Merkel und Europas Griechenlandpolitik: Einheit? Welches Europa meint sie?
Merkel beschwört Europas Einheitlichkeit. Aber die Griechen darben trotz massiver Einsparungen weiter. Dank Schäuble.
Berlin taz | Kanzlerin Angela Merkel beschwört die Einheit Europas, um sich von den USA unter Präsident Trump zu emanzipieren. Doch welches Europa meint die Kanzlerin? Sie scheint die europäische Einheit nur politisch zu verstehen, nicht aber sozial und ökonomisch.
Dies zeigt das Beispiel Griechenland. Die jüngsten Beschlüsse der Eurogruppe bedeuten, dass Griechenland weiter verarmt, weil es zu einem drakonischen Sparkurs gezwungen wird. In der vergangenen Woche hat sich die Eurogruppe darauf geeinigt, dass Griechenland bis 2022 einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent erwirtschaften muss. Damit ist das Plus im Staatshaushalt gemeint, wenn man Zinszahlungen und Schuldentilgungen nicht berücksichtigt.
Zum Vergleich: Selbst Deutschland erreicht momentan nur einen Primärsaldo von etwa 2 Prozent, obwohl die Wirtschaft boomt und fast Vollbeschäftigung herrscht.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) moniert daher seit Jahren, dass die griechische Schuldenlast nicht tragfähig ist – und fordert Erleichterungen. Doch Finanzminister Wolfgang Schäuble blockt. Über eventuelle Schuldenerleichterungen will er erst ab 2018 verhandeln, wenn das jetzige Rettungspaket für Griechenland ausläuft.
Der IWF fordert seit Jahren Erleichterungen bei der griechischen Schuldenlast
In diese laufende Debatte hat sich jetzt der griechische Notenbankchef Yannis Stournaras eingeschaltet. In einem Gastbeitrag für die griechische Zeitung Kathimerini erklärt er höflich, warum Schäubles Zeitplan nicht funktioniert: „Die Finanzmärkte wollen schon jetzt wissen, ob die Schulden tragfähig sein werden oder nicht.“ Sonst könnte sich Griechenland 2018 kein frisches Geld leihen – und das Land bräuchte erneut Hilfe. „Niemand, weder die Partnerländer noch Griechenland, hat Lust auf ein weiteres Rettungspaket.“
Stournaras unterbreitet auch einen ganz konkreten Vorschlag: Ab 2020 sollte der griechische Primärüberschuss auf 2 Prozent sinken. Zudem sollte das Land für seine Schulden beim europäischen Rettungsschirm EFSF für weitere 8,5 Jahre keine Zinsen zahlen müssen. Bisher läuft dieses Moratorium nur bis 2022. Insgesamt haben die Griechen beim EFSF Schulden von knapp 131 Milliarden Euro.
In den vergangenen Jahren haben die Griechen die Gehälter zusammengestrichen und ihre Lohnstückkosten um 25 Prozent gesenkt. Sie sind also wieder wettbewerbsfähig. Doch die Investitionen bleiben trotzdem aus. Denn, wie Stournaras herausstreicht, „die Anleger wollen Sicherheit“, wie es in Zukunft weitergeht.
Leser*innenkommentare
Illoinen
Liebe Deutschen, vielleicht einmal nach Portugal schauen und etwas lernen? Austerität hat Portugal jedenfalls nicht auf Wirtschaftswachstum geführt, sondern indem man die Binnennachfrage stärkt. Und wie macht man das liebes Deutschland? In dem man Löhne erhöht, damit sich die Menschen die Produkte auch kaufen können.
Es wundert einen nicht, wenn man die Binnennachfrage stärkt, das es auch die Wirtschaft stärkt. Damit die die Kürzungspolitik von Schäuble und der Troika widerlegt.
Noch einmal zur Erinnerung liebe geballte Intelligenz Deutschlands. Austerität hat noch nie in der Geschichte funktioniert, auch nicht unter Brüning und wer danach kam wissen wohl doch noch einige oder?
Hätte man Deutschland nach dem 2 WK auch Austertät verordnet, statt Marshall Plan, Schuldenschnitt, und langfristiges Schuldenmemorandum, wäre Deutschland noch heute am Tropf der internationalen Staatengemeinschaft. Vielleicht braucht das Deutschland wieder, denn es hat vergessen, woher es kam, und wem sie zumindestens den wirtschaftlichen Aufstieg zu verdanken haben. Ideolgisch jedenfalls sind immer noch viele in Deutschland in der unerträglichen Arroganz verhaftet: "Am deutschen Wesen, wenn nicht die Welt, soll zu mindestens aber Europa genesen" Das wird hoffentlich Deutschland noch einmal böse auf die Füße fallen. Mir tun nur die vielen Arbeitslosen, prekär Beschäftigten Leid, welche die Folgen ausbaden müssen, so wie heute in Griechenland oder Syrien usw.
83379 (Profil gelöscht)
Gast
Es gibt in Portugal einen funktionierenden Staat und eine industrielle Produktion (die inzwischen stark export orientiert ist) beides existiert in Griechenland so nicht.
Das heißt nicht das Schäubles Politik richtig ist, aber es ist immer noch ein Apfel und Birnen vergleich, auch wenn die meistne Deutschen meinen der Südeneuropas sei ein einziger korrupter und fauler Sumpf. Muss man die Unterschiede sehen. Ohne den Exportsektor wäre die Binnenachfrage durch Konsumausgaben des Staates übrigens auch nur ein Strohfeuer geblieben.
warum_denkt_keiner_nach?
@Illoinen Bitte werfen Sie nicht alle Deutschen in einen Topf. Viele sind Ihrer Meinung.
Illoinen
Völlig konsterniert lässt mich so ein Artikel der von mir geschätzten, eher linken Ulrike Hermann zurück. „Selbst Deutschland erreicht momentan nur einen Primärsaldo von etwa 2 Prozent, obwohl die Wirtschaft boomt und fast Vollbeschäftigung herrscht.“ – 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum, das durch massive Verschuldung des Auslands erkauft wird, ist kein Boom, sondern bestenfalls ein halbwegs solides Wirtschaftswachstum; „fast Vollbeschäftigung“ bei real über 4 Millionen Arbeitslosen bzw. einer Arbeitslosenquote von ca. 10 Prozent – Massenarbeitslosigkeit – verhöhnt die Arbeitslosen. Der kontrafaktische Satz mit der boomenden Wirtschaft und „fast Vollbeschäftigung“ könnte auch in WELT, SPIEGEL, FAZ stehen. Und der genannte deutsche Primärsaldo ist angesichts der verfallenden Infrastruktur und kaputter Schulen kein Ruhmesblatt. Auch die Beurteilung der Situation in Griechenland ist eigentümlich: „In den vergangenen Jahren haben die Griechen die Gehälter zusammengestrichen und ihre Lohnstückkosten um 25 Prozent gesenkt. Sie sind also wieder wettbewerbsfähig. Doch die Investitionen bleiben trotzdem aus.“ – Das mag damit zusammenhängen, dass der Grexit immer noch wie ein Damoklesschwert über Griechenland hängt… und damit, dass Lohnstückkostensenkung eine fixe Idee der Deutschen sind, die die griechische Wirtschaft immer weiter zerstören. „die Griechen darben trotz massiver Einsparungen weiter“ – häh? Darben die Griechen nicht eher *wegen* der Austeritätspolitik? Und was ist an dem Vorschlag von Stournaras, den Primärsaldo auf 2 Prozent pro Jahr zu senken (ebenfalls nahezu unmöglich), so revolutionär? Ist das „alternative“ Wirtschaftspolitik? Ich verstehe die taz einfach nicht. Quelle Nachdenkseiten
urbuerger
Merkel und Schäuble projizieren die Anwendung der Hartz IV Gesetze 1 zu 1 auf Griechenland.
Hat doch bei den Arbeitslosen in Deutschland geklappt, diese an den unteren Rand der Gesellschaft zu bringen und sich an deren angesparten Besitztümern zu bereichern.
Diese Hartz IV Misere ist zwar nicht auf dem Mist der CDU/CSU gewachsen, die haben aber auch keine Änderungen zu Gunsten der Gebeutelten auf den Weg gebracht. Im Gegenteil, der Umgang mit Hartz IV Empfängern hat sich noch stark verschlechtert, die Mitarbeiter der Jobcenter, oder wie immer diese Armenverwaltung sich heute nennt, werden immer herablassender auf Antragsteller (Bittsteller hört man auch öfter)!
Ergo, es muss auch mit den Griechen funktionieren, denn die Flughäfen sind ja bereits unter deutscher Kontrolle. Bekommen die Regierungskonsorten auch noch die Touristikbranche unter Kontrolle? Dann haben wir einen deutschen Zugang zum Mittelmeer mit vielen kleinen Inseln, die sich die Wirtschaftsbosse dann einfach unter den Nagel reißen können.
Wäre Schäuble ein wirklich treuer Europapolitiker, würde er, gerade mit den hohen Außenhandelsüberschüssen, mehr auf Investitionen setzen und nicht so offensichtlich gegen den Rest der EU Mitglieder arbeiten.
Viele Menschen sitzen abends oft vorm TV mit ? In den Augen, wenn sie von Merkel, Schäuble und Konsorten hören müssen, wie Gut es den Deutschen doch geht. Diese Menschen fangen dann an Bilder in ihren Köpfen Revue passieren zu lassen;
Baufällige Schulen, schlechte Straßen, kaputte Brücken und Menschen mit 2 oder 3 Jobs, die noch durch Hartz IV aufstocken müssen.
Diese Politiker sollten sich vielleicht einmal am unteren Rand der europäischen Union bewegen, so außerhalb von Taormina!
Wer nur im kleinen Kreis mit seines Gleichen verkehrt, verliert die Sicht aufs Ganze!!!
warum_denkt_keiner_nach?
"Sie scheint die europäische Einheit nur politisch zu verstehen, nicht aber sozial und ökonomisch."
Genau deshalb taugt die nicht zur "Anführerin". Die größte Gefahr für Europa ist die soziale Spaltung, weil sie zu politischer Instabilität führt. Aber das versteht die Mutti nicht...
Nikolai Nikitin
In Art. 125 AUE der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist die 'No-Bail-Out'-Klausel vertraglich festgelegt. Insofern gibt es rechtlich gesehen keine Alternative dazu, dass Griechenland seine Schulden letztendlich selbst tragen muss.
25726 (Profil gelöscht)
Gast
"Insofern gibt es rechtlich gesehen keine Alternative dazu, dass Griechenland seine Schulden letztendlich selbst tragen muss."
Falsch.
Lissabonner Vertrag 2009 (Art. 125 AEU-Vertrag), Abs.2: Der Rat kann erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124 sowie in diesem Artikel vorgesehenen Verbote näher bestimmen.
Nikolai Nikitin
@25726 (Profil gelöscht) Falsch. Die Klausel ergänzt die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschriebenen Verschuldungsgrenzen, die eine unsolide Haushaltsführung verhindern sollen. Insofern kann Griechenland aufgrund seiner jahrelang praktizierten undisziplinierten Haushaltsführung nicht darauf hoffen, von anderen Staaten freigekauft zu werden. Dafür unter den Bürgern Europas keine Mehrheit zu gewinnen.
25726 (Profil gelöscht)
Gast
@25726 (Profil gelöscht) Sry, Quelle fehlt. Nachzulesen hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbeistands-Klausel
39167 (Profil gelöscht)
Gast
Danke, Frau Herrmann, für diesen Artikel!
Dieser Satz:
"Doch welches Europa meint die Kanzlerin? Sie scheint die europäische Einheit nur politisch zu verstehen, nicht aber sozial und ökonomisch."
zeigt das ganze Dilemma der EU und die damit verbundenen dramatischen Auswirkungen.
Martin Schröder
In Deutschland gibt es "fast Vollbeschäftigung"? Nein! 2569000 Arbeitslose sind keine Vollbeschäftigung sondern ca. 2000000 Arbeitslose zuviel.
rero
@Martin Schröder Vollbeschäftigung wird eine Arbeitslosenquote von höchstens 2 % genannt. Mit 5,8 % ist Deutschland da ziemlich dicht dran. 5,8 % ist eine Quote, von der die meisten Länder der Welt und auch in Europa nur träumen. Deshalb hat die Autorin da schon recht.