Michel Friedman am Berliner Ensemble: Der Schlüssel zum Wir
Sibel Kekilli feiert ihr Bühnendebüt am Berliner Ensemble. In „Fremd“ philosophiert Michel Friedman über Fragen von Zugehörigkeit, Identität und Schuld.
Der schwarze Vorhang hinter der Bühne bewegt sich, eine Frau steigt hinter ihm hervor, schwarz gekleidet, dezent geschminkt, bis auf den roten Lippenstift, der als einziger Farbtupfer hervorsticht. Applaus, dann setzt Sibel Kekilli sich auf einen Stuhl, vor ihr ein Tisch, ein Manuskript und eine verspiegelte Scheibe, die den Blick auf sie freigibt, sobald ein kleines Licht angeht.
Es ist ein besonderer Abend, merkt man schon beim Betreten vom Neuen Haus des Berliner Ensembles. Nicht nur, weil vor einem Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Kultursenator Berlins Joe Chialo, Friedenspreisträgerin Carolin Emcke und der Pianist Igor Levit die Treppen emporsteigen. Es ist auch das Bühnendebüt Kekillis, die durch Filme wie Fatih Akins „Gegen die Wand“ nationale und durch ihr Mitwirken in der Serie „Game of Thrones“ internationale Bekanntheit erlangte.
An diesem Abend liest die Tochter türkischer EinwanderInnen aus „Fremd“, einem sehr poetischen wie persönlichen Buch des Autors Michel Friedman. Auch er ist anwesend sowie zwei Personenschützer – noch so eine Besonderheit an diesem Abend, denn Friedman ist Kind von Holocaustüberlebenden aus Polen, er ist Jude, war lange staatenlos, wuchs teilweise in Deutschland auf – „dem Land der Mörder“. Mit 18 Jahren eingebürgert, erhielt er endlich „den Schlüssel zum Wir“. Oder?
Ein Abend über die Fremde und das Fremdsein sei die von Max Lindemann inszenierte Lesung, heißt es zu Beginn: All jenen gewidmet, „die irgendwo im Nirgendwo leben“. Gemeint sind damit erst mal alle, die von der Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben nicht (vollends) anerkannt werden, egal wie assimiliert, integriert, emanzipiert sie sind: „Ich gebe mich auf und bleibe trotzdem Fremder“, liest Kekilli.
Angst vor Ausgrenzung, vor dem Hass
Auf eine Leinwand im Hintergrund wird ihr Gesicht projiziert, das schafft Abstand und Nähe zugleich. Dann viermal Kekilli, wie sie suchend umherblickt: „Kein Ich ist nur ein Ich“, und doch ist da die „Sehnsucht, mit meinem Ich übereinzustimmen“.
Friedmans Text ist nicht nur sehr persönlich, er stellt auch philosophische Fragen zu Zugehörigkeit, Identität und Schuld. Und politisch ist er, das zeigen die Aufnahmen auf der Bühnenwand, die sich mit Kekillis Antlitz abwechseln: fast nostalgische Bilder der BRD in ihrer wirtschaftlichen Hochphase. Dann ein Cut und Bilder von Steine schmeißenden Menschen draußen, verängstigten Menschen drinnen, deren Unterkunft später zu brennen beginnt.
Angst bestimmt Friedmans Aufwachsen in Deutschland; Angst vor Ausgrenzung, vor dem Hass, der ihm immer wieder begegnet, aber auch eine Angst, die seine Eltern ein Leben lang begleitet und die ihn an sie bindet. „Sie können dir alles nehmen, nur nicht das, was du im Kopf hast“, sagt der Vater. Also lernt Friedman, bildet sich, will die Eltern unbedingt glücklich machen – „Kindheitsberuf: Lebensübersetzer“ – und versucht immer wieder, „den Begrenzten und Begrenzenden nicht das letzte Wort zu geben“.
Kekilli nimmt sich zurück, nicht nur beim finalen Applaus, der lange andauert. Und doch merkt man ihrem Auftritt an, dass sich hier zwei verwandte Seelen gefunden haben, die einen großen Schmerz teilen.
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