Merkel und das geflüchtete Mädchen: Deutschland streichelt mit
Viele empören sich über Merkels Umgang mit der Schülerin aus Palästina. Wenn Politik auf Realität trifft, implodiert das System.
Kanzlerin Angela Merkel wollte das „wirkliche Leben“ sehen. Jetzt hat sie es gesehen. Und es schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.
“Gut leben in Deutschland“ – so heißt die Kampagne, die Angela Merkel und Sigmar Gabriel im April vorgestellt haben. Was stellen sich die Bürger unter Lebensqualität vor? Was ist ihnen wichtig? Das wollen sie herausfinden, die Wünsche der Bürger in echte Politik umsetzen.
Eine schöne PR-Strategie, eine nette Sache für den Sommer. Wäre da nicht dieses „wirkliche Leben“.
Merkel war aufgeschmissen.
Reem, eine Schülerin der Rostocker Scheel-Schule, die mit ihrer Familie aus Palästina in den Libanon geflohen ist und von dort nach Deutschland, erzählte Merkel ihre Geschichte. Sie und 32 andere Schülerinnen und Schüler durften mit der Bundeskanzlerin diskutieren – beworben hatten sie sich selbst.
Merkel schwafelt
Reem lebt seit vier Jahren in Rostock, sie will studieren, ihre Zukunft planen „so wie jeder andere auch“. Aber sie und ihre Familie können jeden Moment in den Libanon abgeschoben werden. Also nichts mit Zukunft.
Auf dieses wirkliche Leben reagiert Merkel mit Ausflüchten. „Du bist ein unheimlich sympathischer Mensch“, sagt sie zu Reem, aber: „Das ist manchmal auch hart – Politik.“
Nicht alle könnten kommen, das schaffe Deutschland einfach nicht, und da im Libanon und in Afrika säßen ja noch Tausende. Das ist hart, aber fast hat die Kanzlerin schon die Situation überstanden. Das Mädchen nickt.
Doch dann stürzt die PR-Kampagne in sich zusammen, implodiert vor laufenden Kameras. Was dem YouTuber Lefloid in seinem Interview mit der Bundeskanzlerin nicht geglückt ist, schafft Reem: Merkel konfrontieren. Die, die gerade noch so klar und ehrlich erzählt hat, fängt an zu weinen. Argumente helfen nicht, sie ist nur eine von vielen, ihre Wünsche zählen nicht. Reem entlarvt das kranke System.
Merkel streichelt
Denn das, was sich Merkel von ihrer Kampagne erhoffte, die Konfrontation von Politik und Realität, muss zum totalen Clash führen. Die Union will weniger Flüchtlinge, eine schnellere Abschiebung. Asylsuchende haben kaum eine Chance, legal nach Deutschland zu kommen. Und dann sitzt da diese Schülerin und die „Masse“ bekommt ein Gesicht. Es wird echt. Und damit kann Merkel nicht umgehen.
Sie zögert kurz, geht auf Reem zu. „Du hast das doch prima gemacht“, sagt sie und will die Schülerin trösten.
Hat Merkel überhaupt etwas verstanden? Was hat Reem prima gemacht? Der Moderator erkennt die Situation: „Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums Prima-Machen geht.“ Es gehe um die belastende Situation. „Das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist und deswegen möchte ich sie trotzdem einmal streicheln“, sagt Merkel – und streichelt.
Deutschland streichelt mit
An dieser Stelle könnte man einen Punkt machen, Merkel vorwerfen, unmenschlich zu reagieren. Doch was hier passiert ist auch auf anderer Ebene fragwürdig.
Denn seit Mittwoch streichelt Deutschland mit. Das Video von der Veranstaltung verbreitet sich viral, das Netz empört sich über Merkel.
Doch was wäre passiert, wenn es nicht um das Schicksal eines jungen, gut integrierten Mädchens gegangen wäre? Was, wenn Reem nicht geweint hätte? Diese verzweifelte, hilflose und doch einzige Reaktion appelliert an unsere Empathie. An unsere Instinkte. Man möchte Reem helfen. Und den anderen?
An einer Stelle hatte Merkel recht: Reem ist nicht allein. Tausende Menschen teilen ihre Situation. Sie alle wissen nicht, ob sie bleiben dürfen, wann sie gehen müssen. Und Deutschland streichelt.
Das ist das wirkliche Leben.
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