Das ist einfach und ein Faktum.

    • @Sandra Becker:

      1. Was genau wollen Sie damit sagen?



      2. Solche Begriffe wie "illegale Einreise" sind leider reine Worthülsen. Zum einen beeindrucken Sie damit niemanden, der sich von irgendeinem Land im subsaharischen Afrika nach Europa durchgeschlagen hat. Das beweisen z.B. die zahlreichen Versuche, den Ärmelkanal in Nussschalen zu überqueren.



      Zum anderen verschleiern sie ein Machtgefälle. Sie und ich, wir können in mehr als 70% der Länder dieser Erde legal einreisen -- sogar in die meisten Herkunftsländer der Menschen, die umgekehrt ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, um bei uns einzureisen. Und warum? Weil wir die Macht haben, zu sagen: "Deine Einreise bei uns ist illegal. Während unsere Einreise bei Dir legal ist." Und dann mit polizeilichen Maßnahmen u.ä. reinzugehen.

      • @Libuzzi:

        Sie irren. Auch weitaus weniger wirtschaftlich starke Länder können Einreisen kontrollieren, dieser Teil ist eher eine Frage des Durchsetzungsvermögens der Behörden.

        Der andere Teil, dass Sie als Bürger oder Bürgerin der BRD in viele Länder einreisen dürfen, ist ein Ausdruck von Vertrauen: generell wird nicht befürchtet, dass Sie ein Agent sein könnten, der losgeschickt wurde, um zu spionieren, einen Kritiker der Bundesregierung zu bedrohen, verprügeln oder gar zu ermorden. Man befürchtet nicht, dass Sie planen die öffentliche Ordnung zu stören oder gar Terroranschläge zu verüben. Sollten Sie im Ausland eine Straftat verüben oder aus sonstigen Gründen zu einer unerwünschten Person werden, wird nicht befürchtet, dass Ihre Regierung ihre Rückführung sabotiert oder sich schlichtweg weigert Sie zurückzunehmen. Letztlich haben Sie diese Freiheit also der Tatsache zu verdanken, dass Sie Bürger eines Landes sind, dessen Regierung und Behörden sich weitgehend an Regeln, Verträge und Gesetze halten.

        Das kann man von einer ganzen Reihe von Ländern leider nicht behaupten.

      • @Libuzzi:

        "Und warum? Weil wir die Macht haben, zu sagen: "Deine Einreise bei uns ist illegal. Während unsere Einreise bei Dir legal ist."

        Albern.



        1. Hat Deutschland diese Macht definitiv nicht. Die Migranten/Transitländer entscheiden wer nach Deutschland einreist und nicht die Deutschen.

        2. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit für - sagen wir mal - Ghana, dass deutsche Einwanderer dort die Hälfte des staatlichen Budgets für Sozialausgaben in Beschlag nehmen?

        Das ganze Argument hinsichtlich der Reisefreiheit lässt außen vor, dass der typische deutsche Auswanderer in der Regel keinen Anspruch und Möglichkeit hat, in dem jeweiligen Land staatliche Mittel zu erhalten. Im Gegenteil, es wird (meist zurecht) erwartet dass sie Geld mitbringen.

      • @Libuzzi:

        Auch wir können in diese Länder nur unter der Bedingung einreisen, dass wir auch bald wieder gehen. Und unseren Unterhalt so lange selbst finanzieren.

      • @Libuzzi:

        Ich würde behaupten, dass unsere Reiseprivilegien schnell weg wären, wenn sich viele unserer Landsleute in anderen Ländern festsetzen würden. Und Deutschland sie nicht mehr zurück nähme.

      • @Libuzzi:

        Was soll an "illegaler Einreise" eine Wortehülse sein?

        Die einen kommen mit Visum und Flugzeug, die anderen zahlen viel Geld an Schlepper, um in überfüllten Schlauchbooten hinzukommen.

        Der Unterschied zwischen legaler und illegaler Einreise ist offensichtlich keine Worthülse.

        Dass manche Menschen in Afrika das nicht interessiert, ist richtig, macht es aber nicht zur Worthülse.

        Sie haben einen Fehler drin.

        Die Leute müssen nicht "bei uns" einreisen.

        Im vorliegenden Fall wollen sie es auch nicht, sondern unbedingt nach GB.

        Das Machtgefälle gibt es so nicht.

        Die afrikanischen Länder könnten ebenfalls die Einreise untersagen, was einige auch tun.

        Auch wir könnten morgen nicht einfach so in den Niger ziehen.

        Die Einreise hier wird bei Leuten aus Ländern großzügiger gehandhabt, die sich an die Spielregeln halten.

        Wenn die ersten paar tausend Deutschen im Senegal illegal einwandern und Sozialunterstützungsgelder wollen, wird schnell Schluss mit der Großzügigkeit bei der Einreise dort sein.

  • Ich mag nicht so ganz verstehen, warum Menschen sich dafür entscheiden würden, unter Einsatz ihres Lebens nach England zu gelangen.

    • @ImInternet:

      Vielleicht ist es genau das, worüber wie nachdenken sollten.

      • @Libuzzi:

        "...worüber wir nachdenken sollten."



        Wir? Wir wer?



        Ich denke nicht, dass mich der Wunsch, aus Frankreich auszureisen um in England einzureisen, als Deutscher so richtig viel angeht. Bevor andere zu bevormunden, sollten wir unsere eigenen Defizite klären.

      • @Libuzzi:

        Und? Haben Sie es getan?

        Wie lautet Ihre Antwort?

        Nützt es überhaupt, wenn ich zu diesem Thema alleine vor mich hin denke, um eine Antwort zu finden?

        Wäre es hier nicht einfacher, wenn jemand mal die Leute fragen würde?

        Wird komischerweise selten gemacht.

  • Der Artikel lässt vollkommen offen, warum irgend jemand eine lebensgefährliche Flucht von Frankreich nach GB unternehmen sollte. Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. Jeder hat das Recht darauf, in Sicherheit zu leben, aber niemand hat das Recht, aus einem Flüchtlingsstatus ein Recht auf freie Wohnortwahl abzuleiten.

    • @Fliwatüt:

      Offenbar denken diese Menschen nicht darüber nach, welche Rechte wir ihnen gewähren wollen.



      Und vielleicht haben sie damit auch recht.



      Wenn Sie z.B. aus Ghana nach Europa migrieren, wird Ihnen spätestens ab der Sahel-Zone nämlich deutlich die Botschaft vermittelt, dass man Sie in Europa nicht haben will, während vor Ihrer Küste Konzerne nach Gas bohren, an denen europäische Firmen beteiligt sind.



      Und die Signale übermittelt man Ihnen nicht mit freundlichen Handy-Videos, sondern mit Maschinenpistolen, Internierungslagern, indem man Sie mitten in der Wüste aussetzt ...



      Würden Sie sich da darum scheren, welche Rechte man Ihnen in Europa gibt?

      • @Libuzzi:

        "Offenbar denken diese Menschen nicht darüber nach, welche Rechte wir ihnen gewähren wollen.



        Wenn Sie z.B. aus Ghana nach Europa migrieren, wird Ihnen spätestens ab der Sahel-Zone nämlich deutlich die Botschaft vermittelt, dass man Sie in Europa nicht haben will... Würden Sie sich da darum scheren, welche Rechte man Ihnen in Europa gibt?"



        Ja, das würde ich. Es wäre ziemlich dumm, das nicht zu tun, und ich bin sicher, die Migranten tun es auch. Für sie ist eben die Hoffnung auf ein gutes Leben in Europa (bzw. hier speziell England) stärker ausgeprägt als die Sorge, in Europa unterprivilegiert zu sein.



        Daraus kann man diverse Schlüsse ableiten, aber ganz sicher nicht, dass 'diese Menschen' nicht nachdenken würden.

  • Was kann man gegen dies tun?



    Nicht die Abfahrt verhindern. Das tun die sowieso. Irgendwie, so wie es in dem Bericht ja auch beschrieben wird. Das ist in Frankreich so, genau wie in Libyen, Marokko etc.



    Was treibt die Menschen an? Die Hoffnung auf ein besseres Leben als in Afrika.



    Dafür sind sie bereit, auch Risiken einzugehen: Eine Todesrate von 3-5% heißt umgekehrt, dass 95% erfolgreich sein werden.

    Was hat die Todesrate auf 0 reduziert? You will not make Australia home.

    Eigentlich ganz einfach: wer ohne Erlaubnis (nach Australien) einreist, wird ohne jede Diskussion zurückgeschickt.

    Wer eine Erlaubnis beantragt und genehmigt bekommt, darf ohne Gefahr für sein Leben einreisen.

    In Australien klappt das, seit Jahren. Mit einem Quotensystem, das regelt, wer aus welchen Gründen einwandern darf. 65 Prozent qualifizierte Fachkräfte, 25 Prozent Familienangehörige und zehn Prozent anerkannte Flüchtlinge.

    Und Europa? Komplette Fehlanzeige.

  • 2024 sind 74 im Ärmelkanal ertrunken bei weltweit 300.000 (WHO) und 253 (DLRG) in Deutschland .